Zivilrecht
Balkongeländer ist gemeinschaftlicher Teil des Stockwerks
Auch Stockwerkeigentümer mit Einheiten ohne Balkone oder Balkongeländer können bei Sanierungen kostenpflichtig werden.
Sachverhalt:
Am 15. November 2016 fand in Anwesenheit aller Stockwerkeigentümer eine ausserordentliche Stockwerkeigentümerversammlung statt. An dieser Versammlung wurde unter Traktandum 4 über die Kostenverteilung der geplanten Balkonsanierung abgestimmt. Die Klägerin liess sich durch ihren Geschäftsführer vertreten. Nachdem sich die Klägerin weigerte, Kosten für die Balkonsanierung mit zu übernehmen, verliess ihr Vertreter die Versammlung, bevor ein Beschluss gefasst werden konnte.
Die übrigen anwesenden Stockwerkeigentümer beschlossen einstimmig, die Sanierungskosten nach Wertquoten zu verteilen. Die Klägerin reichte Klage gegen die Stockwerkeigentümergemeinschaft ein und beantragte, der Beschluss sei für ungültig zu erklären und aufzuheben. Die Vorinstanz wies die Klage ab. Das Kantonsgericht wies die dagegen erhobene Berufung ab und bestätigte das vorinstanzliche Urteil.
Aus den Erwägungen:
2.3.1 Zu prüfen ist, ob die geplanten Sanierungsarbeiten unter den Begriff «Unterhalt» im Sinne von Art. 5 und 16 des Reglements zu subsumieren sind und ob die entstehenden Kosten folglich von denjenigen Stockwerkeigentümern zu tragen sind, in deren Nutzungsrecht die Balkone stehen. Neben Art. 5 und Art. 16 des Reglements ist überdies Art. 10 des Reglements zu beachten, wonach der Unterhalt von den betreffenden Stockwerkeigentümern auf eigene Kosten vorzunehmen ist.
Die Vorinstanz führte aus, die Pflicht zum laufenden Unterhalt und zur Wahrung des äusseren Erscheinungsbilds erscheine als logische Folge, wenn die einzelnen Stockwerkeigentümer faktisch ein ausschliessliches Nutzungsrecht an Balkonen oder Terrassen besässen. Darunter würden das Reinigen oder auch die Übernahme kleiner Ausbesserungen und Erneuerungen fallen, solange diese als gewöhnliche Verwaltungshandlungen gemäss Art. 647a Abs. 1 ZGB qualifiziert werden könnten. Als Unterhalt im Sinne des Reglements würden bauliche Massnahmen von derart untergeordneter Bedeutung gelten, dass sie keine wesentlichen (finanziellen oder anderen) Auswirkungen auf die Gemeinschaft hätten.
Die Klägerin wendet dagegen ein, unter «Unterhalt» würden nicht nur der Unterhalt im eigentlichen Sinn, sondern auch Wiederherstellungs- und Erneuerungsarbeiten fallen. Es ist zwar zutreffend, dass diese Arbeiten auch unter den Begriff «Unterhalt» fallen können. Dies muss jedoch nicht bedeuten, dass die Erneuerung eines Balkongeländers auch unter diesen Begriff fällt. Wie die Vorinstanz zu Recht festhielt, können nur untergeordnete Arbeiten unter den Begriff «Unterhalt» subsumiert werden. Die Sanierung bzw. der Austausch der Balkongeländer, was das Erscheinungsbild des Gebäudes massgebend verändert, kann nicht als untergeordnet in diesem Sinne bezeichnet werden. Das Äussere des Balkongeländers gilt zwingend als gemeinschaftlicher Teil des Stockwerkeigentums.
Die Vorinstanz stellte zutreffend fest, dass die Übertragung der Benutzungsrechte, so wie es Art. 16 des Reglements vorsieht, dem berechtigten Stockwerkeigentümer nicht die Befugnis zur baulichen Ausgestaltung verleiht. Die Art. 647c ff. ZGB bleiben anwendbar. Die vorliegende Sanierung geht über die Wahrung des bisherigen Zustandes und des Aussehens im Sinne des «Unterhalts» hinaus. Der Austausch des bestehenden Balkongeländers hat offenkundig eine Änderung des Aussehens des Gebäudes zur Folge.
Die Klägerin verkennt, dass die Sanierung der Balkongeländer gerade nicht unter Art. 16 des Reglements subsumiert werden kann. Deshalb regelt diese Bestimmung auch nicht, ob die Sanierungskosten vom sondernutzungsberechtigten Stockwerkeigentümer zu tragen sind. In diesem Sinne ist die Argumentation der Klägerin nicht stichhaltig. Es ist mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass es sich bei der geplanten Sanierung entgegen den Ausführungen der Klägerin nicht um Unterhalt im Sinne von Art. 5 und 16 des Reglements handelt, welcher von den einzelnen Stockwerkeigentümern selber zu bezahlen wäre. Die Sanierungsarbeiten sind als gemeinschaftliche Kosten zu qualifizieren, weshalb die Kostentragungspflicht des Benützungsberechtigten entfällt.
Zusammenfassend können die Sanierungsarbeiten an den Balkonen entgegen der Auffassung der Klägerin nicht unter den Begriff «Unterhalt» subsumiert werden, weshalb die diesbezüglichen Kosten nicht von den einzelnen Stockwerkeigentümern zu tragen, sondern als gemeinschaftliche Kosten der Gemeinschaft anzulasten sind. Der angefochtene Entscheid widerspricht damit weder dem Reglement noch anderen Gesetzesbestimmungen.
3.3.1 Gemäss Art. 712h Abs. 1 ZGB haben die Stockwerkeigentümer die Beiträge an die gemeinschaftlichen Kosten und Lasten nach Massgabe ihrer Wertquote zu leisten (sog. quotenproportionale Verteilung). Art. 712h Abs. 3 ZGB verpflichtet die Stockwerkeigentümer, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass bestimmte gemeinschaftliche Teile keinen objektiven Nutzen für einen Stockwerkeigentümer aufweisen. Es handelt sich dabei um eine Schutzbestimmung, welche Anwendung findet, wenn die wertquotenproportionale Aufteilung von gewissen gemeinschaftlichen Kosten oder Lasten schlechthin unbillig erscheint. Die Bestimmung von Art. 712h Abs. 3 ZGB ist zwingender Natur, so dass ein dagegen verstossender Versammlungsbeschluss in der Regel nichtig ist (BGE 117 II 251, E. 5b; Bösch, a.a.O., Art. 712h ZGB N 8; Wermelinger, a.a.O., Art. 712h ZGB N 95 f.).
3.3.2 Weil die Kostenverteilung gemäss Art. 5 i.V.m. Art. 16 des Reglements vorliegend keine Anwendung findet, ist zu prüfen, ob Art. 712h Abs. 3 ZGB einschlägig ist. Wie bereits ausgeführt, bilden die Balkone einen Bestandteil der Fassade, bestimmen damit die äussere Erscheinung des Gebäudes und sind deshalb zwingend gemeinschaftliche Bauteile im Sinne von Art. 712b Abs. 2 Ziff. 2 ZGB (vgl. E. 2.3.2). Die Kosten der Sanierung sind damit gemeinschaftliche Kosten und grundsätzlich von allen Stockwerkeigentümern nach ihrer Wertquote zu tragen (vgl. Art. 712h Abs. 1 ZGB).
Die Bestandteile der Fassade bestimmen als Einheit die äussere Gestalt des Gebäudes. Die Balkongeländer weisen rostige Nägel auf und sind objektiv betrachtet veraltet. Die losen Schrauben stellen überdies ein sicherheitstechnisches Problem dar. Die Sanierung des Balkongeländers würde dem Gebäude ein besseres Erscheinungsbild verleihen. Die Wiederherstellung bzw. Einhaltung der Sicherheitsstandards werten das Grundstück zudem auf und der Ersatz der Balkongeländer dient der Werterhaltung des Gebäudes. Von einer Aufwertung des Erscheinungsbilds sowie der Werterhaltung des Gebäudes profitiert folglich auch die Klägerin. Bauliche Massnahmen zur Werterhaltung der Liegenschaft dienen allen Stockwerkeigentümern und es rechtfertigt sich deshalb, die Kosten nach Wertquoten zu verteilen. Die Klägerin verkennt in diesem Zusammenhang die Funktion der Balkone als Fassadenelemente, die es zu erhalten und dem Sicherheitsstandard anzupassen gilt. Auch deshalb hat die Klägerin nach objektiver Betrachtung einen Nutzen aus der Sanierung der Balkongeländer. Die Vorinstanz ist zu Recht davon ausgegangen, dass Art. 712h Abs. 3 ZGB keine Anwendung findet.
Entscheid 1B 18 32 des Kantons-gerichts Luzern vom 8.2.2019
Zivilprozessrecht
Keine Zustellfiktion bei Fristverlängerung durch die Post
Bei der Zustellung eines eingeschriebenen Briefs ist es gemäss den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post möglich, die Abholfrist zu verlängern – anders als bei der Zustellung einer Gerichtsurkunde. Die Unvereinbarkeit der -Bestimmungen von Post und Prozessrecht darf sich für Laien nicht nachteilig auswirken.
Sachverhalt:
Ein Betreibungsamt versandte eine Verfügung mit Einschreibebrief. Die Adressatin ersuchte die Post via Internet um Verlängerung der Abholfrist und holte die Sendung innert der verlängerten Frist ab. Die Vorinstanz ging davon aus, die zu wahrende Frist habe mit Ablauf des siebten Tages nach Avisierung der Empfängerin durch die Post zu laufen begonnen und sei ungenutzt verstrichen. Das Obergericht Zürich widerspricht.
Aus den Erwägungen:
4.1 Eine Postsendung gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellversuch als zugestellt, sofern der Adressat mit einer Zustellung rechnen musste (vgl. Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO). Diese Zustellfiktion rechtfertigt sich, weil für die an einem Verfahren Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die Pflicht besteht, dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akte eröffnet werden können. Die Rechtsprechung gilt während eines hängigen Verfahrens, wenn die Verfahrensbeteiligten mit der Zustellung eines behördlichen oder gerichtlichen Entscheides oder einer Verfügung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit rechnen müssen (vgl. etwa BGE 138 III 225, E. 3.1.). Sie gilt auch in nichtgerichtlichen Verfahren des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts (OGer ZH, vom 24. Oktober 2016, PS160154, E. 3.5).
4.3. Bei einer Zustellung mit eingeschriebenem Brief ist es aber gemäss den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post – anders als bei der Zustellung als Gerichtsurkunde – möglich, die Abholfrist zu verlängern, obwohl die ZPO dies im Hinblick auf die Zustellfiktion nicht zulässt (vgl. Ziff. 2.3.1 AGB Post «Meine Sendungen» und Art. 138 Abs. 3 ZPO). Die Systeme der ZPO und der Post sind in diesem Bereich nicht aufeinander abgestimmt, was zu einem Auseinanderklaffen von Abholfrist und Zustellfiktion führen kann.
Die Frage, wie lange eine Sendung bei der Post abgeholt werden kann, hat zwar grundsätzlich keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Eintritts der gesetzlichen Zustellfiktion (vgl. BGE 141 II 429, E. 3.1.). Nach der Rechtsprechung kann allerdings selbst von einem Juristen, der nicht Anwalt und auch nicht anwaltlich vertreten ist, nicht verlangt werden, die Unterscheidung zwischen dem Ende der postalischen Abholfrist und dem Ende der Legalfrist betreffend Zustellfiktion zu kennen (vgl. BGer 5A_211/2012 vom 25. Juni 2012, E. 1.3. m.w.H.). Im Falle des Versands mittels eingeschriebener Postsendung kommt hinzu, dass aus der Abholungseinladung nicht ersichtlich ist, ob es sich um ein gewöhnliches Schreiben oder eine fristauslösende Gerichtsurkunde handelt. Damit ist es für den Empfänger der eingeschriebenen Postsendung auch nicht erkennbar, ob bei einer Verlängerung der Abholfirst die Gefahr einer Zustellfiktion droht. Gibt daher die Post – als Hilfsperson des Gerichts – einem juristischen Laien die Erlaubnis, die Abholfrist einer eingeschriebenen Postsendung zu verlängern, darf diesem unter Vertrauensschutzgesichtspunkten aus dem Auseinanderklaffen des Datums der Zustellfiktion und des letzten Tages der postalischen Abholfrist kein Nachteil erwachsen.
4.4. Die Sendung wurde der Beschwerdeführerin am 27. Februar 2019 zur Abholung gemeldet. Als Abholfrist wurde der 6. März 2019 angegeben. Am 6. März 2019 verlängerte die Beschwerdeführerin die Abholfrist bis zum 27. März 2019, an welchem Tag sie die Sendung schliesslich abholte. Da die Beschwerdeführerin mit Zustellungen rechnen musste, gilt die Sendung grundsätzlich am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt (vgl. etwa BGE 141 II 429, E. 3.1). Die Frist zur Erhebung der Beschwerde begann folglich am 7. März 2019 zu laufen und endete – da der 16. März 2019 ein Samstag war – am Montag, 18. März 2019. Damit war die Beschwerdeerhebung am 6. April 2019 objektiv verspätet.
Da die Post der Beschwerdeführerin aber die Möglichkeit einräumte, die Abholfrist bis zum 27. März 2019 online zu verlängern, muss die Beschwerde aus Gründen des Vertrauensschutzes dennoch als rechtzeitig entgegengenommen werden, zumal die Beschwerdeführerin die Beschwerde innert der zehntägigen Frist seit Zustellung der Verfügung erhob und Anhaltspunkte für einen (offensichtlichen) Rechtsmissbrauch fehlen. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen, der Beschluss der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur Durchführung des Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Obergericht Zürich, II. Zivilkammer, Beschluss PS190081-O/U vom 17.6.2019
Gerichtsschreiber abwesend – Urteil aufgehoben
Die fehlende Mitwirkung des gemäss kantonalem Recht über eine beratende Stimme und ein Antragsrecht verfügenden Gerichtsschreibers stellt eine Verletzung des Anspruchs auf ein richtig besetztes Gericht da. Das führt zur Aufhebung des betreffenden Entscheids.
Sachverhalt:
Nach erfolglosem Schlichtungsverfahren über arbeitsvertragliche Ansprüche reichte der Kläger Klage ein. Das Gericht trat in der Folge wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung auf die Klage insgesamt nicht ein. Dagegen erhob der Kläger Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
III. 2. a) Bei Betrachtung des angefochtenen Entscheids sticht ins Auge, dass dem vorinstanzlichen Spruchkörper gemäss Rubrum zwar drei Richter der 2. Abteilung, jedoch kein Gerichtsschreiber bzw. keine Gerichtsschreiberin angehörten. Des Weiteren wurde der vorinstanzliche Entscheid auch nicht von einem Gerichtsschreiber oder einer Gerichtsschreiberin unterzeichnet, sondern trägt neben der Unterschrift des Vorsitzenden diejenige eines weiteren am Entscheid beteiligten Richters. In diesem Zusammenhang ist – obschon der Kläger in seiner (Laien-)Berufung keine diesbezügliche Beanstandung vorbrachte – zu prüfen, ob die Anforderungen an eine gehörige Besetzung des Gerichts erfüllt und die Formvorschriften eingehalten wurden.
b/aa) Nach Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Art. 30 Abs. 1 BV gewährleistet insbesondere die gehörige Besetzung des Gerichts nach den geltenden Vorschriften. Das Gericht muss richtig zusammengesetzt sein und in vollständiger Besetzung und ohne Mitwirkung Unbefugter entscheiden (BGE 137 I 340, E. 2.2.1; BGE 129 V 196, E. 4.1; BGE 127 I 128, E. 4b; BGE 125 V 499, E. 2a; Steinmann, St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Art. 30 BV N 12). Der Anspruch gemäss Art. 30 Abs. 1 BV ist formeller Natur, womit seine Verletzung ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führt (BGE 142 I 93).
Nach der Rechtsprechung sind die Garantien von Art. 30, Abs. 1 BV auch auf die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber einer richterlichen Behörde anwendbar, sofern sie an der Willensbildung des Spruchkörpers mitwirken. Dies ist der Fall, wenn sie im Hinblick auf ihre Redaktionstätigkeit an der Beratung teilnehmen und ihre Auffassung äussern können, weil sie so, auch wenn sie nicht stimmberechtigt sind, unter Umständen auf den Entscheid des Gerichts Einfluss nehmen können (BGE 125 V 499, E. 2b; BGE 124 I 255, E. 4c; BGer 5A_462/2013, E. 3.2; BGer 5A_523/2014, E. 2.2).
bb) Für den Kanton St. Gallen bestimmt Art. 67 Abs. 1 lit. b Gerichtsgesetz (GerG), dass die Gerichtsschreiberin oder der Gerichtsschreiber im Gericht beratende Stimme mit Antragsrecht hat, Protokolle führt und die Entscheide verfasst und damit zur gehörigen Besetzung des Kollegialgerichts gehört (hingegen Art. 67 Abs. 1 lit. c GerG für einzelrichterliche Zuständigkeit). Sie wirken an der Willensbildung des Spruchkörpers mit (vgl. BGer 9C_836/2008, E. 4.1).
Gemäss Art. 238 lit. h ZPO enthält ein Entscheid die Unterschrift des Gerichts. Wer den Entscheid im Namen des Gerichts zu unterzeichnen hat, bestimmt wiederum das kantonale Gerichtsorganisationsrecht (vgl. Art. 3 ZPO; BGer 5A_123/2018, E. 1.2.1; BGer 4A_184/2017, E. 2). Die für den Kanton St. Gallen massgebliche Regelung findet sich in Art. 29 Gerichtsordnung (GO).
Danach werden Entscheide des Kollegialgerichts von der vorsitzenden Richterin bzw. dem vorsitzenden Richter und der Gerichtsschreiberin bzw. dem Gerichtsschreiber unterzeichnet; bei Verhinderung des einen oder anderen unterschreibt stellvertretend eine Richterin oder ein Richter, die oder der beim Entscheid mitgewirkt hat. Mit der handschriftlichen Unterzeichnung wird einerseits die formelle Richtigkeit der Ausfertigung und deren Übereinstimmung mit dem vom Gericht gefassten Entscheid bestätigt.
Zugleich bezeugt die Unterschrift in authentischer Weise, dass die rubrizierten Gerichtspersonen tatsächlich am gefällten Entscheid mitgewirkt haben. Dies gilt einerseits für die Mitwirkung des Einzelrichters oder – beim Kollegialgericht – des zur Unterzeichnung befugten Gerichtsmitglieds, andererseits aber auch für den – in seiner Funktion mit beratender Stimme und Antragsrecht mitwirkenden – Gerichtsschreiber (BGer 2C_72/2016, E. 5.5.2).
cc) Das Fehlen der Unterschrift einer Gerichtsschreiberin/eines Gerichtsschreibers als solches führt hier zwar nicht zur Nichtigkeit des Entscheids, da die beim Kollegialgericht erforderliche zweite Unterschrift durch einen zweiten Richter erfolgte, wie es Art. 29 Abs. 2 GO grundsätzlich zulässt. Hier hat der zweite Richter allerdings nicht ausdrücklich stellvertretend («i.V.») für eine verhinderte Gerichtsschreiberin unterzeichnet, was aufzeigt, dass das Gericht nicht gehörig besetzt war, nachdem auch im Rubrum nebst den drei Richtern kein(e) Gerichtsschreiber(in) aufgeführt ist.
Es kann mithin ausgeschlossen werden, dass die Nennung und Unterzeichnung einer Gerichtsschreiberin bzw. eines Gerichtsschreibers bloss versehentlich unterblieben. Da nach dem Gesagten die fehlende Mitwirkung des – gemäss kantonalem Recht über beratende Stimme und Antragsrecht verfügenden – Gerichtsschreibers eine Verletzung des Anspruchs auf ein richtig besetztes Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) darstellt, hat dies die Aufhebung des betreffenden Entscheids nach sich zu ziehen (BGE 125 V 499 E. 3c; ZR 117, 2018, Nr. 28). Der angefochtene Entscheid ist folglich aus formellen Gründen aufzuheben und die Streitsache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Kantonsgericht St. Gallen, Entscheid BO.2018.26 vom 12.3.2019
Strafprozessrecht
Nur notwendige Privatgutachten werden entschädigt
Kosten, die durch Parteigutachten entstanden sind, müssen nur dann entschädigt werden, wenn sie zur Strafverteidigung nötig waren. Das bedingt, dass die Ergebnisse des privaten Gutachtens den -Endentscheid kausal beeinflussten.
Sachverhalt:
Der Beschuldigte war in einen Verkehrsunfall verwickelt und wurde vom Vorwurf des Nichtbeherrschens des Fahrzeugs infolge mangelnder Aufmerksamkeit letztinstanzlich freigesprochen (BGer-Urteil 6B_1294/2017 vom 19.9.2018). In der Folge war seine Entschädigung festzulegen.
Aus den Erwägungen:
4.2.1 Wird die beschuldigte Person freigesprochen, so hat sie Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte sowohl im Vor- wie im Gerichtsverfahren (vgl. Art. 429 Abs. 1 lit. a und Art. 436 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung. Dazu zählt im Regelfall auch die Entschädigung der Kosten für den Beizug einer Anwältin oder eines Anwalts (BGer-Urteil 6B_193/2017 vom 31.5.2017, E. 2.5).
Im Strafverfahren obliegt der Beweis der Strafbarkeit (Art. 10 StPO) und demzufolge auch die Sachverhaltsfeststellung, sowohl der belastenden und entlastenden Umstände (Art. 6 StPO), grundsätzlich den Strafbehörden. Ausnahmsweise kann sich die private Sachverhaltsermittlung für eine in das Strafverfahren involvierte Partei dann aufdrängen, wenn diese zutreffenderweise zur Überzeugung gelangt, die Staatsanwaltschaft berücksichtige ihre berechtigten Beweisanträge nicht oder komme dem gesetzlichen Auftrag in Art. 6 StPO nicht nach. Die Entschädigung der Aufwendungen, welche in Zusammenhang mit privaten Sachverhaltsermittlungen entstanden sind, kann daher dann angezeigt sein, wenn der Endentscheid kausal auf die privaten Ermittlungsergebnisse zurückzuführen ist. Ob vor diesem Hintergrund private Ermittlungen geboten sind, kann sich naturgemäss erst im Verlaufe eines Strafverfahrens zeigen, da am Anfang der Untersuchung noch nicht feststeht, ob die Strafbehörden dem Untersuchungsgrundsatz nachkommen und/oder den Beweisanträgen der Parteien entsprechen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur rechtlichen Ausgangslage zeigt sich, dass die Mehraufwendungen des Beschuldigten, welche in Zusammenhang mit den von ihm veranlassten Privatgutachten stehen, aus mehreren, nachfolgend dargelegten Gründen nicht zu entschädigen sind.
Der Beschuldigte hat das Privatgutachten am 20. März 2015, mithin kurz nach Verfahrenseröffnung, in Auftrag gegeben. Aus einem objektiven Standpunkt betrachtet, bestand zu diesem Zeitpunkt keine Veranlassung dazu, da damals noch nicht klar war, ob die Staatsanwaltschaft die – am 10. März 2015 anlässlich der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme bekanntgegebene – Arbeitshypothese der Strafbarkeit des Beschuldigten im Verlaufe des weiteren Verfahrens aufrechterhalten und welche weiteren Beweiserhebungen sie zur Feststellung des Sachverhalts veranlassen werde. Bis dahin hat die Staatsanwaltschaft auch keine Beweisanträge abgewiesen, da keine gestellt wurden. Es bestand mit anderen Worten im Zeitpunkt der Auftragserteilung des privaten Gutachtens keinerlei Veranlassung, anzunehmen, die Staatsanwaltschaft sei nicht gewillt, den Sachverhalt gemäss ihrem gesetzlichen Auftrag von Amtes wegen zu untersuchen. Bezeichnenderweise ordnete die – über die privaten Erhebungen nicht informierte – Staatsanwaltschaft am 17. Juni 2015 nach vorgängiger Anhörung des Beschuldigten selbst ein Gutachten über das Unfallgeschehen an. Der Beschuldigte seinerseits liess am 15. Juni 2015 (lediglich) verlauten, das (behördlich veranlasste) Gutachten sei nicht erforderlich und es sei davon abzusehen.
Die Redundanz der vom Beschuldigten veranlassten Privatgutachten offenbart sich aber auch nur schon dadurch, dass diese in den Grundzügen – wovon auch der Beschuldigte ausgeht – zu den gleichen Ergebnissen gelangten wie das von der Staatsanwaltschaft veranlasste Gutachten. Der Freispruch des Beschuldigten geht somit nicht kausal auf die von ihm veranlassten Privatermittlungen zurück. Der Beschuldigte hätte also die Sachverhaltsermittlung den gemäss StPO dazu verpflichteten Strafbehörden überlassen können, womit seine (Mehr-)Aufwendungen in diesem Zusammenhang zu seiner Verteidigung nicht erforderlich waren und daher auch nicht vom Staat zu entschädigen sind.
4.2.3.4 Der ordentliche Gebührenrahmen des Honorars der Verteidigung im bezirksgerichtlichen Einzelrichterverfahren beträgt 375 bis 3000 Franken. In Anbetracht der Tatsache, dass Verfahren wegen Verbrechen und Vergehen, bei denen bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe beantragt werden, unter denselben Gebührenrahmen fallen (vgl. § 35 Abs. 2 lit. b des Gesetzes über die Organisation der Gerichte und Behörden in Zivil-, Straf- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren) und dem Beschuldigten gemäss der Anklageschrift lediglich eine Übertretung vorgeworfen wurde, wobei nur eine geringfügige Busse beantragt wurde, rechtfertigt es sich, die Honorarnote des Verteidigers für die angemessenen und erforderlichen Handlungen des erstinstanzlichen Hauptverfahren ermessensweise auf 2000 Franken festzusetzen.
Kantonsgericht Luzern, Entscheid 2M 18 33 vom 4.2.2019
Sozialversicherungsrecht
Pensionskasse verwendete Mittel statutenwidrig
Die Stiftungsaufsicht des Kantons Zürich verpflichtete eine patronale Pensionskasse dazu, statutenwidrig ausbezahlte Gelder zurückzuverlangen. Zudem muss der Stiftungsrat in neuer Zusammensetzung über Genehmigung oder Aufhebung sämtlicher Beschlüsse seit 2009 entscheiden.
Sachverhalt:
Zwei pensionierte Destinatäre einer Vorsorgestiftung erhoben bei der Stiftungsaufsicht des Kantons Zürich Beschwerde gegen Beschlüsse des Stiftungsrats, der Leistungen an die Rentner aufgehoben und stattdessen entgegen der Zweckbestimmung der Statuten erhebliche Beträge in eine andere Pensionskasse des gleichen Arbeitgebers mit weit grösserem Versichertenkreis überweisen liess. Zudem machten die Beschwerdeführer geltend, der Stiftungsrat sei seit 2009 nicht mehr statutenkonform besetzt worden, weshalb die Aufsichtsbehörde die korrekte Zusammensetzung wiederherzustellen und zu prüfen habe, inwieweit allfällige Entscheide des Stiftungsrates aufzuheben seien.
Die Aufsichtsbehörde zieht in Erwägung:
I. Formelle Erwägungen
8. Die BVG-Aufsichtsbeschwerde betrifft inhaltlich den Aufgabenbereich der BVG und Stiftungsaufsicht des Kantons Zürich (BVS) als Aufsichtsbehörde. Im vorliegenden Verfahren geht es um die Frage der urkundenkonformen Mittelverwendung des Spezialfonds sowie die Zusammensetzung des Stiftungsrates. Da die Beschwerdeführer der Ansicht sind, das oberste Organ des Beschwerdegegners (Stiftungsrat) verhalte sich rechtswidrig, da es die Stiftungsmittel teilweise zugunsten unberechtigter Destinatäre der Pensionskasse verwendet und im Gegenzug Leistungen an berechtigte Destinatäre unter Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gestrichen habe, haben sie zu Recht den Weg der Beschwerde an die Aufsichtsbehörde beschritten.
II. Materielle Erwägungen
1.5. Aus der Gründungsurkunde vom 23. Oktober 1972 ergibt sich, dass die Stifterfirma des Spezialfonds die AG für die NZZ war. Seit der am 3. April 2003 verfügten Urkundenänderung wird in Art. 1.2 der Stiftungsurkunde als «Firma» nunmehr aber die NZZ AG genannt. Es stellt sich deshalb die Frage, welche der beiden Firmen im Rahmen der aktuellen Urkundenbestimmung von Art. 6.1 für die Besetzung des Stiftungsrates massgebend ist.
Gemäss dem klaren Wortlaut der genannten Bestimmung ist für die Besetzung des Stiftungsrates die zu Beginn der Urkunde als «Firma» bezeichnete NZZ AG massgebend.
1.6 Der Beschwerdegegner ist deshalb aufzufordern, umgehend für eine korrekte Zusammensetzung des obersten Organs zu sorgen. In der Folge hat der neue Stiftungsrat über die nachträgliche Genehmigung oder Aufhebung aller seit Ende Juli 2009 gefällten Stiftungsratsbeschlüsse zu entscheiden.
3.1 Ein Hauptkritikpunkt der Beschwerdeführer betrifft den Umstand, dass der Spezialfonds Leistungen an die Pensionskasse erbracht habe, deren Destinatärskreis weit über denjenigen des Spezialfonds hinausgehe, woraus sich die grösste Verwässerung ergebe. Sinngemäss machen sie geltend, dass aufgrund einer Einlage in die Pensionskasse für die Anpassung von deren technischen Parameter im Jahr 2015 sowie bereits schon im Jahr 2009 durch Beiträge an die Pensionskasse unzulässigerweise Mittel aus dem Spezialfonds abgeflossen seien.
3.5 Streitig und zu prüfen ist zunächst, ob die Rückstellung für die Anpassung der technischen Parameter in der Pensionskasse im Jahr 2014 bzw. deren Verwendung im Jahr 2015 eine urkundenkonforme und damit rechtmässige Verwendung von Stiftungsmitteln darstellt. Die Rückstellung im Jahr 2014 betrug 28 800 000 Franken. Laut Jahresrechnung 2015 Anhang Ziff. 6.6 wurde in der Folge ein Betrag von 27 492 501 Franken an die Pensionskasse übertragen. Dieser Betrag wurde gemäss den Ausführungen des Beschwerdegegners einerseits für Einmaleinlagen für die aktiven Versicherten der Pensionskasse zur Abfederung der dort beschlossenen Umwandlungssatzsenkung verwendet, wobei die Finanzierung dieser Einlagen nur für die aktiven Versicherten der Spezialfonds-Anschlussfirmen aus den Mitteln des Spezialfonds vorgenommen worden sei, während die Einlagen für die aktiven Versicherten der anderen Anschlussfirmen jeweils durch den Arbeitgeber finanziert worden seien. Weiter sei mit den aus dem Spezialfonds übertragenen Mitteln durch eine kollektive Zahlung die aufgrund der Senkung des technischen Zinssatzes der Pensionskasse per 31. Dezember 2015 notwendige Erhöhung des Vorsorgekapitals Rentner finanziert worden.
Es ergibt sich demnach, dass bei der Verwendung der übertragenen Mittel des Spezialfonds in der Pensionskasse zu Recht darauf geachtet wurde, dass keine Einlagen in die Altersguthaben derjenigen aktiven Versicherten erfolgten, welche nicht Destinatäre des Spezialfonds waren. Bei der Erhöhung der Rentnerdeckungskapitalien wurde jedoch keine Unterscheidung zwischen Destinatären und Nicht-Destinatären des Spezialfonds gemacht, denn es erfolgte offensichtlich eine kollektive Zahlung zur Erhöhung des gesamten Vorsorgekapitals aller Rentner.
Fast die Hälfte aller Rentner, deren Vorsorgekapital erhöht wurde, hatten somit grundsätzlich keinen Anspruch auf Zuwendungen aus den Mitteln des Beschwerdegegners. Auch wenn die einzelnen Rentner von der Erhöhung ihrer Deckungskapitalien nicht direkt profitieren, so ist dennoch festzuhalten, dass die Finanzierung der Deckungskapitalerhöhung für die Nicht-Destinatäre des Spezialfonds eine vom Stiftungszweck nicht vorgesehene Leistung darstellt. Denn dadurch wurde ein Teil der Mittel des Spezialfonds für die finanzielle Absicherung von Leistungen an unberechtigte Nicht-Destinatäre verwendet. Im entsprechenden Umfang ist die im Jahr 2015 getätigte Einlage in die Pensionskasse somit als urkundenwidrige und damit rechtswidrige Leistung zu betrachten und der Beschwerdegegner ist dazu zu verpflichten, die Mittel im entsprechenden Umfang von der Pensionskasse zurückzufordern.
BVG- und Stiftungsaufsicht des -Kantons Zürich (BVS), Verfügung BE.2016.4 vom 26.11.2018
Anfechtung von Beschlüssen: Frist unklar
In der beruflichen Vorsorge finden sich weder auf Stufe -Gesetz noch Verordnung Vorgaben darüber, innerhalb welcher Frist ein Destinatär gegen -einen Beschluss des Stiftungsrats Beschwerde einzureichen hat. Das Bundesgericht referiert in einem neuen Entscheid mögliche Denkansätze zur Dauer der Frist, unterlässt es aber, sich zeitlich festzulegen.
Sachverhalt:
Der Kläger war bis Ende 2002 bei der Pensionskasse Y und anschliessend, infolge eines kollektiven Übertritts, bei der Personalvorsorge X. für die berufliche Vorsorge versichert.
Im November 2005 trafen die beiden Kassen eine «Vereinbarung über die kollektive Übertragung der freien Mittel aus der Teilliquidation per 31.12.2003». Danach wurden die Gelder an die neue Pensionskasse X. überwiesen. Deren Stiftungsrat beschloss in der Folge, die freien Mittel der jeweiligen relevanten Freizügigkeitsleistung individuell zu verteilen und den restlichen Betrag als kollektive Wertschwankungsreserve zurückzubehalten. Der Kläger beanstandete bei der BVG- und Stiftungsaufsicht des Kantons Zürich, dass die überwiesenen freien Mittel nicht in vollem Umfang individuell verteilt wurden. Die Aufsichtsbehörde erachtete in ihrer Stellungnahme vom 18. Januar 2011 das Vorgehen der PGG als rechtens. Das Bundesgericht wies kürzlich eine dagegen erhobene Beschwerde aus formellen Gründen ab. Der Kläger habe sich zu viel Zeit gelassen, um den Entscheid des Stiftungsrates der Pensionskasse X. anzufechten.
Erwägungen:
2. Streitig ist die Verteilung von überschüssigem Deckungskapital, das aus einem anderen Anschlussverhältnis stammt. Im Fokus steht der Stiftungsratsbeschluss der Personalvorsorge X. Dabei handelt es sich um eine Angelegenheit, die in die Beurteilungskompetenz der Aufsichtsbehörde fällt. Gemäss BGE 141 V 605 lässt sich die generelle Regelung, wie bestimmte freie Mittel aufzuteilen sind, auch ausserhalb einer (Teil-)Liquidation nicht auf dem Klageweg überprüfen. Es drängt sich daher die Frage auf, innert welcher Frist der Stiftungsratsbeschluss aufsichtsrechtlich anzufechten gewesen wäre.
3.1.1 Auf dem Gebiet der beruflichen Vorsorge finden sich weder auf Gesetzes- noch auf Verordnungsstufe allgemeine Vorgaben darüber, innerhalb welchen Zeitraums ein Destinatär gegen einen Stiftungsratsbeschluss vorzugehen hat. Als einschlägige Grundlagen müssen daher primär der Vorsorgevertrag resp. das Reglement sowie subsidiär das Stiftungsrecht, wie es unmittelbar oder sinngemäss nach den Bestimmungen des Zivilgesetzbuches (ZGB) gilt, herhalten: Wann immer ein Stiftungsorgan sich aus mehreren Personen zusammensetzt, liegt es – in Ermangelung einer spezifischen stiftungsrechtlichen Regelung – nahe, die Art. 64 ff. ZGB über die Art und Weise des Funktionierens der Vereinsorgane analog heranzuziehen, soweit in Stiftungsurkunde und -reglement nichts bestimmt ist (BGE 144 II) 433, E. 4.1 S. 434 und E. 4.3 S. 435). Art. 75 ZGB statuiert eine 30-tägige Frist, die mit der Kenntnisnahme des Beschlusses zu laufen beginnt. Indes darf nicht übersehen werden, dass das geltende Stiftungsrecht des ZGB kein optimales Organisationsmuster für Vorsorgeeinrichtungen ist und in vielfältiger Weise für die berufsvorsorgerechtlichen Zwecke angepasst werden muss (BGE 144 III 433, E. 4.6 S. 437).
3.1.2 Wegen der materiellen Nähe zur Anfechtung des Verteilungsplans im Kontext einer Teilliquidation sticht u.a. der diesbezügliche Modus als analoge Richtschnur ins Auge. Geht es im Rahmen einer Teilliquidation um die generelle Erstellung eines Verteilungsplans von freien Mitteln, normiert Art. 53d Abs. 6 BVG ein ausdrückliches Anfechtungsrecht vor der Aufsichtsbehörde (vgl. dazu BGE 141 V 605). Da im Gesetz keine Frist festgelegt wird, innert der Beschwerde erhoben werden kann, obliegt es der Vorsorgeeinrichtung, diese gemäss Art. 53b BVG im Teilliquidationsreglement zu regeln. Dabei ist in der Praxis verbreitet, dass das Teilliquidationsreglement vorab – nach erfolgter Information über die Ausgestaltung des Verteilungsplans – ein internes Einspracheverfahren vorsieht. Dafür wird üblicherweise eine Frist von 30 Tagen ab Zustellung der Information gesetzt.
Kann eine Einsprache nicht bereinigt werden, lässt sich regelmässig folgendes Prozedere antreffen: Entweder überweist der Stiftungsrat die Einsprache direkt an die Aufsichtsbehörde oder er setzt eine (weitere) 30-tägige Frist an, die den Versicherten in die Lage versetzt, nach Erhalt der abschlägigen Stellungnahme des Stiftungsrats selber an die Aufsichtsbehörde zu gelangen.
Das Teilliquidationsreglement der X. sieht ebenfalls ein internes Einspracheverfahren vor. Danach sind Einsprachen während einer Frist von 30 Tagen ab Zustellung der Information schriftlich und begründet an den Stiftungsrat zu richten. Gelingt keine Bereinigung, überweist der Stiftungsrat die Einsprache an die Aufsichtsbehörde mit seiner schriftlichen Stellungnahme und allfälligen weiteren Unterlagen. Insoweit lässt sich ein Bogen zurück zum Vereinsrecht ziehen, in dem der Grundsatz gilt, dass von sämtlichen Rechtsbehelfen, welche die Vereinsorganisation zur Verfügung stellt, Gebrauch zu machen ist, bevor ein Vereinsmitglied den staatlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann (BGE 144 III 433, E. 4.2 ,S. 435). Diese Parallele wie auch diejenige in der Materie sprechen dafür, in concreto analog auf die reglementarisch normierte Frist von 30 Tagen abzustellen, innert welcher die Verteilung der streitigen freien Mittel zumindest beim Stiftungsrat anzufechten ist.
3.1.3 Dabei hat es jedoch nicht sein Bewenden. Denkbar ist nämlich auch: Mangelt es wie in der hier zur Diskussion stehenden Konstellation an einer reglementarischen Festlegung, innert welcher Frist ein Stiftungsratsbeschluss bei der Aufsichtsbehörde anzufechten ist, so bietet sich – nebst dem allgemeinen Rückgriff auf Art. 75 ZGB auf die 30-tägige Frist des Verwaltungsrechts (vgl. Hans Ulrich Stauffer, Berufliche Vorsorge, 2. Aufl. 2012, S. 501 Rz. 1351) oder auf das Teilliquidationsverfahren – durchaus an, die in anderen Bereichen des Sozialversicherungsrechts entwickelte Rechtsprechung zur Einräumung einer angemessenen Bedenkfrist bei Entscheiden im formlosen Verfahren sinngemäss heranzuziehen. Massgebend wäre diesfalls in etwa, wie komplex die Materie ist, ob die betreffende Person sachkundig ist und ob die Vorsorgeeinrichtung den Beschluss begründet hat oder nicht.
3.1.4 In Anbetracht des Verfahrensausgangs (vgl. nachfolgende E. 4) braucht die genaue Vorgehensweise nicht festgelegt zu werden.
3.2 Zu unterscheiden von der formellen Aufsichtsbeschwerde mit Anspruch auf Eintreten und Einräumung von Parteirechten ist die Aufsichtsanzeige. Jedermann ist gestützt auf Art. 84 Abs. 2 ZGB – ohne näher umschriebenes persönliches Interesse – jederzeit berechtigt, gegen Handlungen und Unterlassungen des Stiftungsrates eine Anzeige bei der Aufsichtsbehörde zu deponieren. Es handelt sich dabei um ein nicht förmliches Rechtsmittel, sodass der Anzeigesteller weder Parteistellung erhält noch über die Möglichkeit verfügt, förmliche Rechtsmittel gegen einen negativen Entscheid der Aufsichtsbehörde zu ergreifen (Urteil 9C_823/2011 vom 23. März 2012, E. 2.2).
4.1 Vorliegend ist aktenkundig, dass die X. die Versicherten mit Schreiben vom 15. Juni 2010 über die Verteilung der Mittel aus der Teilliquidation der Y. resp. über den entsprechenden Stiftungsratsbeschluss vom 11. Mai 2010 informierte. Ob und innert welcher Frist dagegen vorgegangen werden kann, blieb im Informationsschreiben unerwähnt. Am 2. Oktober 2010 gelangte der Beschwerdeführer schriftlich an die X. Er brachte zum Ausdruck, dass der Stiftungsratsbeschluss vom 11. Mai 2010 gegen die Auflagen der BVS vom 12. Oktober 2005 verstosse, und erwartete deshalb von der X. eine Antwort auf fünf Fragen. Die Antworten erfolgten mit Schreiben der X. vom 21. Oktober 2010, ohne dass darin die Möglichkeit einer Anfechtung Erwähnung fand. Mit Eingabe vom 18. November 2010 bat der Beschwerdeführer sodann die BVS, den Standpunkt der X. zu überprüfen. Die BVS kam nach erfolgter Abklärung – sie holte u.a. bei der X. eine Stellungnahme ein – mit Schreiben vom 18. Januar 2011 zum Schluss, dass keine Verletzung des weiten Ermessens des Stiftungsrates gegeben sei. «Ihre Anzeige gibt uns daher zu keinen weiteren Massnahmen Anlass und wir betrachten die Sache damit als erledigt.» Der Beschwerdeführer gelangte mit weiteren Schreiben vom 25. Januar, 8. Februar und 22. März 2011 an die BVS, die ihm am 31. März 2011 mitteilte, in der Angelegenheit keine weitere Korrespondenz zu führen.
4.2.1 In der zeitlichen Abfolge fallen die rund 3,5 Monate auf, die zwischen dem lnformationsschreiben der X. vom 15. Juni 2010 und der beschwerdeführerischen Nachfrage vom 2. Oktober 2010 liegen. Auf der anderen Seite reagierte der Beschwerdeführer, der ohne anwaltliche Vertretung vorging, jedoch als ehemaliger Stiftungsrat über gehörige Rechtskenntnisse verfügt, auf das aus seiner Sicht unbefriedigende Antwortschreiben der X. vom 21. Oktober 2010 prompt und zielgerichtet. So gelangte er zügig an die örtlich und sachlich zuständige Aufsichtsbehörde (vgl. E. 4.1).
Anhaltspunkte, die das lange Zuwarten vom Informationsschreiben Mitte Juni 2010 bis zum ersten (äusserlich wahrnehmbaren) Aktivwerden Anfang Oktober 2010 zu erklären vermögen, fehlen. Insbesondere kann nicht von einer komplexen Streitsache gesprochen werden. Streitpunkt bildet allein die Verwendung restlicher 1‚07 Prozent freier Mittel nach gleichem Schema wie die bereits individuell aufgeteilten 8,33 Prozent. Ferner ist das Informationsschreiben vom 15. Juni 2010 begründet. Daraus erhellt, dass die zusätzlich überwiesenen 1,07 Prozent der Freizügigkeitsgelder als Einkauf in die Wertschwankungsreserven kollektiv in der Stiftung verbleiben; ausserdem würden aus diesen Mitteln die administrativen Aufwendungen der Verteilung beglichen.
Da der Beschwerdeführer befürchtete, dadurch diskriminiert zu werden, hakte er bei der X. nach. Ob das Informationsschreiben vom 15. Juni 2010 «tendenziell irreführend» ausfiel, wie der Beschwerdeführer behauptet, kann offen bleiben und damit auch die Frage, ob es sich dabei um ein unzulässiges Novum handelt (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG). Indem er sich zur diesbezüglichen Klärung weit über drei Monate Zeit liess, beanspruchte er angesichts der konkreten Merkmale dieses Falles eine unangemessen lange Überprüfungs- und Überlegungsfrist. Letztlich liegen zwischen dem Informationsschreiben vom 15. Juni 2010 und der Aufsichtsbeschwerde vom 18. November 2010 über fünf Monate, was mit Blick auf das rasche Antwortschreiben der PGG vom 21. Oktober 2010 (innert 20 Tagen; vgl. E. 4.1) klar zu lange ist. Mit anderen Worten erfolgte (schon) die Eingabe vom 18. November 2010 in jedem Fall der möglichen Anwendungsanalogien verspätet.
5. Die Beschwerde ist unbegründet und der angefochtene Entscheid im Ergebnis zu bestätigen.
6. Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird umständehalber verzichtet.
Bundesgericht, Urteil 9C_15/2019 vom 21.5.2019