Zivilprozessrecht
Unentgeltliche Rechtspflege zu Unrecht abgelehnt
Wird der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege gutgeheissen, sind damit die anwaltlichen Leistungen im Hinblick auf dieses Gesuch und den entsprechenenden Verfahrensschritt gedeckt. Es handelt sich nicht um eine rückwirkende Gewährung des Armenrechts.
Sachverhalt:
Ein Ehepaar streitet mit der Kesb über die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen. Beiden Elternteilen wird vom Bezirksrat Winterthur die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt, allerdings erst ab Einreichung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer verlangt, die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sei ihm bereits für die Vorbereitung seines Rechtsmittels zu gewähren.
Aus den Erwägungen:
4. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist der Beginn der Wirkung der unentgeltlichen Rechtspflege im bezirksrätlichen Beschwerdeverfahren. Der Bezirksrat hatte diese beiden Parteien erst ab Datum der Einreichung des Gesuchs (die zugleich mit der Erhebung der jeweiligen Beschwerde erfolgte) gewährt. Der Beschwerdeführer möchte die unentgeltliche Rechtspflege auf die Vorbereitung seines Rechtsmittels an den Bezirksrat ausdehnen.
5. Die Vorinstanz erwog, die Wirkungen der unentgeltlichen Rechtspflege träten grundsätzlich ab Gesuchseinreichung ein. Die Voraussetzung einer (ausnahmsweise zulässigen) rückwirkenden Gewährung seien nicht erfüllt. Der entsprechende Antrag des Beschwerdeführers sei einerseits verspätet und andererseits nicht hinreichend substanziiert.
6. Die Bemühungen des Anwalts für die gleichzeitig mit dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege eingereichte Rechtsschrift fallen bereits unter die unentgeltliche Verbeiständung (BGE 122 I 322 E. 3.b; BGE 120 Ia 14 E. 3.f; vgl. auch Emmel in Sutter-Sommer / Hasenböhler / Leuenberger, ZPO Komm, 3. Aufl., Art. 119 N 3). Der verfassungsmässige Anspruch der bedürftigen Partei auf unentgeltliche Rechtsprechung erstreckt sich nur – aber immerhin – auf bereits entstandene Kosten, soweit sie sich aus anwaltschaftlichen Leistungen ergeben, die im Hinblick auf den Verfahrensschritt erbracht worden sind, bei dessen Anlass das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt wird (vgl. den von der Vorinstanz zitierten BGE 122 I 203 E. 3.f). Mit der Einführung der Schweizerischen Zivilprozessordnung änderte sich nichts an dieser Rechtslage (BK ZPO-Bühler, Art. 119 N 129 i.V.m. N 128b).
7. Wenn der Beschwerdeführer eine Ausdehnung der unentgeltlichen Rechtspflege auf die Vorbereitung seines Rechtsmittels erreichen will, stellt das nach dem Gesagten keine Rückwirkung i.S. von Art. 119 Abs. 4 ZPO dar, die von ihm besonders zu begründen wäre. Seine Beschwerde ist daher gutzuheissen, und die unentgeltliche Rechtspflege für das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren ist ihm ab dem 17. Januar 2018 zu bewilligen, wie vom Beschwerdeführer beantragt.
Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich PQ180019 vom 19.4.2018
Anwaltsrecht
Rechtanwälte müssen erreichbar sein
Es zählt zu den beruflichen Pflichten einer Anwältin oder eines Anwalts, Einschreibe-Sendungen entgegenzunehmen oder dafür besorgt zu sein, dass sie während einer Abwesenheit zugestellt werden können. Der Anwalt muss telefonisch erreichbar zu sein und sich zu diesem Zweck in ein öffentliches Telefonverzeichnis eintragen lassen.
Sachverhalt:
Ein Luzerner Anwalt hat eingeschriebene Post nicht entgegengenommen, ist trotz mehrfacher Aufforderung nicht im Telefonverzeichnis auffindbar und äussert sich respektlos gegenüber Behörden und Klienten. Deshalb eröffnete die Luzerner Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte gegen ihn ein Disziplinarverfahren.
Aus den Erwägungen:
5. Nach Art. 12 lit. a des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA; SR 935.61) haben Anwältinnen und Anwälte ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben. Denn das Anwaltsmandat ist ein Auftrag. Nach Art. 398 Abs. 2 des Obligationenrechts (OR; SR 220) haftet der Beauftragte für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts. Art. 12 lit. a BGFA will im Ergebnis nichts anderes, als im Interesse des rechtsuchenden Publikums und des Rechtsstaats die getreue und sorgfältige Ausführung von Anwaltsmandaten sicherstellen.
Er erhebt damit die vertragliche und somit private Pflicht zur öffentlich-rechtlichen Berufspflicht, die damit auch disziplinarrechtlich geahndet werden kann. Allerdings stellt Art. 12 lit. a BGFA nicht eine Generalklausel dar, mit welcher alle zivilrechtlichen Vertragsverletzungen geahndet werden können. Solche sind grundsätzlich auf dem Weg der Zivilgerichtsbarkeit geltend zu machen (Fellmann, in: Fellmann /Zindel [Hrsg.], Komm. zum Anwaltsgesetz, 2. Aufl. 2011; Art. 12 BGFA N 9).
Disziplinarrechtlich werden solche Vertragsverletzungen erst geahndet, wenn sie objektiv eine solche Schwere erreichen, dass neben den bestehenden Rechtsbehelfen des Auftragsrechts noch eine zusätzliche Sanktion im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig erscheint. Diese Voraussetzung ist erst bei einer qualifizierten Norm- bzw. Sorgfaltswidrigkeit gegeben. Disziplinarisch zu ahnden ist deshalb nur grobes, schuldhaftes (d.h. vorsätzliches oder fahrlässiges) Fehlverhalten (BGer-Urteil 2C_379/2009 vom 7.12.2009 E. 3.2; LGVE 2012 I Nr. 50; Fellmann, a.a.O., Art. 12 BGFA N 15, Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, Zürich 2009, Rz. 1472 f.; Poledna, in: Komm. zum Anwaltsgesetz [Hrsg. Fellmann / Zindel], 2. Aufl. 2011, Art.17 BGFA N 18; Pfister, Aus der Praxis der Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte des Kantons Zürich zu Art. 12 BGFA, in: SJZ 2009, S. 290 Ziff. 3).
Die anwaltliche Sorgfalts- und Treuepflicht gebieten dem Anwalt, die Interessen des Auftraggebers nach besten Kräften zu wahren und alles zu unterlassen, was diese Interessen schädigen könnte. Disziplinarrechtlich relevant sind aber nur grobe Verstösse gegen die mandatsrechtliche Treuepflicht. Unter dem Blickwinkel des öffentlich-rechtlichen Berufsrechts stellt daher eine unrichtige Beratung, prozessual falsches Vorgehen oder gar ein bloss taktisch oder psychologisch unkluges Vorgehen regelmässig noch keine Verletzung der Treuepflicht dar.
Solche Fehler vermögen allenfalls eine zivilrechtliche Haftung des Anwalts zu begründen, wenn dem Klienten daraus Schaden entsteht. Disziplinarisch relevant sind sie nur, wenn der Anwalt den Auftraggeber nicht nach bestem Wissen berät oder gar vorsätzlich den Interessen des Klienten zuwiderhandelt. Das Berufsrecht soll nämlich lediglich sicherstellen, dass der Anwalt seine Aufgaben nicht wissentlich unrichtig oder grobfahrlässig fehlerhaft erfüllt. Die Aufsichtsbehörde hat nur einzuschreiten, wenn erschwerende Umstände vorliegen, die auf eine unverantwortliche Berufsausübung schliessen lassen. Es muss um Verfehlungen gehen, welche die Interessen des rechtsuchenden Publikums oder generell den geordneten Gang der Rechtspflege tangieren. Disziplinarmassnahmen sind daher nur am Platz, wenn das zur Diskussion stehende Fehlverhalten das Vertrauen in die Person des Anwalts oder in die Anwaltschaft gefährden würde (Fellmann, a.a.O., Art. 12 BGFA N 25 f. mit zahlreichen Verweisen).
7.1 Zu einer sorgfältigen Mandatsführung gehört des Weiteren, dass ein Rechtsanwalt eingeschriebene Sendungen entgegennimmt respektive dafür besorgt ist, dass ihm diese auch bei Abwesenheit zugestellt werden können.
7.2 Der Beanzeigte bestreitet, dass ihm der Postzustellbeamte für die von der Aufsichtsbehörde am 28. März 2017 zugestellte Einschreibe-Sendung eine Abholungseinladung in den Briefkasten gelegt hat, und beruft sich auf die Unzuverlässigkeit der Post, die auch in der Vergangenheit schon dazu geführt habe, dass ihm eingeschriebene Sendungen nicht zugestellt worden seien. Ob dies so zutrifft, kann nicht beurteilt werden. Denn obwohl ihm dies schon mehrmals passiert sei, legt er keine Reklamationsschreiben an die Post auf.
Da es zu seiner beruflichen Sorgfaltspflicht gehört, dass ihm die Post zugestellt werden kann, hat er mangels Nachweises eines Drittverschuldens auch die Verantwortung dafür zu tragen, wenn ihm eingeschriebene Sendungen nicht zugestellt werden, weil ihm aufgrund des nicht besetzten Büros Abholungseinladungen ausgestellt werden müssen. Dass er andere Postzustellungsarten wie z.B. Postfach oder Beizug einer Hilfsperson organisiert hat, trägt er nicht vor.
Auch die Erteilung eines Lagerauftrags bei der Post spricht gegen eine sorgfältige Mandatsführung. Die eingeschriebene Sendung der Aufsichtsbehörde vom 20. Juni 2017 (Mitteilung der Eröffnung eines Disziplinarverfahrens) konnte dem Disziplinarbeklagten von der Post infolge eines Lagerauftrags nicht innert der Frist von sieben Tagen zugestellt werden, weshalb die Post die Aufsichtsbehörde darüber informierte.
Die Pflicht zur Abholung von eingeschriebenen Sendungen ist im anwaltlichen Berufsleben deshalb so wichtig, weil Fristen für prozessuale Handlungen nur auf diesem Wege mitgeteilt werden. Wenn demnach der Rechtsanwalt solche Sendungen nicht entgegennimmt, verpasst er möglicherweise gesetzliche oder richterliche Fristen für Eingaben. Ein solches Verhalten stellt insofern eine grobe Verletzung der auftragsrechtlichen Pflichten dar, weil damit in Kauf genommen wird, dass Fristen nicht eingehalten werden. Zudem verursacht ein solches Verhalten den Behörden und Gerichten einen Zusatzaufwand, führt zu unerwünschten Verfahrensverzögerungen und stört insofern den Gang der Rechtspflege.
Zusammenfassend hat der Disziplinarbeklagte seine anwaltliche Pflicht zur Entgegennahme von eingeschriebenen Sendungen in mindestens zwei Fällen verletzt. Da diese Pflicht im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege liegt, rechtfertigt sich eine Disziplinierung.
8.1 Zu einer sorgfältigen Anwaltstätigkeit gehört auch, dass der Anwalt in seinem Geschäft erreichbar ist. Dies ist nicht nur eine Pflicht gegenüber seiner Klientschaft aufgrund von vertraglich vereinbarten Mandaten. Diese jederzeitige Erreichbarkeit ist auch Ausfluss der Stellung des Anwalts als Diener einer funktionsfähigen Rechtspflege (Fellmann, a.a.O., Art. 12 BGFA N 2). So hat der Anwalt sicherzustellen, dass seine Räumlichkeiten gekennzeichnet sind, sodass Klienten, Behörden oder Dritte, welche ihn erreichen wollen, sein Geschäftsbüro finden. Auch hat er seinen Telefonanschluss in einem Telefonbuch einzutragen, sodass er auch für Aussenstehende erreichbar ist (Fellmann a.a.O., Art. 12 BGFA N 18).
Des Weiteren gehört zu dieser Erreichbarkeit auch die Pflicht, bei Abwesenheit für eine Stellvertretung besorgt zu sein, die ebenfalls dem Berufsgeheimnis untersteht.
8.2 Der Disziplinarbeklagte hat in seiner Stellungnahme vom 8. August 2017 versprochen, er werde sich um einen Telefonbucheintrag kümmern. Allerdings sieht er diese anwaltliche Pflicht nicht so eng, weist er doch darauf hin, dass Kontakte heute fast ausschliesslich über E-Mail/Natel gehen würden.
Mit seiner Sicht verkennt er, dass er nicht nur von Klienten kontaktiert werden muss, sondern auch von Behörden und Gerichten, da er als Rechtsanwalt ein Diener des Rechtsstaats ist. Wie diese zu seiner E-Mail-Adresse oder zu seiner Natelnummer kommen sollen, ohne dass diese Angaben in einem öffentlichen Telefonbuch, wie z.B. dem Twix-Tel, zu finden sind, begründet er nicht weiter.
Nachdem die Telefonnummer des Disziplinarbeklagten trotz seines Versprechens vom 8. August 2017 bis heute in keinem öffentlichen Telefonbuch zu finden ist, hat er seine anwaltliche Sorgfaltspflicht verletzt und ist dafür zu disziplinieren. Damit er zukünftig für Behörden auch telefonisch erreichbar ist, wird er verpflichtet, sich innert zehn Tagen seit Rechtskraft dieses Entscheids in den üblichen Verzeichnissen (Swisscom Directories) eintragen zu lassen und der Aufsichtsbehörde eine Kopie dieses erfolgten Eintrags zuzustellen. Erhält die Aufsichtsbehörde innert zwanzig Tagen seit Rechtskraft dieses Entscheids keinen Eintragungsnachweis, eröffnet sie ein weiteres Disziplinarverfahren gegen den Disziplinarbeklagten wegen Nichtbefolgung von Weisungen der Aufsichtsbehörde.
11. Zusammenfassend hat der Disziplinarbeklagte gegen seine Pflicht zur sorgfältigen Berufsausübung nach Art. 12 lit. a BGFA sowie gegen seine Abrechnungspflicht nach Art. 12 lit. i BGFA verstossen.
12.1 Die in Art. 17 BGFA vorgesehenen Disziplinarmassnahmen reichen von einer blossen Verwarnung über einen Verweis, eine Busse bis zu 20000 Franken, ein befristetes Berufsausübungsverbot für längstens zwei Jahre bis zum dauernden Berufsausübungsverbot. Die Art der Disziplinarmassnahme richtet sich nach der Schwere der Verfehlung und dem Verschulden, wobei das bisherige Verhalten angemessen zu berücksichtigen ist (§ 11 des Gesetzes über das Anwaltspatent und die Parteivertretung [AnwG; SRL Nr. 280]). Mit diesen Kriterien wird dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung getragen, der hier zu beachten ist (Tomas Poledna, in: Kommentar zum Anwaltsgesetz, [Hrsg. Walter Fellmann / Gaudenz Zindel], 2. Aufl. 2011, Art. 17 BGFA N 23 ff., insbesondere N 27).
12.2 Der Disziplinarbeklagte hat gegen seine Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung verstossen, indem er eingeschriebene Postsendungen nicht entgegengenommen hat und Postlagerungsaufträge erteilte. Auch wenn möglicherweise die Post bei der Zustellung Fehler begangen hat, trägt der Disziplinarbeklagte die Verantwortung für die rechtmässige Zustellung. Auch trägt er nicht vor, welche Verbesserungen oder Änderungen er vorgenommen hat, dass zukünftig solche Fehler nicht mehr passieren. Sein Verschulden kann daher sicher nicht als leicht qualifiziert werden. Dasselbe gilt beim fehlenden Telefonbucheintrag.
Trotz Versprechen ist er bis heute nicht in einem öffentlichen Verzeichnis (Telefon.ch bzw. Tel.search.ch bzw. Search.ch) zu finden. Auch dass er trotz mehrmaliger Aufforderung über den Kostenvorschuss nicht abgerechnet hat, ist keine Bagatelle. Dass er, obwohl er versprochen hat, den Telefonbucheintrag zu machen, nichts vornahm, lässt vermuten, dass er auch nicht einsichtig ist. Zu seinen Gunsten ist andererseits zu berücksichtigen, dass im Register keine nicht gelöschten Disziplinarmassnahmen verzeichnet sind (Art. 20 BGFA). Unter Berücksichtigung dieser Kriterien erscheint die Auferlegung einer Busse von 500 Franken als angemessene Sanktion.
Entscheid AR 16 98 der Luzerner Aufsichtsbehörde über die Anwältinnen und Anwälte vom 13.11.2017.
Betreibungsrecht
Einigungsverhandlung: Schuldner darf teilnehmen
An Einigungsverhandlungen gemäss Art. 73e der Verordnung des Bundesgerichts über die Zwangsverwertung von Grundstücken dürfen Schuldner teilnehmen, auch wenn es nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Das ergibt sich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör.
Sachverhalt:
Der Schuldner ist Stockwerkeigentümer. Die auf dem Gesamtgrundstück lastenden Kredite sind gekündigt. Das Bezirksgericht als untere Aufsichtsbehörde führte eine Einigungsverhandlung durch und stellte mit Beschluss fest, es sei keine Einigung erfolgt. Der Stockwerkeigentümer beschwert sich, dass er an der Verhandlung nicht teilnehmen konnte.
Aus den Erwägungen:
3.2 Zu beantworten ist vorliegend die Frage der Teilnahme des Schuldners an der Einigungsverhandlung nach Art. 73e VZG. Ziel der Verhandlung ist gemäss Art. 73e Abs. 2 VZG, «mit den am Grundstück als solchem pfandberechtigten Gläubigern und den andern Miteigentümern» eine Aufteilung der auf dem Gesamtgrundstück liegenden Pfandlasten auf die Miteigentumsanteile herbeizuführen und eine allfällige Solidarschuld zu getrennten Schulden aufzuteilen. Gemäss Abs. 3 kann «durch Verhandlung mit den Beteiligten» versucht werden, die Aufhebung des Miteigentums zu erreichen. Schliesslich ist in Abs. 4 erwähnt, das Betreibungsamt trete an die Stelle des Schuldners, soweit seine Mitwirkung zur Herbeiführung der angestrebten Änderungen der rechtlichen Verhältnisse erforderlich sei. Hierzu wird in VZG-Komm.-Annen, N 8 zu Art. 73e, ausgeführt, gleichwohl erscheine es mehr als nur geboten, den Schuldner über den Gang des Verfahrens in Kenntnis zu setzen.
3.3 Der Schuldner wird in Art. 73e VZG nicht ausdrücklich als Teilnahmeberechtigter erwähnt. Anders lautet Art. 9 VVAG, welcher die Einigungsverhandlung bei Verwertung eines Anteilsrechts an einem Gemeinschaftsvermögen, mithin bei Gesamteigentum, regelt. Gemäss Art. 9 Abs. 1 VVAG versucht das Betreibungsamt «zwischen den pfändenden Gläubigern, dem Schuldner und den anderen Teilhabern der Gemeinschaft eine gütliche Einigung herbeizuführen […]». Der Schuldner wird hier bereits im Verordnungstext und entsprechend auch in der Literatur ohne weiteres beim Kreis der Teilnahmeberechtigten erwähnt (vgl. Raymond Bisang, Die Zwangsverwertung von Anteilen an Gesamthandschaften, Diss. Zürich 1978, S. 160; SK SchKG-Schlegel/Zopfi, Art. 132 N 6 f.). Ein Grund dafür, weshalb der Schuldner an den Einigungsverhandlungen gemäss VVAG teilnehmen kann, an denjenigen gemäss VZG jedoch nicht teilnahmeberechtigt sein soll, ist nicht ersichtlich.
Sowohl in Art. 73e VZG wie auch in Art. 9 VVAG geht es nämlich darum, eine bestehende Rechtslage im Hinblick auf die Schwierigkeiten in der Zwangsvollstreckung zu bereinigen und damit für die Verwertung eine möglichst günstige Ausgangslage zu schaffen. Dies indem versucht wird, die Beeinträchtigung der Mitbeteiligten zu verhindern und keine Verwertungen durchzuführen, für die es kaum Interessenten und daher auch keinen Markt gibt.
3.4 In Art. 15 Abs. 2 SchKG ist die Verordnungskompetenz geregelt (zur Zeit des Erlasses und der Revision der SchK-Verordnungen war das noch das Bundesgericht; BGE 102 III 118 ff.).
In Lehre und Rechtsprechung wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass mit den Verordnungen (des Bundesgerichts) nicht nur der blosse Vollzug geregelt worden sei, sondern dass auch Gesetzeslücken geschlossen worden seien (BSK SchKG I-Emmel, 2. Auflage 2010, Art. 15 N 2; SK SchKG-Weingart, Art. 15 N 8; KuKo SchKG-Levante, 2. Auflage 2014, Art. 15 N 8). Für die Frage der unterschiedlichen Behandlung von Schuldnern in einer zwangsvollstreckungsrechtlich vergleichbaren Situation ist daraus jedoch nichts zu gewinnen.
Die Verfügungsmacht des Schuldners wird in der Einzelzwangsvollstreckung gemäss Art. 96 SchKG beschränkt (für die Betreibung auf Pfändung vgl. Art. 15 Abs. 1 lit. a, Art. 23a lit a VZG; für die Betreibung auf Grundpfandverwertung vgl. Art. 90 und 97 VZG), was insbesondere dem Erhalt des Vollstreckungssubstrats zu Gunsten der Gläubiger dient. Der Schuldner kann jedoch z.B. im Widerspruchsverfahren (Art. 106 ff. SchKG) und im Anschlussverfahren (Art. 111 Abs. 4 und 5 SchKG) Partei sein, wo es ebenfalls um den Erhalt des Vollstreckungssubstrates geht.
Ferner fällt er beim Freihandverkauf unter den Kreis der Beteiligten, welche gemäss Art. 130 SchKG ihre Zustimmung für diese Verwertungsart erteilen müssen (vgl. BSK SchKG-Rutz/Roth, 2. Aufl. 2010, Art. 130 N 4). Auch dort geht es um die Erzielung eines möglichst günstigen Verwertungsergebnisses. Letztlich lässt sich auch aus dieser Sicht nicht begründen, warum er nicht an Verhandlungen über eine Lösung zugunsten eines besseren Verwertungserlöses beteiligt sein soll.
3.5 Anzufügen ist, dass es – soweit ersichtlich – keine publizierten Entscheidungen gibt, in denen die Frage der Teilnahme des Schuldners an Einigungsverhandlungen nach Art. 73e VZG zu entscheiden war. In Beschwerdeverfahren gegen Entscheide der unteren kantonalen Aufsichtsbehörden im Kanton Zürich hat es aber durchaus Fälle gegeben, aus denen sich die Teilnahme von Schuldnern an Einigungsverhandlungen gemäss VZG ergeben hat (vgl. OGer ZH PS140218 vom 17. September 2014 E. 4; OGer ZH PS170272 vom 16. Januar 2018 E. 2; OGer ZH PS180039 vom 26. März 2018), in denen aber aus anderen Gründen Beschwerde geführt worden war.
Hinzuweisen ist schliesslich noch auf BGE 134 I 12, wo über die Notwendigkeit eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Konkursverfahren zu entscheiden war, wobei im Vordergrund die Einigungsverhandlung des Konkursamtes im Hinblick auf die Verwertung von Miteigentumsanteilen an einer Wohnung stand. Auch auf diese ist Art. 73e VZG anwendbar (vgl. Art. 130e VZG).
Das Bundesgericht hat die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung für die Einigungsverhandlung verneint. Dieser Entscheid basierte nicht etwa darauf, dass der Konkursit als einer der beiden Miteigentümer nicht berechtigt gewesen wäre, an der Einigungsverhandlung teilzunehmen, sondern darauf, dass an einer solchen Verhandlung keine vollstreckungsrechtlichen Anordnungen getroffen und keine materiell-rechtlichen Fragen beurteilt würden (vgl. E. 2.5). Wird selbst in einem Konkursverfahren die Teilnahme des Konkursiten zugelassen, ist nicht einzusehen, warum dies beim Einzelzwangsvollstreckungs-Schuldner, dessen Befugnisse ganz generell erheblich weniger beschnitten sind als jene des Konkursiten, nicht der Fall sein sollte.
3.6 Nach dem Gesagten ist das Teilnahmerecht des Schuldners an der Einigungsverhandlung im Sinne von Art. 73e VZG zu bejahen. Indem die Vorinstanz die Verhandlung ohne Vorladung des Schuldners durchführte und in der Folge das Scheitern einer Einigung feststellte, wurde der Anspruch des Schuldners auf rechtliches Gehör verletzt. Das Recht, gehört zu werden, ist formeller Natur, weshalb die Verletzung dieses Rechts grundsätzlich ungeachtet der Erfolgsaussichten in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz führt (vgl. Tarkan Göksu, Dike, Komm-ZPO, Art. 53 N. 39). Demzufolge ist die Beschwerde gutzuheissen.
Urteil PS180037 des Obergerichts des Kantons Zürich vom 7.5.2018
Strafprozessrecht
Strafuntersuchung unzulässigerweise verweigert
Wer bei einer Polizeiaktion verletzt wird, hat Anspruch auf eine wirksame Untersuchung des Vorfalls. Für die Ermächtigung zur Strafverfolgung gegen Polizisten muss bereits die geringe Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit genügen.
Sachverhalt:
Zwei Beamte der Kantonspolizei St. Gallen führten eine Verkehrskontrolle durch. Im Rahmen dieser Kontrolle hielten sie einen Personenwagen an. Beifahrer und Lenker konnten sich nicht genügend ausweisen. Deshalb nahmen die Polizeibeamten sie zur Überprüfung auf den Posten mit. Bei der Festnahme wurde einer der beiden Kontrollierten verletzt. Er reichte beim Untersuchungsamt St. Gallen Strafanzeige wegen Körperverletzung und Amtsmissbrauchs ein. Er sei von den zwei Polizisten grundlos geschlagen worden und habe insbesondere im Gesicht Verletzungen erlitten. Das Untersuchungsamt St. Gallen übermittelte die Strafanzeige der Anklagekammer zwecks Durchführung eines Ermächtigungsverfahrens. Diese Anklagekammer entschied, keine Ermächtigung zu erteilen. Dagegen beschwerte sich der Anzeigeerstatter beim Bundesgericht und beantragte die Aufhebung des Entscheids.
Aus den Erwägungen:
2.2 Nach der Rechtsprechung ist für die Erteilung der Ermächtigung ein Mindestmass an Hinweisen auf strafrechtlich relevantes Verhalten zu verlangen (Urteil 1C_97/2015 vom 1. September 2015 E. 2.2; 1C_438/2014 vom 19. März 2015 E. 2.2 m.H.). Dabei muss eine Kompetenzüberschreitung oder eine gemessen an den Amtspflichten missbräuchliche Vorgehensweise oder ein sonstiges Verhalten, das strafrechtliche Konsequenzen zu zeitigen vermag, in minimaler Weise glaubhaft erscheinen und es müssen genügende Anhaltspunkte für eine strafbare Handlung vorliegen (vgl. Urteil 1C_633/2013 vom 23. April 2014 E. 2.3 m.H.).
Der Entscheid über die Erteilung der Ermächtigung zur Strafuntersuchung ist demjenigen über die Anhandnahme eines Strafverfahrens bzw. über die Einstellung eines eröffneten Strafverfahrens vorangestellt. Es ist daher zwangsläufig, dass die Ermächtigung bereits bei einer geringeren Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit erteilt werden muss, als sie für die Einstellung eines schon eröffneten Strafverfahrens erforderlich ist.
Während für die Anklageerhebung die Wahrscheinlichkeiten einer Verurteilung und eines Freispruchs zumindest vergleichbar zu sein haben, genügt bereits eine geringere Wahrscheinlichkeit für strafbares Verhalten, um die Ermächtigungserteilung auszulösen (vgl. zum Ganzen Urteil 1C_97/2015 vom 1. September 2015 E. 2; 1C_438/2014 vom 19. März 2015 E. 2.2 m.H.).
3.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, die Beschwerdegegner hätten ihn geschlagen. Dies sei eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Er verlangt eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung des Polizeieinsatzes vom 15. Februar 2017. Zudem rügt er eine Verletzung seines Rechts auf wirksamen Zugang zum Untersuchungsverfahren (Art. 13 EMRK).
3.4 Nach der Rechtsprechung hat eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung stattzufinden, wenn jemand in vertretbarer Weise («de manière défendable») behauptet, von der Polizei in einer Art. 3 EMRK verletzenden Weise misshandelt worden zu sein. Vertretbar erhoben wird eine Anschuldigung, wenn nicht von vornherein sicher ausgeschlossen werden kann, dass die Sache sich so zugetragen hat, wie die betroffene Person behauptet (BGE 131 I 455 E. 1.2.5 und 1.2.6 S. 462 ff.; m. H. auf die Rechtsprechung des EGMR). Die Untersuchung muss zur Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen führen können. Verhielte es sich anders, wäre das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung oder Behandlung – trotz seiner grundlegenden Bedeutung – in der Praxis wirkungslos. Art. 3 EMRK weist insoweit einen prozessualen Teilgehalt auf. Der Anspruch auf eine wirksame und vertiefte Untersuchung («enquête officielle approfondie et effective») bei vertretbarer Behauptung einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ergibt sich ebenso aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK (BGE 131 I 455 E. 1.2.5 S. 462 m.H.; vgl. zum Ganzen Urteil 1C_97/2015 vom 1. September 2015 E. 3.5). Diese Bestimmung verlangt überdies den wirksamen Zugang des Klägers zum Untersuchungsverfahren.
4.1 Die Darstellungen der beiden Seiten gehen hinsichtlich der Schwere der Verletzung zwar auseinander. Im Rahmen der polizeilichen Intervention hat sich der Beschwerdeführer aber unbestrittenermassen unterhalb des linken Auges Verletzungen zugezogen, die eine medizinische Betreuung erforderlich machten. Daher weist die Behandlung durch die Polizei das erforderliche Mindestmass an Schwere auf, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen.
4.2.1 Der Beschwerdeführer äussert die Vorwürfe gegen die Beschwerdegegner zum ersten Mal in seiner Strafanzeige vom 23. März 2017 und macht geltend, dass er beim Polizeieinsatz vom 15. Februar 2017 von den zwei Beschwerdegegnern grundlos geschlagen worden sei. Zuerst habe der ältere Beschwerdegegner ihm von hinten mit der Faust einen Schlag an den Hinterkopf verpasst, was eine Beule nach sich gezogen habe. Anschliessend habe der jüngere Beschwerdegegner ihn mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Als der Beschwerdeführer aufgrund dieser Hiebe in die Knie gegangen sei, sei ihm noch ein Teil des linken vorderen Zahns ausgeschlagen worden. Als er aufgestanden sei bzw. aufgehoben worden sei, sei ihm zudem noch ein weiterer Faustschlag von der Seite in die Rippen verpasst worden.
4.2.2 Demgegenüber beschreiben die Beschwerdegegner im Festnahmerapport der Kantonspolizei St. Gallen vom 15. Februar 2017, im Polizeirapport vom 24. Februar 2017 und in ihren Stellungnahmen vom 10. resp. 11. April 2017 den Vorfall im Wesentlichen dahingehend, dass der Beschwerdeführer sich renitent verhalten und der Durchsuchung widersetzt habe. Deshalb habe er auf den Boden geführt und arretiert werden müssen. Dabei habe er sich unterhalb des Auges verletzt. Der Beschwerdeführer sei nicht geschlagen worden und die polizeiliche Gewaltanwendung habe den Rahmen der Verhältnismässigkeit nie überschritten.
4.2.3 Die Vorinstanz hat erwogen, die Beschwerdegegner hätten nicht unverhältnismässig Gewalt angewendet; sie hat folglich auch das Bestehen eines hinreichend konkreten Anfangsverdachts verneint. Bei ihrem Entscheid lagen ihr hauptsächlich die oben erwähnten Akten und die polizeilichen Einvernahmen des Beschwerdeführers vom 15. und 16. Februar 2017 vor. Die Vorinstanz hat die Aussagen der Beschwerdegegner als glaubhaft eingestuft, während die Darstellung des Beschwerdeführers weder nachvollziehbar noch plausibel sei. So habe er die Vorwürfe zum ersten Mal über einen Monat nach dem Vorfall erhoben, obwohl er bereits am 17. Februar 2017 anwaltlich vertreten gewesen sei und insbesondere an der polizeilichen Einvernahme vom 16. Februar 2017 schon Gelegenheit gehabt habe, diese zu äussern. Das Verletzungsbild am Auge lasse sich auf die von den Beschwerdegegnern geschilderte, zwangsweise durchgeführte Durchsuchung bzw. Festnahme zurückführen. Die weiteren angeblichen Verletzungen durch Schläge auf den Hinterkopf und in die Rippen seien gänzlich unbelegt. Die Beweisanträge des Beschwerdeführers würden von vornherein keine relevanten Aufschlüsse liefern.
4.2.4 Der Beschwerdeführer wendet ein, er habe in der polizeilichen Einvernahme vom 15. Februar 2017 sogleich auf seine Verletzungen hingewiesen und um ärztliche Behandlung gebeten. Der drohenden Gefahr einer längeren Inhaftierung durch die Anordnung von Untersuchungshaft ausgesetzt, habe er jedoch nicht sogleich eine Anzeige gegen die Polizeibeamten erstatten wollen.
Im Zusammenhang mit dem Umstand, dass es trotz anwaltlicher Vertretung einen Monat gedauert habe, bis er Anzeige erstattet habe, sei darauf hinzuweisen, dass gemäss Art. 31 StGB für Antragsdelikte wie die vorliegend angezeigte Körperverletzung innert drei Monaten Strafantrag zu stellen sei. Er habe sich zuerst überlegen wollen, ob er überhaupt Anzeige einreiche, zumal die Erfolgsaussichten bei Anzeigen gegen Polizeibeamte bekanntlich gering seien.
4.2.5 Gemäss dem Einvernahmeprotokoll fragte der Polizist den Beschwerdeführer tatsächlich nicht, wie die Verletzungen entstanden sind. Zudem erscheint nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer die Vorwürfe nicht schon äusserte, als ihm noch die Anordnung von Untersuchungshaft drohte und er zuerst überlegen wollte, ob er Anzeige erstatte. Daher sind die Anschuldigungen auch nicht schon zum Voraus unvertretbar, weil der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer diese nicht bereits früher angebracht hat.
Die Verletzungen, die der Beschwerdeführer durch den Polizeieinsatz vom 15. Februar 2017 unterhalb seines linken Auges erlitt, sind unstrittig. Bezüglich der Frage, wie er sich die festgestellten Verletzungen im Einzelnen zugezogen hat, stehen sich die gegenteiligen Aussagen des Beschwerdeführers und der zwei bei der Anhaltung beteiligten Beschwerdegegner gegenüber. Auf den vom Beschwerdeführer eingereichten Fotos ist zu erkennen, dass die Lippen und die Nase unverletzt blieben. Die Verletzungen unter dem Auge liessen sich daher mit einem Faustschlag plausibel erklären. Bei einem Schneidezahn fehlt tatsächlich ein kleines Stück.
Angesichts des Verletzungsbildes kann demnach nicht von vornherein sicher ausgeschlossen werden, dass sich die Sache so zugetragen hat, wie der Beschwerdeführer behauptet. Hinsichtlich dieser Verletzungen erhebt er die Anschuldigung, die polizeiliche Behandlung ihm gegenüber verstosse gegen Art. 3 EMRK, somit in vertretbarer Weise. Unabhängig davon, dass die weiteren Schläge und Verletzungen nicht belegt sind, hat der Beschwerdeführer daher Anspruch darauf, dass dieser Vorwurf näher untersucht wird. Hierfür hätten insbesondere die Sanitäter der Ambulanz, die zufälligerweise am Ort des Vorfalls eintrafen, einvernommen werden müssen, ebenso die Personen, die den Beschwerdeführer später in der Klinik Stephanshorn behandelten. Diese und/oder eine kundige Fachperson hätten auch dazu befragt werden können, ob die Verletzungen des Beschwerdeführers mit der von den Beschwerdegegnern behaupteten «Zu-Boden-Führung» vereinbar sind. Weiter hätten die Unterlagen der Klinik über die Behandlung des Beschwerdeführers beigezogen werden müssen.
4.2.6 Da weitere Untersuchungshandlungen unterblieben sind, haben die kantonalen Behörden den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine wirksame und vertiefte Untersuchung nach Art. 3 und 13 EMRK verletzt. Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen.
Urteil 1C_427/2017 des Bundesgerichts vom 15.12.2017
Kommentar
Nach der Logik kantonaler Ermächtigungsverfahren soll sich der Staat vor mutwilligen privaten Anzeigen gegen Vollziehungsbeamte schützen. Vorliegend gerierte sich die Anklagekammer unzulässigerweise als vorgelagerte Sachurteilsinstanz. Sie stellte kurzerhand die Verhältnismässigkeit des Polizeihandelns fest, lehnte Beweisanträge ab und nahm in einer «Aussage-gegen-Aussage»-Situation eine Beweiswürdigung vor, was weit über ihre zugedachte «Filterfunktion» hinausgeht. Dies verstösst klarerweise gegen Bundesrecht – aber vor allem auch gegen prozessuale Garantien von Art. 3 EMRK: Wenn eine Person, die zuvor keine Gesundheitsschäden hatte, in eine polizeiliche Kontrollsituation gerät und danach Verletzungen aufweist, so verschiebt sich die Beweisführungslast auf die Behörden (EGMR [GK] vom 28.9.2015, Bouyid c. Belgique, § 83). Das schlichte – in der Praxis aber weit verbreitete – Abstellen auf den Polizeirapport reicht aber nicht als Exkulpationsbeweis. Gefordert werden unter anderem medizinische Abklärungen, Attests und Befragungen der behandelnden Ärzte. Kurzum: Es geht um den Zugang zur Justiz, was – wie vorliegend – durch Ermächtigungsverfahren vereitelt werden kann.
Pascal Ronc, MLaw, Zürich
Gleichstellungsgesetz
Unzulässige Rachekündigung am Berner Inselspital
Das Obergericht des Kantons Bern hebt die Kündigung einer Oberärztin durch das Berner Inselspital wegen Verletzung des Gleichstellungsgesetzes auf.
Sachverhalt:
Das Berner Inselspital kündigte einer Oberärztin mit der Begründung, es liege eine tiefgreifende Störung des Vertrauensverhältnisses vor. Die Ärztin macht eine Rachekündigung geltend und wehrt sich gegen die Entlassung.
Aus den Erwägungen:
10. Vorliegend beruft sich die Berufungsklägerin in ihrem Kündigungsschreiben vom 17. Juni 2014 auf ein nachhaltig gestörtes Vertrauensverhältnis. Die Kündigung wurde mit folgendem Wortlaut begründet: «Das Arbeitsverhältnis zwischen Ihnen und dem Inselspital ist aufgrund zahlreicher Vorfälle über längere Zeit hinweg sehr belastet worden. Dies hat zur Folge, dass das Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört worden ist. Unter diesen Umständen ist das Inselspital Bern als Arbeitgeberin zum Schluss gelangt, dass keine Aussicht auf eine weitere erfolgreiche Zusammenarbeit besteht.» Das Vertrauensverhältnis soll durch die in der Klageantwort genannten Vorfälle zerstört worden sein. Die Vorinstanz behandelte alle entsprechenden Vorwürfe und kam dabei zum Schluss, dass diese keinen begründeten Anlass für eine Kündigung darstellen.
11.3 Zum Vorwurf der Illoyalität führt die Vorinstanz aus: Die Berufungsklägerin mache geltend, dass am 25. Februar 2013 auf Betreiben der Berufungsbeklagten vor der Innerfakultären Gleichstellungskommission (IFGK) ein Gespräch stattgefunden habe, an welchem neben der Berufungsbeklagten die Präsidentin der IFGK, Prof. L., Dr. M. als Vertreterin des VSAO, Frau N. als Vertreterin des Inselspitals, Prof. E. als quasi gerügte Partei sowie PD Dr. O. als einer seiner Stellvertreter teilgenommen hätten.
Die Berufungsbeklagte habe sich mit Schreiben vom 4. März 2013 schriftlich im Sinne einer Übungskritik gegenüber Frau Prof. L. über ihren (negativen) Eindruck von diesem Gespräch geäussert. Prof. E. habe es unterlassen, dieses Gespräch schriftlich zu kommentieren. Er sei aber über die Aussagen der Berufungsbeklagten schockiert gewesen: Diese habe ihm wörtlich vorgeworfen, Frauen in den Abort zu treiben. Weiter habe sie ihm vorgeworfen, in seiner Klinik schwerste sexuelle Übergriffe zu dulden, welche regelhaft ausgeübt würden. Ferner habe sie bekannt gegeben, sie führe eine schwarze Liste über Vorkommnisse und Personen, welche sich missliebig verhielten.
11.3.2 Zu diesen Vorwürfen erwog die Vorinstanz, dass nach den übereinstimmenden Zeugenaussagen erstellt sei, dass die Berufungsbeklagte Herrn E. anlässlich des zweiten Gesprächs vor der Gleichstellungskommission am 25. Februar 2013 vorgeworfen habe, er treibe Frauen in den Abort. Daran vermöchten die Ausführungen der Berufungsbeklagten, wonach sie gesagt habe «wenn wir das Arbeitsgesetz nicht einhalten, treiben wir Frauen in den Abort», nichts zu ändern. Hingegen scheine das Thema «sexuelle Übergriffe» in der Klageantwort stark übertrieben dargestellt worden zu sein.
Gemäss den Zeuginnen L. und N. sei das Vertrauensverhältnis zwischen der Berufungsbeklagten und Herrn E. bereits zu diesem Zeitpunkt (25. Februar 2013) zerstört gewesen. Für Prof. E. sei der Vorfall hingegen gemäss seinen Aussagen nicht der Hauptgrund für den Vertrauensverlust gewesen. So sei eine Kündigung am gut zwei Wochen später stattfindenden folgenden MAG kein Thema gewesen (...) und es hätten am 15. März 2013 aus seiner Sicht keine schwerwiegenden Differenzen bestanden (...). Zu berücksichtigen sei im weitern, dass die zweite Sitzung vor der Gleichstellungskommission am 25. Februar 2013 stattgefunden habe, also rund 16 Monate vor der Kündigung am 17. Juni 2014. Ein Kausalzusammenhang der damaligen Ereignisse mit der Kündigung ist daher nach Auffassung der Vorinstanz nicht ersichtlich.
11.4.1 Dagegen wendet die Berufungsklägerin auf den S. 16 f. ihrer Berufungsschrift ein, die Vorwürfe, Prof. E. treibe Frauen in den Abort und dulde sexuelle Belästigungen, seien schwerwiegend und daher geeignet, ein Vertrauensverhältnis zu zerstören. Dass eine Kündigung aufgrund dieses Vorfalls am MAG vom 15. März 2013 kein Thema gewesen sei, sei (zwar) zutreffend. Deshalb sei zu diesem Zeitpunkt auch keine Kündigung ausgesprochen worden.
Es handle sich jedoch um einzelne Elemente, die ein weiteres Zusammenarbeiten im Ganzen für unmöglich machten. Erneut stelle die Vorinstanz den zeitlichen Aspekt fälschlicherweise in den Vordergrund, um aufgrund des Zeitablaufes den Kausalzusammenhang zur Kündigung verneinen zu können. Auch hier sei jedoch entscheidend, dass die Berufungsbeklagte ab dem 31. März 2013 zunächst krankgeschrieben gewesen sei, bevor sie dann ohne Unterbruch bis zum 12. März 2014 den Mutterschaftsurlaub angetreten habe.
11.4.2 Auch mit diesen Einwänden geht die Berufungsklägerin fehl: Hätten die Vorfälle im Zusammenhang mit den Vorwürfen des In-den-Abort-Treibens sowie der Duldung sexueller Belästigung das Vertrauensverhältnis wirklich nachhaltig zerstört, hätte dies am MAG vom 15. März 2013 zumindest thematisiert werden müssen. Für Prof. E. sei der Vorfall gemäss seinen Aussagen sodann nicht der Hauptgrund für den Vertrauensverlust gewesen; es hätten am 15.03.2013 aus seiner Sicht keine schwerwiegenden Differenzen bestanden. Zudem ist auch nach Ablauf der Schwangerschaftssperrfrist (Art. 336c Abs. 1 lit. c OR) am 13.03.2014 noch rund drei Monate mit der Kündigung zugewartet worden. Die vorinstanzlichen Erwägungen sind nicht zu beanstanden.
12.3.5 Es ist der Berufungsbeklagten nicht anzulasten, wenn sie im Prozess ein Bild von Prof. E. und der Berufungsklägerin zeichnet, das übertrieben erscheinen mag. Die Parteien stehen vor Gericht schliesslich im Streit. Der Gesetzgeber nimmt es mit Art. 10 GlG sodann hin, dass eine restitutio in integrum im Sinne einer Weiterbeschäftigung auch dann verlangt werden kann, wenn sich die Parteien aufgrund einer Diskriminierungsbeschwerde letztlich überworfen haben.
Abgesehen davon sieht Art. 10 Abs. 4 GlG vor, dass die Arbeitnehmerin noch während des Verfahrens – d.h. selbst noch vor Bundesgericht (Rimer-Kafka/Ueberschlag, a.a.O. N. 74 zu Art. 10 GlG) – statt der Anfechtung der Kündigung und damit der restitutio in integrum eine Entschädigung geltend machen kann.
Urteil ZK 18 152 des Obergerichts des Kantons Bern vom 2.8.2018