Arbeitsrecht
Kein Lohnausfall bei Spitalaufenthalt nach Frühgeburt
Bei längerem Spitalaufenthalt eines neugeborenen Kindes kann auf Antrag der Mutter die Mutterschaftsentschädigung erst ab dann ausgerichtet werden, wenn das Kind nach Hause kommt. Für die Zeit im Spital muss der Arbeitgeber den Lohn gestützt auf die obligationenrechtliche Lohnfortzahlungspflicht wegen Krankheit zahlen.
Sachverhalt:
Die Klägerin arbeitete seit Mitte Mai 2006 bei der Beklagten. Ende September 2011 wurde sie wegen ihrer Schwangerschaft arbeitsunfähig und brachte am 12. Oktober 2011 in der 26. Schwangerschaftswoche ihre Tochter zur Welt. Da das Kind 14 Wochen zu früh zur Welt kam, musste es bis am 23. Dezember 2011 in der Klinik bleiben. Die Klägerin nahm die Arbeit nicht wieder auf.
Die Arbeitgeberin bezahlte den Lohn bis am 12. Oktober 2011. Nun beantragte die Klägerin, gemäss Art. 16c des Bundesgesetzes über den Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (EOG) solle die Mutterschaftsentschädigung erst ausgerichtet werden, wenn das Kind nach Hause kommt. Entsprechend wurde ihr erst ab dem 23. Dezember 2011 während 14 Wochen eine Mutterschaftsentschädigung bezahlt. Während dieser Zeit hat die Arbeitgeberin die Mutterschaftsentschädigung von 80 Prozent des Lohnes um die Differenz zum 100-Prozent-Lohn ergänzt. Die Krankentaggeldversicherung der Beklagten weigerte sich, an die Klägerin Krankentaggelder auszurichten.
Die Klägerin verlangte, dass ihr der Lohn ab Geburt des Kindes am 12. Oktober bis zum 23. Dezember 2011 zu bezahlen sei. Sie stützt ihre Forderung auf das Personalreglement bei Mutterschaft (14 Wochen 100-prozentige Lohnfortzahlung) und auf die gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht gemäss Art. 324a OR. Sie sei aufgrund ihrer eigenen Krankheit in der Zeit zwischen der Geburt und dem Ende des Spitalaufenthaltes der Tochter arbeitsunfähig im obligationenrechtlichen Sinne gewesen.
Erwägungen:
3.3.4 Sind die Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt, beginnt der Anspruch auf eine Mutterschaftsentschädigung am Tag der Niederkunft (Art. 16c Abs. 1 EOG). Bei längerem Spitalaufenthalt des neugeborenen Kindes kann die Mutter jedoch beantragen, dass die Mutterschaftsentschädigung erst ausgerichtet wird, wenn das Kind nach Hause kommt (Art. 16c Abs. 2 EOG). Der Anspruch endet am 98. Tag nach seinem Beginn (Art. 16d EOG). Die Mutterschaftsentschädigung wird als Taggeld ausgerichtet. Es beträgt 80 Prozent des durchschnittlichen Erwerbseinkommens, das vor Beginn des Entschädigungsanspruchs erzielt wurde (Art. 16e Abs. 2 EOG), höchstens jedoch Fr. 196.– im Tag (Art. 16f EOG).
3.3.5 Bei der Mutterschaftsversicherung handelt es sich um eine obligatorische Versicherung. Das Zusammenspiel von Lohnfortzahlungspflicht nach Art. 324a OR und obligatorischer Versicherung ist in Art. 324b OR geregelt. Art. 324b OR statuiert eine Ausnahme von der Lohnfortzahlungspflicht gemäss Art. 324a OR, wenn eine Versicherungspflicht besteht und die Versicherungsleistungen mindestens 80 Prozent des Lohnes decken. Sind die Versicherungsleistungen geringer, so hat der Arbeitgeber die Leistungen auf 80 Prozent des Lohnes aufzustocken (Art. 324b Abs. 2 OR). Werden die Versicherungsleistungen erst nach einer Wartezeit gewährt, so hat der Arbeitgeber für diese Zeit mindestens 80 Prozent des Lohnes zu entrichten (Abs. 3).
3.3.6 Angesichts der Ausgestaltung der Mutterschaftsversicherung ist festzuhalten, dass in der weitaus überwiegenden Mehrheit der Fälle der Arbeitsverhinderung infolge Mutterschaft keine Rolle spielt, ob die Art. 324a und 324b OR angewandt werden, da bereits nach EOG zwingend während 14 Wochen und ohne Wartefrist 80 Prozent des Lohnes bezahlt wird. Insoweit hat die Erwähnung der Niederkunft in Art. 324a Abs. 3 in der Tat «keine Bedeutung mehr» (vgl. Bericht zur EOG-Revision, S. 7550). Die Frage nach der Anwendbarkeit der Art. 324a und b OR stellt sich jedoch nach wie vor in gewissen Ausnahmefällen.
3.3.8 Letztlich ist der vorliegend interessierende Ausnahmefall (Frühgeburt zwischen 21. und 33. Schwangerschaftswoche, Hospitalisation nötig) aufzuführen, in welchem die Mutterschaftsentschädigung gemäss Art. 16c Abs. 2 EOG wegen eines überaus kritischen Gesundheitszustands des neugeborenen Kindes aufgeschoben worden ist: Aufgrund des Arbeitsverbotes von Art. 35a Abs. 3 ArG darf die Arbeitnehmerin während acht Wochen nach der Niederkunft nicht arbeiten. Auch in den acht Wochen danach darf sie nur mit ihrem Einverständnis beschäftigt werden. Zwischen Niederkunft und Bezug der (aufgeschobenen) Mutterschaftsentschädigung entsteht folglich zwingend eine Zeitspanne, in welcher die Arbeitnehmerin der Arbeit fernbleibt, sie jedoch keine Versicherungsleistungen erhält. Eine gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht besteht nur, wenn Art. 324a OR anwendbar ist.
3.3.12 In einem Urteil vom 17.10.2008 hat sich ein Genfer Arbeitsgericht (Cour d’appel des prud’hommes, zweite Instanz) mit einem vergleichbaren Sachverhalt befasst (www.leg.ch/jurisprudence/arret/ge_17.10.2008). Es kam zum Schluss, dass der Gesetzgeber mit der Streichung des Wortes «Niederkunft» aus dem Art. 324a Abs. 3 OR mit Inkrafttreten der Revision des EOG nicht den Willen hatte, die Folgen der Niederkunft von dem durch Art. 324a–b OR gewährten Schutz auszunehmen. Die Erwähnung der «Niederkunft» und der «Schwangerschaft» in Art. 324a Abs. 3 OR habe nur den Zweck klarzustellen, dass eine Lohnfortzahlungspflicht in diesen Fällen unabhängig der Verschuldensfrage gemäss Art. 324a Abs. 2 [recte: Abs. 1] bestehe. Da der Katalog der Verhinderungsgründe in Art. 324a Abs. 1 OR nicht abschliessend und die Begriffsverwendung der unverschuldeten Arbeitsverhinderung in den Art. 324a–b einheitlich sei, sei davon auszugehen, dass die Art. 324a–b auch die Folgen der Arbeitsverhinderung bedingt durch die Niederkunft regeln würden. In dieser Hinsicht sei es nie die Absicht des Gesetzgebers gewesen, den früher bestehenden Schutz zu verringern.
Das Gericht anerkennt dann, dass die Krankheit eines Kindes eine Arbeitsverhinderung im Sinne von Art. 324a OR begründen könne. Der Begriff «Krankheit» in Art. 324a Abs. 1 OR sei weit auszulegen. Art. 324a Abs. 1 OR decke nicht nur die Krankheit im eigentlichen Sinne ab, sondern angesichts der gesetzlichen Verpflichtungen gemäss Art. 276, 163 und 328 ZGB auch die Notwendigkeit der Anwesenheit eines Elternteils bei einem Kind, dessen Leben in Gefahr sei.
3.3.13 Der Auffassung des Genfer Arbeitsgerichts ist zu folgen. Eine historische Auslegung, insbesondere gestützt auf die Gesetzesmaterialien zur EOG-Revision, lässt entgegen der Auffassung der Beklagten keine eindeutigen Schlüsse auf den gesetzgeberischen Willen zu. Wie bereits erörtert (Ziff. 3.3.8 hievor) erfolgte die Streichung der Niederkunft aus Art. 324a Abs. 3 OR mit Blick auf die EOG-Regelung der Entschädigung während des Mutterschaftsurlaubs. Da in casu hingegen die Entschädigung vor dem Mutterschaftsurlaub in Frage steht, kann nicht auf den Willen des Gesetzgebers geschlossen werden, eine Lohnfortzahlungspflicht gemäss Art. 324a OR in diesen Fällen auszuschliessen.
3.3.18 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den Fällen des Aufschubes der Mutterschaftsentschädigung gemäss Art. 16c EOG für die Zeit zwischen der Geburt und dem Beginn der Mutterschaftsentschädigung bei gegebenen Voraussetzungen eine Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber auch dann besteht, wenn die Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin eine Folge der Niederkunft ist.
3.4 Nachdem die Frage der grundsätzlichen Anwendbarkeit von Art. 324a OR bejaht worden ist, ist zu prüfen, ob im konkreten Fall eine Arbeitsverhinderung im Sinne der Bestimmung gegeben ist.
3.4.6 Die Klägerin legt Arztzeugnisse vor, die ihre Arbeitsverhinderung bis am 11.12.2011 bestätigen.
Bezüglich der 11 Tage vom 12.12.2011 bis und mit 22.12.2011 geht das Gericht in Würdigung der parteilichen Tatsachenbehauptungen und der dem Gericht vorliegenden Beweismittel ebenfalls davon aus, dass die Klägerin zu 100 Prozent arbeitsunfähig gewesen ist. Dabei berücksichtigt das Gericht den von der Klägerin anlässlich ihrer Parteibefragung glaubwürdig dargestellten eigenen Gesundheitszustand sowie die Tatsache, dass das hospitalisierte Kind in der fraglichen Zeit auf die regelmässige Präsenz der Mutter angewiesen war.
3.4.7 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Klägerin vom Zeitpunkt der Geburt am 12.10.2011 bis zur Rückkehr des Kindes aus dem Spital, d. h. bis zum Beginn der Mutterschaftsentschädigung, am 23.12.2011 ohne ihr Verschulden an der Arbeit im Sinne von Art. 324a Abs. 1 OR verhindert war.
3.5.1 Liegt eine unverschuldete Arbeitsverhinderung im Sinne des Gesetzes vor, so hat der Arbeitgeber gemäss Art. 324a Abs. 1 OR dem Arbeitnehmer für eine beschränkte Zeit den darauf entfallenden Lohn zu entrichten, sofern das Arbeitsverhältnis mehr als drei Monate gedauert hat oder für mehr als drei Monate eingegangen ist.
3.5.3 Die Beklagte bringt vor, ihre Lohnfortzahlungspflicht nach Art. 324a OR bereits durch den Abschluss einer gleichwertigen Versicherung erfüllt zu haben (p. 55).
3.5.3 In den allgemeinen Versicherungsbedingungen der von der Beklagten abgeschlossenen Kollektiv-Taggeldversicherung nach VVG mit der Helsana Versicherungen AG ist in Ziff. 19 unter dem Titel «Mutterschaft» Folgendes geregelt: «Die Leistungspflicht bei Krankheit und Unfall ruht während 8 Wochen nach der Geburt. Falls die versicherte Person der Arbeit bis zur 16. Woche nach der Geburt auf eigenen Wunsch fernbleibt, gilt das Ruhen der Leistungspflicht bis zu diesem Zeitpunkt. [...]».
Angesichts der hievor einlässlich erläuterten gesetzlichen Regelung, welche für die Zeit unmittelbar nach der Geburt bei aufgeschobener Mutterschaftsentschädigung gestützt auf Art. 16c EOG eben gerade eine Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers statuiert, kann von einer Gleichwertigkeit der Versicherungslösung keine Rede mehr sein, schliesst diese doch eine Leistungspflicht in der fraglichen Zeit a priori aus. Die Beklagte hat ihre Lohnfortzahlungspflicht folglich nicht bereits durch den Abschluss einer Versicherung erfüllt.
3.6 Die Lohnfortzahlungspflicht der Beklagten für die Zeit vom 12.10.2011 bis und mit 22.12.2011 ist zu bejahen.
Urteil Nr. CIV 12 6727 BAK der Zivilabteilung des Regionalgerichtes Bern-Mittelland vom 24. Januar 2013 bzw. 27. März 2013
Zivilprozessrecht
Gesetz geht einer Gerichtsstandsvereinbarung vor
Nur ein gesetzlich zuständiges Gericht darf in einer vertraglichen Gerichtsstandsvereinbarung genannt werden. Liegt der Streitwert unter dem Mindeststreitwert des Handelsgerichts, ist das Bezirksgericht zuständig.
Sachverhalt:
Die beiden Parteien sind im Handelsregister eingetragen. Die Beklagte hat ihren Sitz im Kanton Aargau. Die Parteien vereinbarten eine Vertragsklausel, wonach für Streitigkeiten ausschliesslich das Handelsgericht Zürich zuständig ist. Nun wurde die Beklagte im Kanton Zürich beim Bezirksgericht für eine Forderung von rund Fr. 10 000.– ins Recht gefasst. Dagegen hat sie die Einrede der Unzuständigkeit erhoben.
Die Vorinstanz hat ihren Nichteintretensentscheid darauf gestützt, dass das (Zürcher) Handelsgericht erst ab einem Streitwert von Fr. 30 000.– zuständig ist und dieser Streitwert in diesem Verfahren nicht erreicht ist. Für die tiefen Streitwerte sei entweder das Einzelgericht am Bezirksgericht Zürich oder gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. b ZPO das zuständige Gericht am Sitz der Beklagten im Kanton Aargau zuständig. Weil die Parteien keine allgemeine Zuständigkeit der Zürcher Gerichte vereinbart hätten, gelte dispositives Recht, sodass die Klage für Streitigkeiten von unter Fr. 30 000.– gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. b ZPO am Sitz der Beklagten (Hallwil AG) zu erheben sei. Im Zusammenhang mit der Auslegungskontrolle war die Vorinstanz der Meinung, dass kein tatsächlich übereinstimmender Parteiwille ermittelt werden könne und daher auf den nach Vertrauensgrundsätzen zu ermittelnden mutmasslichen Parteiwillen abgestellt werden müsse.
Erwägungen:
4. Kernfrage ist, ob die Klausel – wenn das Zürcher Handelsgericht wegen eines zu tiefen Streitwertes nicht angerufen werden kann – keinerlei Bedeutung hat, weil für diesen Fall gar nichts geregelt wurde, was zur Zuständigkeit des Gerichts am Sitz der Beklagten im Kanton Aargau führen würde, oder ob sie (auch) den Sinn gehabt hat, unabhängig von einer allfälligen sachlichen Zuständigkeit des Zürcher Handelsgerichts den Gerichtsstand Zürich zu bezeichnen.
Die Vorinstanz und die Klägerin gehen davon aus, dass ein tatsächlich übereinstimmender Parteiwille hinsichtlich der Tragweite von Ziff. 10 Abs. 6 AGB nicht ermittelt werden kann, worauf die Klägerin im Berufungsverfahren ausdrücklich hinweist. Es geht daher unbestrittenermassen einzig um die objektivierte Auslegung, nämlich was irgendjemand versteht bzw. richtigerweise verstehen muss, wenn er die Klausel liest.
Bei der genannten Klausel geht es zunächst um die sachliche Zuständigkeit, indem das «Handelsgericht» vereinbart wurde. Anzumerken ist zunächst, dass die Klausel in einem Vertrag aus dem Jahre 2010 vereinbart wurde, als die eidgenössische Zivilprozessordnung noch nicht in Kraft war.
Hätten die Parteien nichts geregelt, wäre – je nachdem, wer Beklagte gewesen wäre – bei Streitigkeiten mit einem Streitwert von Fr. 30 000.– (oder allenfalls Fr. 8000.–) und darüber – das Handelsgericht am Sitz der beklagten Partei anzurufen gewesen; für tiefere Streitwerte wären die «gewöhnlichen» Zivilgerichte zuständig gewesen, je nach Sitz der beklagten Partei in Zürich oder in Hallwil bzw. das für Hallwil zuständige Gericht.
In der Literatur wird verschiedentlich zur Frage Stellung genommen, wie es sich verhält, wenn es im betreffenden Kanton das vereinbarte Gericht gar nicht gibt, was vergleichbar ist mit dem Fall, dass es für gewisse Streitigkeiten nicht zuständig ist. Kellerhals von Werth/Güngerich-Berger, Gerichtsstandskommentar, N. 18 zu Art. 9 bezieht sich für diesen Fall auf den favor validitatis und geht von der Gültigkeit der Bestimmung aus, wenn sich das anzurufende Gericht sonstwie bestimmen lässt. Er ist auch in der Kommentierung der schweizerischen ZPO (BK ZPO-Berger, N. 26 zu Art. 17) bei dieser Ansicht geblieben. Nach ZK ZPO-Sutter-Somm/Hediger (2. Auflage) N. 25 zu Art. 17 ist die Vereinbarung eines nicht existierenden Gerichts auszulegen und je nachdem umzudeuten oder ungültig zu erklären und nach BSK ZPO-Infanger (N. 14 zu Art. 17) ist zu klären, ob nicht einfach ein Gericht im bestehenden Gerichtssprengel vereinbart werden wollte.
Dass ein nicht existierendes Gericht bezeichnet wird, steht nach Füllemann, Dike-Komm-ZPO (N. 10 zu Art. 17) der objektiven Bestimmbarkeit nicht grundsätzlich entgegen; insbesondere ist nach ihm zu prüfen, ob nicht einfach die Gerichte bzw. Gerichtsstände innerhalb des betreffenden Kantons gemeint seien.
Vereinbaren Vertragsparteien mit Sitz in verschiedenen Kantonen (hier: Aargau und Zürich) die Zuständigkeit des Zürcher Handelsgerichts, so enthält die Vereinbarung vor allem die Komponente der örtlichen Zuständigkeit, indem das ausserkantonale Fachgericht im Kanton Zürich für jene Partei, die nicht im Kanton Zürich zu belangen wäre, gleichzeitig die «Wohnsitzgerichtsbarkeit» derogiert. Der vorliegende Fall ist insofern besonders, weil sowohl der Kanton Zürich als auch der Kanton Aargau zu jenen vier Kantonen gehören, die vor und nach dem Inkrafttreten der schweizerischen ZPO über ein Handelsgericht verfügen bzw. verfügten. Daher drängt es sich auf, die Vereinbarung so zu verstehen, dass es nicht entscheidend ist, allfällige Streitigkeiten überhaupt vor ein Handelsgericht zu bringen, weil in dieser Konstellation – auch ohne jegliche Vereinbarung – so oder so ein Handelsgericht, sei es am Sitz der klagenden, sei es am Sitz der beklagten Partei zur Verfügung steht. Daher ist davon auszugehen, dass es nicht allein um die Zuständigkeit eines Handelsgerichts, sondern insbesondere um den Prozessort Zürich geht. Der Passus, dass die ausschliessliche Zuständigkeit des Handelsgerichts Zürich vereinbart werde, kann nur bedeuten, dass im Streitfall einzig das Handelsgericht Zürich angerufen werden darf. Für den vorliegenden Fall, dass die Anhandnahme durch das Handelsgericht aus gesetzlichen Gründen ausgeschlossen ist, kann die Ausschliesslichkeit bezogen auf das Handelsgericht als vereinbartes Gericht keine Wirkung haben: Es muss zwingend ein anderes Gericht entscheiden. Bezüglich des Ortes, wo sich dieses andere Gericht befinden muss, ergibt sich aus der ausgewählten Formulierung nichts.
Letztlich schliesst sich hier der Kreis und die Tatsache, dass das Handelsgericht Zürich vereinbart wurde, spricht insgesamt für die Zuständigkeit «Zürich». Damit ist die Berufung gutzuheissen, der Nichteintretensentscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur Durchführung des Verfahrens zurückzuweisen.
Urteil Nr. NP130011 der II. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 9. August 2013
Sozialversicherungen
Unzulässigerüberspitzter Formalismus
Kann das Gericht ohne weiteres aus den Akten schliessen, welcher Entscheid angefochten worden ist, ist es überspitzt formalistisch, nicht auf die Beschwerde einzutreten.
Sachverhalt:
B. erhob eine mangelhaft formulierte Beschwerde gegen einen Entscheid der Zürich Versicherung und legte den angefochtenen Entscheid nicht bei. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich gab ihm am 16. Oktober 2012 Gelegenheit, die Beschwerdeschrift innert zehn Tagen zu verbessern und den Entscheid nachzusenden. Am 30. Oktober 2012 reichte B. eine verbesserte Beschwerdeschrift ein, ohne aber den angefochtenen Einspracheentscheid nachzureichen. Wie angekündigt trat das Gericht nicht auf die Beschwerde ein. B. zog die Sache mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht weiter mit dem Antrag, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen:
3.2 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 61 lit. b ATSG und einen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 1 BV (überspitzter Formalismus, Rechtsverweigerung). Für die strikte Anwendung der Formvorschriften bestehe kein schutzwürdiges Interesse, da der Vorinstanz sowohl der Leistungserbringer wie auch die streitige Anordnung aufgrund von Beschwerdeschrift und Übermittlungsschreiben der Beschwerdegegnerin bekannt gewesen seien.
4.1 Überspitzter Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt (BGE 135 I 6 E. 2.1, S. 9 mit Hinweisen). Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 132 I 249 E. 5, S. 253; 130 V 177 E. 5.4.1, S. 183).
4.2 Eine kantonale Beschwerdeinstanz verletzt grundsätzlich kein Bundesrecht, wenn sie durch einen Nichteintretensentscheid die fehlende Einreichung des angefochtenen Entscheids innert gesetzter Frist ahndet, es sei denn, das Erfordernis, den angefochtenen Einspracheentscheid einzureichen, stelle in der konkreten Verfahrenssituation einen blossen Selbstzweck dar (BGE 116 V 353 E.3c, S. 358). § 18 Abs. 2 Satz 3 GSVGer dient dazu, dem angerufenen Gericht Gewissheit zu verschaffen, über welchen Streitgegenstand welcher Verfügungsinstanz dieses zu urteilen hat. Sind diese in der Regel ohne Weiteres dem angefochtenen Entscheid zu entnehmenden Informationen nicht bekannt, hat das Gericht eine Nachfrist zur Verbesserung unter Androhung des Nichteintretens anzusetzen.
Überspitzter Formalismus liegt vor, wenn die kantonale Beschwerdeinstanz einen Nichteintretensentscheid fällt, obwohl der Zweck der Einreichung des angefochtenen Entscheids bereits auf andere Weise erreicht war (BGE 116 V 353 E. 3b und c, S. 358).
5.2 Die fälschlicherweise an die Zürich Versicherung adressierte Eingabe der Beschwerdeführerin vom 10. Oktober 2012 enthielt die Überschrift «Einsprache gegen den Entscheid vom 1. Oktober 2012 – 272/11-…». Nach Art. 58 Abs. 3 ATSG hat die Behörde, die sich als unzuständig erachtet, die Beschwerde ohne Verzug dem zuständigen Versicherungsgericht zu überweisen. Die Beschwerdegegnerin leitete die Eingabe am 12. Oktober 2012 an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich weiter. Der Begleitbrief enthielt die Referenznummer «272/11-…» und den Vermerk «Ereignis vom 7. April 2011».
Damit waren der Vorinstanz der zuständige Unfallversicherer, das Datum des streitigen Einspracheentscheids und die Referenznummer bekannt. Der angefochtene Entscheid hätte sich folglich ohne weiteres aus den von Amtes wegen beizuziehenden und vom Unfallversicherer einzureichenden massgeblichen Akten (§ 21 Abs. 1 GSVGer) entnehmen lassen. Unter diesen Umständen ist es überspitzt formalistisch, auf die Beschwerde mangels Einreichung des angefochtenen Einspracheentscheids nicht einzutreten.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich aufgehoben.
Urteil Nr. 8C_2/2013 der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes vom 19. April 2013
Verwaltungsrecht
Aufenthaltsort ist massgebend für Fürsorgeleistungen
Die Gemeinde, in der man sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält, ist unterstützungspflichtig. Sie bleibt es auch, wenn jemand vorübergehend Unterschlupf bei Bekannten sucht. Steht die Wohngemeinde oder der Unterstützungswohnsitz nicht fest, ist die Aufenthaltsgemeinde zur Hilfeleistung verpflichtet.
Sachverhalt:
Die beschwerdeführenden A. und B. stellten bei der Sozialhilfebehörde ein Unterstützungsgesuch, worauf die Behörde sie zur Deklaration ihrer Wohnsituation aufforderte. Sie reichten eine Liste mit verschiedenen Aufenthaltsorten ein. Die Überprüfung ergab, dass der Arbeitgeber der Beschwerdeführerin der Familie seit Ende Oktober 2011 in seinem Gasthof F. in der Stadt G. ein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte. Die Sozialhilfebehörde D. verneinte ihre sozialhilferechtliche Zuständigkeit. Gegen diesen Beschluss rekurrierten A. und B. ohne Erfolg beim Bezirksrat D. mit dem Antrag, die Sozialbehörde habe auf ihr Unterstützungsgesuch einzutreten und dieses zu behandeln. Gegen dessen Abweisung erhoben A. und B. am 4. Oktober 2012 Beschwerde beim Verwaltungsgericht.
Erwägungen:
3.2 Die Beschwerdeführenden machen geltend, dass sie ihren Wohnsitz in der Stadt D. begründet und auch beibehalten hätten. Aufgrund der Ausweisung aus der Wohnung seien sie auf der Strasse gestanden und hätten sich daher zeitweise, im Sinn einer notfallmässigen Überbrückungslösung, in G. in einem Zimmer eines Gasthofs – ohne eigene Küche und Badezimmer – aufgehalten. Sie seien aber nach wie vor polizeilich in D. angemeldet.
3.3 Wer für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig aus eigenen Mitteln aufkommen kann, hat nach § 14 des Sozialhilfegesetzes vom 14. Juni 1981 (SHG) Anspruch auf wirtschaftliche Hilfe. Die Pflicht zur Leistung persönlicher und wirtschaftlicher Hilfe obliegt der Wohngemeinde des Hilfesuchenden (§ 32 SHG).
Eine mündige Person hat gemäss § 34 SHG ihren Unterstützungswohnsitz in der Gemeinde, in der sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Dies setzt zum einen voraus, dass sie sich dort tatsächlich niedergelassen und eingerichtet hat und damit über eine ordentliche Wohngelegenheit verfügt. Zum anderen muss sie die aus den gesamten Umständen erkennbare Absicht haben, dort nicht nur vorübergehend, sondern «dauerhaft», das heisst zumindest für längere Zeit zu bleiben. Bei der Wohnsitzermittlung ist nicht auf den inneren Willen einer Person abzustellen, massgebend ist vielmehr, auf welche Absicht die erkennbaren äusseren Umstände schliessen lassen. Dabei sind alle Elemente der äusserlichen Gestaltung der Lebensverhältnisse zu berücksichtigen (vgl. Sozialhilfe-Behördenhandbuch des Kantons Zürich, Kapitel 3.2.01, Ziff. 1, Version vom 29. Juni 2012, unter www.sozial
hilfe.zh.ch, nachfolgend: Behördenhandbuch). Im interkantonalen Verhältnis ist Art. 4 des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (ZUG) massgebend, der ebenfalls auf die Absicht dauernden Verbleibens abstellt.
Die Beschwerdeführenden haben unbestrittenermassen die Notwohnung in D. am 26. Oktober 2011 verlassen. Ab diesem Zeitpunkt hielten sie sich hauptsächlich im Gasthof F. in G. auf, wo der Arbeitgeber der Beschwerdeführerin ihnen ein Zimmer zur Verfügung stellte. Wer den bisherigen Wohnsitz verlässt, hat in der Regel keinen Unterstützungswohnsitz mehr, bis er anderswo einen neuen begründet (vgl. § 38 Abs. 1 SHG). Im Gegensatz zum zivilrechtlichen Wohnsitz (vgl. Art. 24 Abs. 1 ZGB) bleibt der einmal begründete Unterstützungswohnsitz aber nicht bis zum Erwerb eines neuen bestehen; er endet vielmehr mit dem Wegzug aus der Wohngemeinde (vgl. dazu Art. 9 Abs. 1 ZUG). Selbst wenn der Bedürftige diese verlässt, um sich an einem anderen Ort niederzulassen, nach kurzer Zeit aber an seinen früheren Wohnsitz zurückkehrt, bleibt der Unterstützungswohnsitz nicht erhalten; er wird vielmehr allenfalls neu begründet (BGr, 5. Juli 2010, 8C_223/2010, E. 4.1).
3.4 Die Beschwerdeführenden verfügen über keine ordentliche Wohngelegenheit in D., scheinen aber bis jetzt auch noch keinen neuen Wohnsitz in einer anderen Gemeinde begründet zu haben. Sie machen denn auch geltend, sie wollten weiterhin in D. wohnen bleiben. Wünsche und innere Absichten einer Person sind jedoch für die Bestimmung der sozialhilferechtlichen Zuständigkeit nicht massgebend (vgl. E. 3.3). Ausschlaggebend ist, dass sie die Wohnung in D. verlassen mussten und seit diesem Zeitpunkt nicht mehr in D. gewohnt haben. Dass die Beschwerdeführenden noch in D. polizeilich gemeldet sind, vermag das Fortbestehen des Wohnsitzes nicht zu beweisen. Bei der Beendigung des Unterstützungswohnsitzes wird die polizeiliche Abmeldung lediglich als Indiz für die Wohnsitzaufgabe gewertet (Behördenhandbuch, Kap. 3.2.01, Ziff. 5.2).
Gemäss ihrer Auskunft gegenüber der Sozialbehörde D. haben die Beschwerdeführenden von November 2011 bis Februar 2012 einerseits im Gasthof F. in G., andererseits auch bei verschiedenen Privatpersonen in G. und H. übernachtet. Nach dem Behördenhandbuch bleibt die bisherige Gemeinde zwar zuständig, wenn eine Person die bisherige Wohngemeinde nur verlässt, um vorübergehenden Unterschlupf bei Verwandten, Freunden oder Kollegen in einer anderen Gemeinde zu suchen. Vorliegend waren die Beschwerdeführenden jedoch bereits seit Ende Oktober 2011 nicht mehr in D. wohnhaft. Diese Zeitspanne kann nicht mehr als vorübergehend gewertet werden. Der Wegzug aus D. führte demnach zur Beendigung des sozialhilferechtlichen Wohnsitzes.
3.5 Ist eine Sozialhilfebehörde nicht zuständig, weist sie gemäss § 26 Abs. 1 der Verordnung zum Sozialhilfegesetz vom 21. Oktober 1981 (SHV) den Hilfesuchenden an die Fürsorgebehörde der nach §§ 32 und 33 des Sozialhilfegesetzes hilfepflichtigen Gemeinde (Aufenthaltsgemeinde) und macht ihr gleichzeitig Mitteilung.
Erst wenn eine zweite Gemeinde sich zur Hilfeleistung und Kostentragung unzuständig erklärt, besteht ein negativer Kompetenzkonflikt. Die Entscheidung einer solchen Streitigkeit obläge nach § 9 lit. e SHG dem kantonalen Sozialamt der Sicherheitsdirektion Zürich. Zusammenfassend erweisen sich die Einwendungen der Beschwerdeführenden als unbegründet und die Beschwerde wird in diesem Punkt abgewiesen.
Urteil VB.2012.00645 der 3. Abteilung des Verwaltungsgerichts Zürich vom 7. Februar 2013
Keine Invalidität aus organisatorischen Gründen
Auch wer nur fünf Stunden pro Schicht arbeitet und keine Nachtwache leistet, muss vom Unispital weiterbeschäftigt werden. Eine Entlassung aus rein organisatorischen Gründen ist missbräuchlich.
Sachverhalt:
A. war seit dem 1. November 1995 als Pflegefachfrau am Universitätsspital Zürich tätig. Anfang Mai 2001 reduzierte sie den Beschäftigungsgrad auf 90 Stellenprozente, mit Verfügung vom 8. Juli 2009 entliess das Universitätsspital sie im Umfang von 40 Prozent invaliditätshalber, weil die Invalidenversicherung bzw. die (kantonale) Versicherungskasse für das Staatspersonal (BVK) im entsprechenden Umfang eine Invalidität bzw. eine Berufsunfähigkeit festgestellt hatten. Ab September 2009 war A. noch mit einem Pensum von 50 Prozent tätig.
Aufgrund der Auflage des Unispitals wurde A. von einem Vertrauensarzt untersucht. Er kam im Januar 2011 zum Schluss, dass A. nur zu 50 Prozent arbeitsfähig sei und pro Schicht maximal fünf Stunden arbeiten dürfe. Damit liege eine Berufsunfähigkeit von 50 Prozent vor. Ein paar Monate später, Mitte April, teilte die BVK mit, man sei zum Schluss gelangt, dass A. vollständig berufsunfähig sei, und man bitte deshalb das Universitätsspital, A. auf das Ende des Monats, in welchem die Lohnfortzahlungspflicht ende, zu entlassen. Das Universitätsspital entliess A. mit Verfügung vom 10. Mai 2011 invaliditätshalber per 28. Februar 2012. Mit Rekurs vom 10. Juni 2011 liess A. dem Spitalrat des Universitätsspitals beantragen, unter Entschädigungsfolge sei festzustellen, dass die Kündigung sachlich nicht gerechtfertigt sei, und es seien ihr – soweit sie nicht wieder eingestellt werde – eine Entschädigung von sechs Monatslöhnen und eine Abfindung von 15 Monatslöhnen zuzusprechen.
Der Spitalrat wies den Rekurs mit Entscheid vom 13. Juni 2012 ab. Dagegen führte A. Beschwerde beim Verwaltungsgericht.
Erwägungen:
3.2 Schon aus dem Wortlaut von § 19 Abs. 2 Satz 1 VVPG ergibt sich, dass der Entscheid über eine Entlassung invaliditätshalber nicht auf der Grundlage eines Rentenentscheids der BVK, sondern allein auf der Grundlage eines vertrauensärztlichen Gutachtens zu treffen ist. Die rechtliche Würdigung der im Gutachten getroffenen medizinischen Feststellungen obliegt demnach dem Arbeitgeber. Diesem ist mit Blick auf die Leistungskoordination zwar nicht untersagt, einen allfälligen Leistungsentscheid der BVK zu berücksichtigen; er darf den Entscheid jedoch nicht ohne eigene Abklärungen übernehmen.
Vielmehr hat der Arbeitgeber selbständig zu prüfen, ob aufgrund der medizinischen Feststellungen tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, die eine Entlassung invaliditätshalber rechtfertigt. Die Rechtmässigkeit dieses Entscheids ist anschliessend im personalrechtlichen Rechtsmittelverfahren zu überprüfen. Ob die Entlassung invaliditätshalber gerechtfertigt war, beurteilt sich dabei allein nach personalrechtlichen Gesichtspunkten; die Beurteilung des ärztlichen Gutachtens in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht vermag den personalrechtlichen Entscheid mithin nicht zu präjudizieren.
Die dargelegte Rechtslage schafft auf den ersten Blick zwar die Gefahr sich widersprechender Entscheide. Dass Arbeitnehmende gleichzeitig einen Lohn und eine Berufsunfähigkeitsrente erhalten, ist jedoch durch § 53 BVK-Statuten ausgeschlossen. Nach dieser Bestimmung beginnt der Anspruch auf Rentenleistungen erst mit jenem Tag, für den der Lohn nicht mehr ausgerichtet wird.
Demnach ist im Folgenden zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin zu Recht invaliditätshalber entlassen wurde.
4.2 Eine Berufsunfähigkeit kann auch in personalrechtlicher Hinsicht nur in dem Umfang vorliegen, in welchem die auf gesundheitlichen Gründen beruhende medizinische Einschränkung eine Einschränkung der Fähigkeit, den entsprechenden Beruf auszuüben, zur Folge hat. Im vorliegenden Fall ist demnach entscheidend, ob Pflegefachpersonen, die keine vollen Schichten mehr arbeiten können, in ihrem Beruf grundsätzlich nicht mehr einsetzbar sind. Mit Blick auf die enge Begriffsdefinition der Berufsunfähigkeit ist dies nur für Pflegefachkräfte zu prüfen, die in Spitälern tätig sind.
4.3 Die Beweislast für das Vorliegen zureichender Gründe für eine Kündigung liegt beim Arbeitgeber (VGr, 7. März 2012, VB.2011.00595, E. 4.3 Abs. 2; Marco Donatsch, Privatrechtliche Arbeitsverträge und der öffentliche Dienst, Jusletter vom 3. Mai 2010, Rz. 24). Will der Arbeitgeber Angestellte invaliditätshalber entlassen, muss er nach § 19 Abs. 2 Satz 1 VVPG einen vertrauensärztlichen Bericht einholen, der alsdann als Beweismittel für die Zulässigkeit der Entlassung dient. Geht der Arbeitgeber hingegen über die Feststellungen des ärztlichen Gutachtens hinaus, indem er geltend macht, mit der verbleibenden Arbeitsfähigkeit sei im entsprechenden Beruf keine sinnvolle Beschäftigung mehr möglich, ist er dafür beweisbelastet.
4.4 Der Beschwerdegegner vermag nicht darzulegen, weshalb eine Pflegefachkraft, die nur noch fünf Stunden pro Tag arbeiten kann, in ihrem Beruf überhaupt nicht mehr einsetzbar sein soll. In seinen Ausführungen beschränkt er sich darauf, auf die angeblichen Abklärungen durch die BVK zu verweisen, und führt im Übrigen im Wesentlichen aus, beim Beschwerdegegner sei ein solcher Einsatz nicht möglich. Die Beschwerdeführerin konnte demgegenüber darlegen, dass in anderen Spitälern ein Einsatz mit ihren Einschränkungen durchaus möglich wäre. Sie weist denn auch zu Recht darauf hin, dass der Beschwerdegegner im Wesentlichen eigene organisatorische Gründe und nicht mit dem Beruf der Pflegefachkraft im Allgemeinen verbundene Gründe geltend macht, weshalb er die Beschwerdeführerin nicht mehr einsetzen will. Demnach erfolgte die Kündigung nicht bzw. nur indirekt als Folge der gesundheitlichen Beeinträchtigung der Beschwerdeführerin, sondern in erster Linie aus beim Beschwerdegegner liegenden organisatorischen Gründen. Eine Entlassung invaliditätshalber vermag dies nicht zu rechtfertigen. Der Beschwerdegegner scheitert deshalb mit dem Nachweis, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen in ihrem Beruf nicht mehr einsetzbar war. Demnach erweist sich die Entlassung invaliditätshalber als unrechtmässig.
6.1 Erweist sich die Kündigung als missbräuchlich oder sachlich nicht gerechtfertigt und wird die entlassene Person nicht wieder eingestellt, bemisst sich die Entschädigung nach den Bestimmungen des Obligationenrechts über die missbräuchliche Kündigung (§ 18 Abs. 3 Satz. 1 PG). Nach Art. 336 Abs. 2 OR ist die Entschädigung durch das Gericht in Würdigung aller Umstände festzusetzen und darf den Betrag von sechs Monatslöhnen nicht übersteigen.
6.2 Das Verschulden des Beschwerdegegners wiegt schwer. Er konnte aber nicht dartun, dass er sich je ernsthaft bemüht hätte, eine Lösung zu finden, die es der Beschwerdeführerin bis zur Pensionierung ermöglicht hätte, weiterhin in ihrem Beruf als Pflegefachfrau zu arbeiten. Gesamthaft erscheint es deshalb gerechtfertigt, der Beschwerdeführerin eine Entschädigung von vier Monatslöhnen zuzusprechen.
7.3 Der Beschwerdegegner entliess die Beschwerdeführerin, weil sie aus gesundheitlichen Gründen keine vollen Schichten mehr arbeiten konnte. Weil ihr daraus kein Vorwurf gemacht werden kann und sie ihre Arbeit im noch möglichen Umfang jederzeit angeboten hat, ist die Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Sinne von § 26 PG unverschuldet. Der Beschwerdegegner löste das Arbeitsverhältnis per 28. Februar 2012 auf. Die Beschwerdeführerin stand im 17. Dienstjahr und war 60 Jahre alt. Nach § 16g Abs. 2 VVPG ist die Höhe der Abfindung anhand der persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin zwischen 8 und 13 Monatslöhnen festzulegen.
Im Rahmen der persönlichen Verhältnisse sind insbesondere die Unterstützungspflichten der Angestellten, ihre Arbeitsmarktchancen, ihre finanziellen Verhältnisse und die Umstände des Stellenverlusts zu berücksichtigen (§ 16g Abs. 3 VVPG). Die Beschwerdeführerin muss aufgrund ihres Alters und ihrer gesundheitlichen Einschränkung davon ausgehen, dass sie bis zur Pensionierung keine Stelle mehr finden wird. Die Entlassung invaliditätshalber war rechtswidrig, wobei der Beschwerdegegner schwere Verfahrensfehler beging.
Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, unterstützungspflichtig zu sein, und solche Pflichten sind auch nicht ersichtlich. Auch dürften die finanziellen Konsequenzen der Kündigung durch eine Rente der BVK gemildert werden. Angesichts ihrer langen Dienstzeit für den Beschwerdegegner, ihrer guten Qualifikationen, ihres bis zur Kündigung klar gezeigten Willens, ihre Restarbeitsfähigkeit einzusetzen, und mit Blick auf die finanziellen Konsequenzen der Entlassung invaliditätshalber rechtfertigt sich, der Beschwerdeführerin eine Abfindung von zehn Monatslöhnen zuzusprechen.
Endentscheid Nr. VB.2012.00463 der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 31. Juli 2013
Strafprozessrecht
Einsicht in Polizeijournale per Beweisantrag
Polizeijournale gehören grundsätzlich nicht zu den Strafuntersuchungsakten. Es sind interne Akten, ausser es wird ein anderslautender Beweisantrag gestellt. Lehnt ihn die Verfahrensleitung ab, ist eine Beschwerde dagegen nicht zulässig, wenn der Antrag ohne Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht wiederholt werden kann.
Sachverhalt:
In einem Strafverfahren hatten die Beschwerdeführerinnen beantragt, die Journale der Polizei seien zu den Akten zu nehmen. Sie sind der Ansicht, das Journal sei für die weiteren Ermittlungen bezüglich der Morddrohungen von grosser Relevanz. Sie rügten, dass die Polizei ihnen die Akteneinsicht verweigert hatte und die Journale nicht zu den Akten genommen worden waren. Sie stellten sich auf den Standpunkt, die angefochtene Verfügung sei daher eine beschwerdefähige Verfahrenshandlung.
Erwägungen:
b/aa) Gemäss Art. 307 Abs. 3 StPO hält die Polizei ihre Feststellungen und die von ihr getroffenen Massnahmen laufend in schriftlichen Berichten fest und übermittelt diese nach Abschluss ihrer Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Die grundsätzliche Berichterstattungsform der Polizei bilden die sogenannten Rapporte. Die Erstellung von Polizeirapporten fliesst aus der allgemeinen Dokumentationspflicht. Die Rapporterstattung soll der Staatsanwaltschaft ermöglichen, über die Eröffnung einer Strafuntersuchung und das weitere Vorgehen zu entscheiden (Landshut, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Zürich 2010, Art. 307 N 32; BSK StPO, Rüegger, Art. 307 N 10, N 14).
Die Polizei ist jedoch nicht gehalten, alle Details ihrer Ermittlungstätigkeit offenzulegen oder ihre Arbeitsunterlagen und taktischen Grundlagen zu offenbaren (Landshut, a.a.O., Art. 307 N 34; Niklaus Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich/St. Gallen 2009 N 568). Im Polizeijournal wird fortlaufend der Eingang aller Geschäfte festgehalten, dabei werden die Personalien der Beteiligten, das Datum des Meldeeingangs, der rapportierende Beamte, eine knappe Zusammenfassung des Sachverhalts wie auch allenfalls knappe Angaben zum weiteren Vorgehen festgehalten.
Die für die Strafverfolgung wesentlichen Informationen werden anschliessend in den Polizeirapport aufgenommen und der Staatsanwaltschaft übermittelt. Da das Journal jedoch auch – insbesondere bezüglich des weiteren Vorgehens – taktische Angaben oder andere dem Amtsgeheimnis unterliegende Tatsachen enthalten kann, die nicht zu offenbaren sind, im Übrigen regelmässig weniger Angaben als der anschliessende Rapport enthält und verschiedene Angaben im Journal (z.B. Personalien, erster Sachverhaltsüberblick) fehlerhaft sein können und zuerst verifiziert werden müssen, ist das Journal als reines internes Arbeitsinstrument der Polizei zu qualifizieren, das nicht zu den Strafakten gehört. Erst der auf Grundlage des Journals erstellte Polizeirapport stellt Bestandteil der Strafakten dar.
bb) Das bedeutet hingegen nicht, dass es im Einzel- oder Bedarfsfall nicht doch zu einem Beizug des Journalauszugs bzw. der darin enthaltenen Informationen kommen kann. So steht es den Parteien – sehen sie einen entsprechenden Bedarf – frei, einen diesbezüglichen Beweisantrag auf Edition bzw. Beizug des Journals zu den Akten zu stellen oder aber – was regelmässig tauglicher und zweckmässiger sein dürfte – einen Antrag auf Einvernahme des entsprechenden Polizisten zu stellen.
Soweit die Beschwerdeführerinnen Akteneinsicht beantragen, so bleibt darauf hinzuweisen, dass Akteneinsicht nur in diejenigen Akten verlangt und im Rahmen des Strafverfahrens gewährt werden kann, welche zur jeweiligen Prozedur gehören. Möchten die Parteien in andere Akten Einsicht nehmen, so müssen diese erst zur Prozedur beigezogen werden. Das Gesuch um Einsicht in die Journale stellt daher formell ebenfalls einen Beweisantrag auf Beizug dieser Akten dar. Die Frage der Einsicht in diese Akten stellt sich nämlich erst dann, wenn sie zur Prozedur beigezogen worden sind und Bestandteil davon bilden.
Lehnt die Verfahrensleitung einen Beweisantrag (bspw. auf Beizug von Akten) ab, so teilt sie dies den Parteien mit kurzer Begründung mit. Dies ist mit Schreiben vom 1. Mai 2013 erfolgt. Die Beschwerde ist nicht zulässig gegen die Ablehnung eines Beweisantrages durch die Staatsanwaltschaft, wenn der Antrag ohne Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht wiederholt werden kann (Art. 394 lit. b StPO). Entsprechende Rechtsnachteile werden weder geltend gemacht, noch sind solche ersichtlich. Damit aber ist die Beschwerde gegen das Schreiben vom 1. Mai 2013 nicht zulässig und es ist dementsprechend darauf nicht einzutreten.
Entscheid Nr. AK.2013.118 der Anklagekammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 18. Juni 2013
Gerichte des Bundes aktuell
Einbürgerung der unehelichen Töchter
Das Bundesgericht bestätigt die erleichterte Einbürgerung der zwei ausserehelichen Töchter eines Türken im Kanton Solothurn. Die Kinder leben in der Türkei und waren noch nie in der Schweiz. Gegen die erleichterte Einbürgerung machte der Kanton erfolglos ein «hochgradig rechtsmissbräuchliches» Verhalten des Vaters geltend, der seine eigene Einbürgerung seiner mittlerweile geschiedenen Ehe mit einer Schweizerin verdankt und bereits zu Zeiten dieser Ehe ein Kind in der Türkei hatte. Das Bundesgericht erinnert daran, dass das Bürgerrecht infolge Kindesanerkennung seit 2006 von Gesetzes wegen voraussetzungslos erteilt wird. Eine besondere Vertrautheit mit den hiesigen Lebensgewohnheiten und Sitten sei nicht nötig. Und der behauptete Rechtsmissbrauch sei nie vertieft abgeklärt worden und ergo nicht nachgewiesen.
1C_317/2013 vom 8.8.2013
Anspruch auf Nachzug des Ehegatten
Ausländische Personen mit einer blossen Aufenthaltsbewilligung können einen absoluten Anspruch auf Nachzug ihres Ehegatten haben. Art. 44 AuG sieht vor, dass ihnen der Nachzug des Ehegatten erlaubt werden «kann». Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung ist in öffentlicher Beratung zum Schluss gekommen, dass aus diesem «kann» in gewissen Situationen ein «muss» wird. Laut Gericht ergibt sich ein solcher unbedingter Anspruch auf Nachzug direkt aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens gemäss Artikel 8 EMRK. Ein solcher Fall liegt grundsätzlich vor bei einem anerkannten Flüchtling aus Eritrea, der erst nach seiner Flucht in die Schweiz eine Landsfrau geheiratet hat, die sich im Sudan aufhält. Weil dem Paar ein Zusammenleben weder im Sudan noch in Eritrea zuzumuten ist, müsste der Nachzug der Ehefrau bewilligt werden. Im konkreten Fall wurde die Bewilligung indes zu Recht verwehrt, weil das Paar in der Schweiz sozialhilfeabhängig wäre.
2C_983/2012 vom 5.9.2013; schriftliche Begründung steht aus
Verdeckt islamfeindliche Initiative ungültig
Die Thurgauer Initiative «Gegen frauenfeindliche, rassistische und mörderische Lehrbücher» ist zu Recht für ungültig erklärt worden. Der eigentliche Initiativtext ist nach Ansicht des Bundesgerichts zwar unproblematisch, ja geradezu banal. Allerdings kann die dazugehörende Begründung des Initiativkomitees nicht ausgeblendet werden: Demnach soll verhindert werden, dass Schulkindern der Inhalt des Korans oder anderer Sakralschriften des Islams vermittelt wird. Der Ausschluss bestimmter Lehrbücher bezieht sich laut Gericht damit einzig auf den Islam. Diese gewollte Einseitigkeit verstösst gegen das Gebot der staatlichen Neutralität in religiösen Angelegenheiten und gegen das Diskriminierungsverbot.
1C_127/2013 vom 28.8.2013; schriftliche Begründung ausstehend
Ex-Partner haftet nicht für Sozialhilfeleistungen
Der Schweizer Ex-Partner einer Frau aus Thailand muss gegenüber den Fürsorgebehörden nicht für die von ihr nach der Trennung bezogenen Sozialhilfeleistungen geradestehen. Er hatte gegenüber der Fremdenpolizei bei einer Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung seiner Freundin ein Formular unterschrieben, mit dem er sich verpflichtete, für ihren Lebensunterhalt in der Schweiz aufzukommen. Nach der Trennung bezog die Frau Sozialhilfeleistungen von rund 24 000 Franken. Die Fürsorgebehörden verpflichteten den Mann zur Rückerstattung. Laut Bundesgericht zu Unrecht. Gemäss der I. sozial-rechtlichen Abteilung durfte er davon ausgehen, dass ihn seine Erklärung nur für die Dauer der seinerzeit erteilten Aufenthaltsbewilligung von einem Jahr verpflichtete. Die weiteren Aufenthaltsbewilligungen nach der Trennung seien ohne seinen Einbezug erteilt worden.
8C_664/2012 vom 27.8.2013
Streit um LSVA-Erhöhung beendet
Das Bundesgericht hat dem Rechtsstreit um die Erhöhung der LSVA ein Ende gesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht war im Oktober 2012 zum Schluss gekommen, dass die Erhöhung der LSVA 2009 nicht mit dem Kostendeckungsprinzip zu vereinbaren sei, weil die dem Schwerverkehr anzurechnenden Stauzeitkosten zu hoch veranschlagt worden seien. Laut den Richtern in Lausanne sind ihre Kollegen in der Ostschweiz von früheren höchstrichterlichen Vorgaben abgewichen. Die verwendeten Berechnungsmodelle seien mit gesetzlichen Wertungen und den Vorgaben des Bundesgerichts nicht zu vereinbaren.
2C_1163/2012 vom 8.8.2013
Bei Faxeingaben ist der Formmangel zu rügen
Per Fax eingereichte Einsprachen gegen Strafbefehle (Art. 354 StPO) sind laut Bundesstrafgericht nicht rechtsgenügend, weil dabei das Erfordernis der Schriftlichkeit nicht erfüllt ist. Die betroffene Staatsanwaltschaft ist jedoch in solchen Fällen verpflichtet, betroffene Personen unverzüglich auf den Formmangel hinzuweisen, falls eine formgültige Einsprache während der zehntägigen Frist noch erhoben werden kann. Ob eine solche Hinweispflicht auch bei anwaltlich vertretenen Personen besteht, lässt das Gericht offen.
BB.2013.27 vom 13.8.2013
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
- Das baselstädtische Verbot von bedienten Fumoirs in Gaststätten kollidiert nicht mit den bundesrechtlichen Regelungen zum Schutz vor Passivrauchen. Wo sich der Gesundheitsschutz der Konsumenten vor den negativen Folgen des Passivrauchens nicht von denjenigen des Personals unterscheiden lässt, verbleibt den Kantonen eine ergänzende Regelungskompetenz.
2C_912/2012 vom 7.7.2013
- Für die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung gegenüber dem nicht sorgeberechtigten ausländischen Elternteil ist gemäss Art. 50 AuG eine besonders intensive affektive Beziehung zum Kind bereits dann zu bejahen, wenn der persönliche Kontakt im Rahmen eines nach heutigem Massstab «üblichen» Besuchsrechts (kontinuierlich und reibungslos) ausgeübt wird.
2C_1112/2012 vom 14.6.2013
- Bündner Kinder, die in einem Pilotversuch in Rumantsch Grischun eingeschult wurden, müssen auch den Rest ihrer Schulzeit in dieser Sprache absolvieren. Die lokalen Minderheiten haben aufgrund der aktiven Seite der Sprachenfreiheit von Art. 18 BV zwar einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Verwendung des Idioms. Was die passive Seite betrifft, ist dem grundrechtlichen Anspruch Genüge getan, wenn der Schulunterricht in romanischer Sprache geführt wird.
2C_806/2012 vom 12.7.2013
- Das Bundesgericht relativiert die Bedeutung des Entscheides des EGMR im Fall «Udeh vs. Schweiz» (Aufenthaltsrecht für straffälligen Nigerianer mit Kindern in der Schweiz). Personen in vergleichbarer Situation können aus dem Entscheid keine weitergehenden Rechte zu ihren Gunsten ableiten. Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung kritisiert in ungewohnt klaren Worten, dass der EGMR Umstände berücksichtigt hat, die erst nach der Beurteilung durch das Bundesgericht eingetreten sind.
2C_365/2013 vom 30.8.2013
- Die Importfirma eines möglicherweise defekten Feuerlöschers muss die vor rund fünf Jahren in Verkehr gebrachten Geräte nun doch nicht zurückrufen (Aufhebung einer vom Bundesverwaltungsgericht bestätigten Anordnung): Die Rückrufaktion wäre heute unverhältnismässig, da sicherheitsbewusste Besitzer das Gerät inzwischen bereits zur Revision gebracht haben und die anderen auf eine erneute Warnung ohnehin nicht reagieren würden.
2C_13/2013 vom 5.9.2013
Zivilrecht
- Die Klage auf Verwandtenunterstützung (Art. 328 und 329 ZGB) einer volljährigen Person ist im ordentlichen (Art. 219 ff ZPO) und nicht im vereinfachten Verfahren (Art. 243 ff ZPO) zu behandeln.
5A_689/2012 vom 3.7.2013
- Trifft der Kostenvorschuss nicht rechtzeitig (gemäss Art. 143 Abs. 3 ZPO) ein, muss das Gericht den Vorschusspflichtigen zum Nachweis auffordern, dass der Betrag am letzten Tag der Frist seinem Post- oder Bankkonto belastet wurde.
5D_101/2013 vom 26.7.2013
- Bei der Anfechtung eines Entscheides infolge eines manifesten Verfahrensmangels, der für sich allein zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils führen muss, hat die bedürftige Gegenpartei in der Regel mangels Erfolgsaussichten keinen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege (Art. 117 ZPO).
4A_314/2013 vom 6.8.2013
- Im Gesuchsverfahren um unentgeltliche Rechtspflege darf der Gegenpartei des Hauptverfahrens keine Parteientschädigung für ihre fakultative Stellungnahme zugesprochen werden. Die einem Kläger vom Zürcher Obergericht auferlegte Gerichtsgebühr von 12 000 Franken für einen Nichteintretensentscheid infolge unbezahltem Kostenvorschuss ist angesichts des geringen Aufwandes nicht vertretbar und wird vom Bundesgericht auf 2000 Franken reduziert.
4A_237/2013 vom 8.7.2013
- Beim Rückzug der Scheidungsklage sind die Kosten gemäss Art. 106 Abs. 1 ZPO grundsätzlich der klagenden Partei aufzuerlegen und nicht gemäss Art. 107 ZPO Abs. 1 nach Ermessen des Gerichts zu verteilen.
5A_352/2013 vom 22.8.2013
- Zur Klärung der Frage, in welchem Umfang ein ungemessenes Wegrecht beansprucht werden kann, dürfen auch öffentlich-rechtliche Vorgaben oder die Empfehlungen der Vereinigung der Schweizerischen Strassenfachleute berücksichtigt werden. Im konkreten Fall hat das berechtigte Grundstück Anspruch darauf, dass der Zufahrtsweg von 2,3 Metern Breite seitliche Bankette von 20 Zentimetern aufweist.
5A_66/2013 vom 29.8.2013
- Der Scheidungsrichter hat den Unterhalt für das Kind grundsätzlich (und nicht nur im Einzelfall) auch für die Zeit nach Erreichen der Volljährigkeit festzulegen (Art. 133 Abs. 1 Satz 2 ZGB). Dem Kind soll so erspart werden, später gerichtlich gegen einen Elternteil vorgehen zu müssen. Der verpflichtete Elternteil muss nötigenfalls über eine Abänderungsklage (Art. 286 ZGB) eine Anpassung erreichen.
5A_808/2012 vom 29.8.2013
- Nach der Konkurseröffnung können die Hinderungsgründe von Art. 174 Abs. 2 SchKG (Zahlungsfähigkeit und u.a. Tilgung der Schuld) nur während der laufenden Rechtsmittelfrist berücksichtigt werden (Bestätigung der Rechtsprechung zur alten Fassung von Art. 174 SchKG).
5A_258/2013 vom 26.7.2013
- Der deutsche Angestellte einer Bäckerei in Kabul kann sich gegenüber der Betreiberfirma mit Sitz im Kanton Glarus nicht auf das ArG berufen. Dessen Bestimmungen können nicht über Art. 342 Abs. 2 OR Geltung erlangen, welcher die privatrechtlichen Wirkungen von öffentlich-rechtlichen Vorschriften regelt.
4A_103/2013 vom 11.9.2013
Sozialversicherungsrecht
- Der im ATSG vorgesehene Fristenstillstand von sieben Tagen an Ostern (Art. 38 Abs. 4 lit. a i.V.m. Art. 60 Abs 2 ATSG) gilt vom Ostersonntag aus gerechnet und nicht vor Karfreitag und nach Ostermontag.
9C_525/2013 vom 23.9.2013
- Die Überprüfung von IV-Renten für organisch nicht nachweisbare Beeinträchtigungen (gemäss Art. 4 Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 darf keine Überprüfung stattfinden, wenn die betroffene Person bei Einleitung der Überprüfung bereits seit mehr als 15 Jahren eine IV-Rente bezogen hat), bestimmt sich nach dem Beginn der Rentenberechtigung und nicht dem Datum der rechtskräftigen Rentenverfügung.
8C_324/2013 vom 29.8.2013
- Kinderlose Frauen unter 45 haben keinen Anspruch auf eine Witwenrente, selbst wenn sie ihren verstorbenen Gatten bis zum Tod gepflegt haben (Art. 23 und 24 AHVG). Der klare Wortlaut des Gesetzes lässt keine Ausweitung der Anspruchsberechtigung zu. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 und 14 EMRK sind nicht verletzt.
9C_400/2013 vom 23.9.2013
Strassburg aktuell
Exzessive polizeiliche Härte bei Personenkontrolle
Erstmals hat der Gerichtshof die Schweiz wegen Verletzung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) verurteilt. Grund war polizeiliche Gewaltanwendung bei einer 2005 durchgeführten Identitätsüberprüfung. Nach Darstellung der beiden Polizisten hatte der auf einem Drogenumschlagplatz angehaltene Mann aus Burkina Faso seine Papiere nicht gezeigt, trotz mehrfacher Aufforderung seine brennende Zigarette nicht weggeworfen und einen Fluchtversuch unternommen. Nachdem ihn die Beamten zu Boden geworfen hatten, biss er einen der Beamten in den Arm.
Nach Darstellung des 1975 geborenen Kalifa Dembele wurde er rassistisch beschimpft und körperlich misshandelt. Bei der Auseinandersetzung brach Dembeles Schlüsselbein. Laut Staatsanwalt war nicht ein Schlag die plausibelste Ursache der Fraktur, sondern ein Sturz. Da die Zwangsausübung gerechtfertigt und verhältnismässig gewesen sei, bestätigte die Genfer Anklagekammer die Einstellung des Strafverfahrens gegen die Polizisten. Das Bundesgericht wies Dembeles Beschwerde am 14. September 2011 ab (Urteil 1B_105/2011).
Der EGMR betrachtet die Gewaltanwendung jedoch mit 6:1 Stimmen als exzessiv. Zwangsmassnahmen waren zwar im Grundsatz gerechtfertigt, weil sich Dembele der Polizeiaktion physisch widersetzt hatte. Ungeachtet der genauen Ursache des Schlüsselbeinbruchs war die Härte des polizeilichen Einsatzes aber übertrieben. Der unbewaffnete Mann habe zumindest in den ersten Phasen des Vorfalls keinen Versuch unternommen, die Polizisten anzugreifen. Sein beharrlicher Widerstand sei vielmehr passiver Art gewesen. Er wurde erst tätlich, nachdem ihn die Polizisten zu Boden geworfen hatten. Der vorherige Einsatz von Polizeiknüppeln war daher nicht berechtigt.
Nach Ansicht der Kammermehrheit (5:2 Stimmen) wurde Art. 3 EMRK auch in formeller Hinsicht verletzt. Die Abklärungen der schweizerischen Behörden seien angesichts der geringen Komplexität der Angelegenheit nicht schnell und sorgfältig genug erfolgt. Ihre Beweisaufnahme war ungenügend, zumal sie kein Gegengutachten zur zentralen Frage des beim Einsatz zerbrochenen Schlagstocks einholten.
In ihrer abweichenden Meinung begründet die Schweizer Richterin Helen Keller auf sechs Seiten, weshalb die schweren Vorwürfe gegen die Schweiz unberechtigt seien. Die Behörden hätten eine absolut plausible Begründung für den Schlüsselbeinbruch geliefert. Zudem konnten die Polizisten nicht wissen, dass Dembele unbewaffnet war. Zwecks Fluchtverhinderung und Überprüfung von Waffenbesitz sei es absolut zwingend gewesen, ihn am Boden zu fixieren. Auch der Verzicht auf weitere Abklärungen sei konventionskonform: Die polizeiliche Hypothese eines Fabrikationsfehlers beim Schlagstock ist nach Kellers Auffassung plausibel, zumal die von Dembele behaupteten brutalen Schläge sichtbare Spuren hätten hinterlassen müssen.
Der Gerichtshof verpflichtet die Schweiz zur Bezahlung von 15 700 Euro Schadenersatz (Dembele verlor nach dem Vorfall seinen Job) und 4000 Euro Genugtuung.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 74010/11 «Dembele c. Schweiz» vom 24.9.2013
Zürcher Behörden durften Fluchtgefahr annehmen
Ein kroatisch-schweizerischer Doppelbürger hat sich in Strassburg vergeblich gegen seine Inhaftierung beschwert. Er wurde im September 2011 wegen Verdachts der Schändung von elf Patientinnen festgenommen, worauf das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Zürich Untersuchungshaft anordnete.
Das Bundesgericht bejahte im Urteil 1B_4/2013 vom 23.1.2013 den Haftgrund der Fluchtgefahr (Art. 221 Abs. 1 StPO), zumal Kroatien eigene Staatsangehörige nicht ausliefert. Der EGMR verneint einstimmig, dass diese Überlegung diskriminierend und spekulativ ist. Das Bundesgericht habe die Fluchtgefahr nicht mit der Nationalität begründet, sondern mit dem regelmässigen und intensiven Kontakt des 2008 eingebürgerten Mannes mit der ursprünglichen Heimat.
Das Bundesgericht lehnte auch mildere Ersatzmassnahmen (wie eine Kaution oder eine elektronische Fussfessel) ab, denn diese «könnten wohl höchstens dazu beitragen, dass eine allfällige Flucht frühzeitig entdeckt würde.» Auch dies war nach einhelliger Ansicht des EGMR konventionskonform.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 30138/12 «Bolech c. Schweiz» vom 29.10.2013
EGMR urteilt gegen Berner Anwalt
Im Rahmen einer vom Bundesgericht zu beurteilenden Mietstreitigkeit (4P.317/2005 vom 14.2.2006) behauptete der Mieter, er habe die Eingaben der beklagten Vermieterin und des bernischen Appellationshofs nicht zur Stellungnahme erhalten. Der Gerichtshof verneint einstimmig eine Verletzung der prozessuale