Zivilprozessrecht
Noven müssen innert zehn Tagen geltend gemacht werden
Nach Aktenschluss können neue Tatsachen und Beweismittel nur noch unter den Voraussetzungen des Novenrechts von Artikel 229 Absatz 1 ZPO in den Prozess eingebracht werden. «Ohne Verzug» bedeutet «sofort». Dabei ist in der Regel von einer Zehntagesfrist seit der Entdeckung auszugehen.
Sachverhalt:
Der Schriftenwechsel wurde mit Zugang der Duplik bei der Klägerin abgeschlossen. In diesem Zeitpunkt trat der Aktenschluss ein. Neue Tatsachen oder Beweismittel waren nur noch unter den Voraussetzungen von Artikel 229 ZPO zulässig. Die Klägerin kam diesem Erfordernis nicht nach. Sie wartete mit ihrer «Stellungnahme zu den Noven» bis zur Hauptverhandlung ab.
Aus den Erwägungen:
3.a) Im Zivilprozess haben die Parteien das Recht, zweimal unbeschränkt Tatsachen zu behaupten und Beweise einzureichen bzw. zu beantragen, sei es im Rahmen eines doppelten Schriftenwechsels, sei es in einem einfachen Schriftenwechsel mit anschliessender mündlicher Replik und Duplik in einer Instruktions- oder der Hauptverhandlung.
Nachdem die Parteien die Möglichkeit gehabt haben, zweimal unbeschränkt Tatsachen und Beweise einzubringen, tritt der Aktenschluss ein. Neue Tatsachen und Beweismittel und allgemein neue Angriffs- und Verteidigungsmittel, sogenannte Noven, können ab diesem Zeitpunkt nur noch beschränkt vorgebracht werden. Die Voraussetzungen dafür sind in Art. 229 Abs. 1 ZPO geregelt.
Danach werden neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und erst nach Abschluss des Schriftenwechsels oder nach der letzten Instruktionsverhandlung entstanden sind (lit. a; echte Noven) oder bereits vor Abschluss des Schriftenwechsels oder vor der letzten Instruktionsverhandlung vorhanden waren, aber trotz zumutbarer Sorgfalt nicht vorher vorgebracht werden konnten (lit. b; unechte Noven; vgl. zum Ganzen BGE 140 III 312, E. 6; Leuenberger in: Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger, ZPO Komm., Art. 229 N 4 ff.; Leuenberger / Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, N 11.108; Reut, Noven nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Schriften zum Schweizerischen Zivilprozessrecht, Band 24, Zürich/St. Gallen 2017, N 242 ff.).
b) «Ohne Verzug» (Art. 229 Abs. 1 ZPO) bedeutet «sofort» (Botschaft ZPO, S. 7341), d.h. «unverzüglich nach der Entdeckung» (Leuenberger, ZPO Komm., Art. 229 N 9). Die herrschende Lehre und die kantonale Rechtsprechung gehen dabei in der Regel von einer Zehntagesfrist seit Entdeckung aus, innert welcher die Noven eingebracht werden müssen (das Bundesgericht hat sich dazu soweit ersichtlich noch nicht verbindlich geäussert).
Wird länger zugewartet, können die neuen Vorbringen bzw. Beweismittel nicht mehr zugelassen werden, und zwar unabhängig davon, ob es sich um echte oder unechte Noven handelt. Diese Zehntagesregel gilt nach herrschender Auffassung auch und gerade für den Fall, dass die klagende Partei auf Noven in der Duplik reagieren will, welche sie dazu veranlassen, ihrerseits Noven vorzutragen. Auch in dieser Konstellation hat die klagende Partei ihre neuen Vorbringen demnach «ohne Verzug», d.h. grundsätzlich innert der erwähnten Zehntagesfrist, mittels Noveneingabe in den Prozess einzuführen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin kann mit den neuen Vorbringen also nicht einfach bis zur Hauptverhandlung zugewartet werden. Ein solches Vorgehen wäre mit dem Beschleunigungsgebot (Art. 124 Abs. 1 ZPO, Art. 29 Abs. 1 BV) nicht vereinbar, zumal möglich ist, dass die Hauptverhandlung Wochen oder gar – wie im vorliegenden Fall – Monate nach dem zweiten Schriftenwechsel bzw. der letzten Instruktionsverhandlung stattfindet. Kommt hinzu, dass es der Gegenpartei oftmals nicht zuzumuten wäre, an der Hauptverhandlung sofort auf die Noven zu reagieren, weil dies regelmässig weit mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. Unter diesem Blickwinkel wäre es nicht selten treuwidrig (Art. 52 ZPO), wenn mit dem Vorbringen von Noven bis zur Hauptverhandlung zugewartet werden könnte (überzeugend Leuenberger, ZPO Komm., Art. 229 N 9).
An diesen Überlegungen vermögen der insoweit nicht ganz klare Wortlaut von Art. 229 ZPO, auf den die Klägerin sich beruft, sowie die in diese Richtung zielenden Literaturstimmen, welche ein Zuwarten bis zur nächsten von der ZPO vorgesehenen prozessualen Äusserungsmöglichkeit zulassen (so insbesondere KuKo ZPO-Naegeli / Mayhall, Art. 229 N 10; Pahud, DIKE-Komm-ZPO, Art. 229 N 11 a.E. und N 16; BSK ZPO-Willisegger, Art. 229 N 34; gleicher Ansicht wohl auch Schmid / Hofer, Bestreitung von neuen Tatsachenbehauptungen in der schriftlichen Duplik, ZZZ 2016, 292 f.), nichts zu ändern.
c) Vorliegend fand nach Abschluss des ersten Schriftenwechsels am 4. Januar 2016 eine Instruktionsverhandlung namentlich zum Zweck, Vergleichsgespräche zu führen, statt; zudem wurden den Parteien Substanziierungshinweise im Hinblick auf den vorgesehenen zweiten Schriftenwechsel gegeben. Ein Vergleich kam nicht zustande, woraufhin der zweite Schriftenwechsel angeordnet und durchgeführt wurde, welcher mit Zugang der Duplik bei der Klägerin am 10. Mai 2016 abgeschlossen wurde. In diesem Zeitpunkt war nach dem vorstehend Gesagten der Aktenschluss eingetreten. Neue Tatsachen bzw. Beweismittel waren entsprechend nur noch unter den Voraussetzungen von Art. 229 ZPO zulässig. Insbesondere hätten sie «unverzüglich», d.h. innert der erwähnten Zehntagesfrist, mittels Noveneingabe in den Prozess eingebracht werden müssen. Davon ist offenkundig auch die Vorinstanz ausgegangen, die zwar nicht ausdrücklich Frist ansetzte, nach abgeschlossenem Schriftenwechsel allerdings – bezeichnenderweise – genau zehn Tage zuwartete, bevor sie mit der Terminfestsetzung der anstehenden Hauptverhandlung begann und dies den Parteien im Zusammenhang mit der Zustellung der Duplik an die Klägerin auch so mitteilte.
Demgegenüber ist die Klägerin diesem Erfordernis klarerweise nicht nachgekommen. Sie wartete mit ihrer «Stellungnahme zu den Noven», mit welcher sie ihrerseits zahlreiche Noven in den Prozess einzubringen versuchte, bis zur Hauptverhandlung am 8. September 2016 zu; dies, obwohl sämtliche von ihr eingebrachten Tatsachen bzw. Beweismittel – anerkanntermassen – bereits vor dem Aktenschluss vorhanden gewesen und ihr wohl auch bekannt waren, weshalb diese ohne weiteres bereits im Rahmen der Klage oder spätestens der Replik hätten vorgebracht werden können. Dies geht – wie gezeigt (lit. b hievor) – nicht an, zumal keine Gründe geltend gemacht (oder ersichtlich) sind, weshalb es ihr nicht zumutbar gewesen wäre, die entsprechenden Tatsachen oder Beweise früher vorzubringen. Demgemäss hat die Vorinstanz die von der Klägerin anlässlich der Hauptverhandlung vorgebrachten Noven zu Recht unberücksichtigt gelassen.
d) Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang noch klargestellt, dass die Klägerin ihre anlässlich der Hauptverhandlung vorgebrachten Noven auch nicht unter dem Titel des vom Bundesgericht gestützt auf Art. 29 Abs. 2 BV (und in Umsetzung der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK) entwickelten «unbedingten Replikrechts» rechtmässig in den Prozess hat einführen können (grundlegend für dieses Institut BGE 132 I 42 und 138 I 484; vgl. aus der Lehre Hunsperger / Wicki, Fallstricke des Replikrechts im Zivilprozess und Lösungsvorschläge de lege ferenda, AJP 2013, S. 975 ff.). Denn danach ist zwar jede Partei berechtigt, von jeder dem Gericht eingereichten Rechtsschrift Kenntnis zu nehmen und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Rechtsschrift neue Tatsachen oder Argumente enthält bzw. ob sie das Gericht tatsächlich zu beeinflussen vermag (vgl. Hunsperger / Wicki, a.a.O., 976).
Doch sind die aufgrund des Replikrechts vorgetragenen neuen Tatsachen und Beweismittel gleichwohl nur dann zu berücksichtigen, «wenn sie nach den Regeln des Novenrechts (Art. 229 ZPO) vorgebracht werden durften» (Leuenberger, ZPO Komm, Art. 225 N 17d). Anders ausgedrückt besteht nach der Rechtsprechung zwar ein voraussetzungsloses bzw. unbedingtes Replikrecht, keineswegs aber ein voraussetzungsloses bzw. unbedingtes Novenrecht. Auch unter diesem Blickwinkel bleibt es aber dabei, dass die Vorinstanz die von der Klägerin an der Hauptverhandlung neu eingebrachten Tatsachen und Beweismittel zu Recht nicht berücksichtigt hat. Mithin ist im Folgenden auf die Sachdarstellung der Klägerin, die vor der vorinstanzlichen Hauptverhandlung in den Rechtsschriften erfolgte, und die dazu offerierten Beweise abzustellen.
Entscheid BO.2017.4 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 16.11.2017
Rechtshängigkeit nötig für vorsorgliche Massnahmen
Die Rechtsmittelinstanz ist für ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen erst zuständig, wenn ein Rechtsmittelverfahren eröffnet ist.
Sachverhalt:
Die Familienrichterin des Kreisgerichts hatte im Rahmen eines Eheschutzverfahrens vorsorgliche Massnahmen erlassen und diese den Parteien unbegründet eröffnet. Vor Versand des begründeten Entscheids gelangte der Gesuchsteller mit einem Antrag um vorsorgliche Massnahmen an den Einzelrichter des Kantonsgerichts.
Aus den Erwägungen:
1. Grundsätzlich setzt eine vorsorgliche Massnahme das Vorliegen eines Hauptverfahrens voraus. Beim Kantonsgericht ist allerdings kein solches hängig.
Der Gesuchsteller beruft sich nun für die Zulässigkeit eines Antrags um vorsorgliche Massnahmen vor Anhängigmachen eines Hauptverfahrens auf Françoise Bastons Buletti in ZPO Online (Newsletter vom 17. November 2016) zu Art. 239, 318 Abs. 2 ZPO, welche die Zulässigkeit eines Gesuchs um aufschiebende Wirkung bei der Rechtsmittelinstanz bejahe.
Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass diese Frage grundsätzlich schon in einem früheren Beschwerdeentscheid mit den gleichen Parteien abgehandelt und auch begründet worden ist. Dieser wurde nicht angefochten.
Es stellt sich nun allerdings noch die Frage, wie die Rechtslage in Bezug auf den Antrag betreffend aufschiebende Wirkung ist. Ein solcher Antrag muss grundsätzlich gestellt werden können, wobei grundsätzlich die Instanz zuständig ist, bei der das Verfahren pendent ist. Dieses wird erst mit dem Versand des begründeten Urteils abgeschlossen, sodass die Zuständigkeit grundsätzlich noch bei der Familienrichterin liegt. Erst mit der Eröffnung des Berufungsverfahrens ist die Berufungsinstanz für vorsorgliche Massnahmen – und dazu gehören sachgerechterweise auch Anträge betreffend aufschiebende Wirkung – zuständig (Seiler, Die Berufung nach ZPO, N 1002, 1009 und 934). Dies erscheint durchaus sachgerecht, würde doch sonst einer Partei der Rechtsweg um eine Instanz verkürzt. Zudem sind der Rechtsmittelinstanz ja die Entscheidgründe der Vorinstanz (ebenfalls) nicht bekannt. Unter diesem Aspekt ist festzuhalten, dass es im Übrigen auch an der Zuständigkeit der Berufungsinstanz fehlen würde.
Auf das Gesuch um vorsorgliche Massnahme ist daher mangels Zuständigkeit nicht einzutreten.
Entscheid ZV.2017.152 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 20.11.2017
Vermieterkündigung: Streitwert berechnet sich nach Sperrfrist
Der Streitwert eines Kündigungsschutzverfahrens bemisst sich aufgrund des Mietzinses während der Dauer der um die Kündigungsfrist verlängerten Sperrfrist im Sinne von Artikel 271 OR.
Sachverhalt:
Im Rahmen eines Ausweisungsverfahrens orientierte sich die Klägerin am Mietgericht Zürich für die Streitwertberechnung an Fällen, bei denen die Beendigung des Mietverhältnisses zwischen den Parteien nicht umstritten ist. Das widerspricht der Gerichtspraxis bei Kündigungsschutzverfahren.
Aus den Erwägungen:
1. Nach Eingang der vorliegenden Klage wurde der Klägerin mit Verfügung vom 13. November 2017 Frist angesetzt, um sich zum Streitwert zu äussern. Mit Eingabe vom 17. September 2017 bezifferte die Klägerin die Streitsumme auf sechs Monatsmietzinse oder 2250 Franken.
2. Nach Art. 91 Abs. 1 ZPO wird der Streitwert einer vermögensrechtlichen Streitigkeit durch das Rechtsbegehren bestimmt. Lautet das Rechtsbegehren nicht auf eine bestimmte Geldsumme, so setzt das Gericht den Streitwert fest, sofern sich die Parteien darüber nicht einigen oder ihre Angaben offensichtlich unrichtig sind (Art. 91 Abs. 2 ZPO).
Entscheidend für die Bestimmung des Streitwerts ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage, welche im geltenden Recht schon im Schlichtungsverfahren eintritt, soweit man von der Fortführungslast absieht, die erst mit der Zustellung der Klage an die beklagte Partei greift (Art. 62 Abs. 1 und Art. 65 ZPO). Als Wert wiederkehrender Leistungen gilt nach Art. 92 Abs. 1 ZPO der Kapitalwert; Abs. 2 der genannten Norm legt diesen bei ungewisser oder unbeschränkter Dauer der Leistung auf den 20-fachen Betrag einer einjährigen Nutzung oder Leistung fest, was technisch einem zu 5 Prozent verzinsten Kapital entspricht. Bei Kündigungsschutzverfahren stellt das Bundesgericht für den Streitwert einer Beschwerde in Zivilsachen auf die dreijährige Sperrfrist ab, die dem Mieter im Falle eines Prozesserfolgs gestützt auf Art. 271a Abs. 1 lit. e OR zugute käme (BGE 137 III 389, E. 1 = Pra 2012 Nr. 6). Bei reinen Erstreckungsbegehren stützt sich die Praxis auf die Differenz der von Kläger und Beklagtem verlangten Erstreckungsdauer.
In der Lehre wird an sich zu Recht darauf hingewiesen, dass die Sperrfrist nach Art. 271a Abs. 1 lit. e OR erst mit dem Abschluss des Gerichtsverfahrens beginnt, das sie auslöst. Für das erstinstanzliche Verfahren leitet etwa Koller daraus ab, dass für die Berechnung des Streitwerts auch die mutmassliche Verfahrensdauer zur Sperrfrist und zur anschliessenden Dauer bis zum nächsten ordentlichen Kündigungstermin hinzuzurechnen sei (Th. Koller, Die mietrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 2011, ZBJV 2013, S. 32 ff.). Für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren löst das Bundesgericht das Problem allerdings, indem es auf den Zeitpunkt des letztinstanzlichen kantonalen Entscheids abstellt, da später grundsätzlich keine neuen Tatsachen mehr vorgetragen werden können und der für das Bundesgericht massgebliche Streitwert sich gemäss Art. 51 Abs. 1 lit. a BGG nach den Begehren richtet, die vor Vorinstanz streitig geblieben sind (BGE 137 III 389, E. 1.1).
Gerade dieser letzte Punkt zeigt, dass in die Streitwertberechnung bei Kündigungsschutzverfahren auch pragmatische Überlegungen einfliessen. Nicht übersehen werden kann, dass eine korrekte Streitwertberechnung zur Differenz führen müsste zwischen dem, was der Kläger verlangt, und dem, was der Beklagte maximal zu leisten bereit ist. Bei vollkommen zweiseitigen Verträgen wie der Miete ist nun aber während einer Sperrfrist nicht nur der Mietzins weiterhin zu leisten. Vielmehr hat der Vermieter auch die Gegenleistung zu erbringen, deren Wert trotz Missbrauchsgesetzgebung in aller Regel dem Mietzins entsprechen wird. Wollte man eine genaue Streitwertberechnung durchführen, dürfte in dieselbe eigentlich nur die Differenz zwischen dem geltenden und dem bei einer Vermietung an einen Dritten nach dem Kündigungstermin erzielbaren Mietzins einfliessen. Selbst wenn es gelänge, diesen Preis zu bestimmen, ergäbe sich die weitere Schwierigkeit, dass keineswegs die Sperrfrist die Dauer bestimmen könnte, auf welche die Mietzinsdifferenz zu berechnen wäre, denn insbesondere für den Mieter bleibt der Vertrag auch während der Sperrfrist frei kündbar, während auf der anderen Seite keineswegs alle Verträge nach Ablauf der Sperrfrist gekündigt zu werden pflegen. Hier käme also die Ersatzregel von Art. 92 Abs. 2 ZPO zum Zuge, sodass der Streitwert in der 20-fachen Differenz zwischen dem aktuellen und dem missbrauchsfrei von einem Dritten erzielbaren Jahresmietzins bestehen würde.
Die von den Gerichten angewandte Regel umgeht diese Probleme und führt zumindest annäherungsweise zu einem Streitwert, welcher den vorstehenden Überlegungen und damit auch der Sache angemessen ist. Ähnlich wie das Bundesgericht rechnet auch das Mietgericht Zürich die mutmassliche Verfahrensdauer nicht mit ein, denn entscheidend für das Streitinteresse der Parteien ist wie bei gewöhnlichen Forderungsprozessen nicht die Situation bei Einleitung des Schlichtungsverfahrens, sondern der Zeitpunkt der Fortführungslast, also des Zeitpunkts, in welchem die klagende Partei die Klage nicht mehr zurückziehen kann, ohne zu riskieren, über die Streitsache keinen zweiten Prozess mehr führen zu können (Teilaspekt der Rechtshängigkeit nach Art. 65 ZPO).
3. Im vorliegenden Fall orientiert sich die Streitwertangabe der Klägerin am Ausweisungsverfahren, mithin an Fällen, bei denen die Beendigung des Mietverhältnisses zwischen den Parteien nicht umstritten ist. Sie weicht damit von der Gerichtspraxis für Kündigungsschutzverfahren ab. Laut Mietvertrag zwischen den Parteien kann das gemietete möblierte Zimmer mit einer Frist von 14 Tagen auf ein Monatsende hin gekündigt werden. Die vorliegende Klage wurde der beklagten Partei am 17. November 2017 zugestellt. Dies bewirkte die Fortführungslast für die Klägerin. Im Falle einer Ungültigerklärung der Kündigung in diesem Zeitpunkt würde die Sperrfrist nach Art. 271a Abs. 1 lit. e OR damit am 17. November 2020 ablaufen, und eine weitere Kündigung wäre frühestens auf den 31. Dezember 2020 möglich. Abgerundet beträgt der Streitwert daher 37 Monatsmietzinse oder 13 875 Franken.
Verfügung MF170009-L/Z2 des Mietgerichts Zürich vom 21.11.2017
Betreibungsrecht
Zahlungen noch nach Androhung des Konkurses zulässig
Die Praxis gewisser Betreibungsämter, nach einer erfolgten Konkursandrohung keine Zahlungen mehr anzunehmen, ist gesetzwidrig.
Sachverhalt:
Die Schuldnerin wollte auf die Konkursandrohung hin beim Betreibungsamt die Forderung begleichen. Das Amt verweigerte dies und tilgte mit der eingegangenen Zahlung eine andere, ähnlich hohe Forderung der gleichen Gläubigerin. Der Konkurs wurde zu Unrecht eröffnet.
Aus den Erwägungen:
2.1 Gemäss Art. 174 Abs. 2 SchKG kann die Konkurseröffnung im Beschwerdeverfahren unter anderem dann aufgehoben werden, wenn der Schuldner mit der Einlegung des Rechtsmittels seine Zahlungsfähigkeit glaubhaft macht und durch Urkunden einen der drei gesetzlich vorgesehenen Konkurshinderungsgründe (Tilgung, Hinterlegung oder Gläubigerverzicht) nachweist. Neue Behauptungen und Urkundenbeweise über konkurshindernde Tatsachen sind im Beschwerdeverfahren unbeschränkt zugelassen, unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem erstinstanzlichen Entscheid ergangen sind. Der Schuldner kann auch nachweisen, dass im Moment der Konkurseröffnung ein Konkurshinderungsgrund (Art. 172 SchKG) bestand, auch wenn das Gericht diesen nicht kannte. In diesem Fall ist das Glaubhaftmachen der Zahlungsfähigkeit nach der Praxis der Kammer nicht nötig.
Die Schuldnerin schreibt in der Beschwerde, sie habe «die Forderung» samt Zins und Betreibungskosten bezahlt und beruft sich dafür auf die Quittung des Betreibungsamtes. Wie vorstehend dargestellt, nahm das Amt aber die Zahlung der Schuldnerin – entgegen deren Anweisung – nicht für die Betreibung entgegen, für welche der Konkurs angedroht war, sondern für eine andere. Das war falsch und verletzte Art. 12 SchKG, wonach der Schuldner eine in Betreibung gesetzte Forderung beim Amt zahlen kann. Dass das nicht mehr möglich sein sollte, wenn die Konkursandrohung vor zwanzig oder mehr Tagen ergangen ist, verletzt das Gesetz.
Die Schuldnerin, deren Geschäftsführer sich zwar auf Deutsch durchaus verständlich machen kann, aber im Betreibungsrecht offenkundig nicht bewandert ist, konnte sich gegen das rechtswidrige Vorgehen des Amtes nicht zur Wehr setzen, erkannte wohl auch dessen Tragweite gar nicht. Mittlerweile ist die kritische Forderung hinterlegt. Die Gläubigerin kann auf Heller und Pfenning befriedigt werden. Es drängt sich auf, die Sache so zu beurteilen, wie wenn das Betreibungsamt korrekt gehandelt hätte und die Konkursforderung demnach noch vor der Konkurseröffnung bezahlt worden wäre.
Damit erweist sich die Beschwerde als begründet.
2.2 Zuhanden des Betreibungsamts ist folgendes klarzustellen: Das Fortsetzungsbegehren kann zwanzig Tage nach Zustellung des Zahlungsbefehls gestellt werden (Art. 88 SchKG), und dann wird dem Schuldner «unverzüglich» der Konkurs angedroht (Art. 159 SchKG). Der Gläubiger kann dann wiederum nach zwanzig Tagen, längstens bis fünfzehn Monate nach Zustellung des Zahlungsbefehls das Konkursbegehren stellen (Art. 166 Abs. 1 und 2 SchKG). Nach der Praxis des Betreibungsamtes wäre Art. 12 SchKG also unter Umständen weit über ein Jahr still ausser Kraft gesetzt. Nur schon das zeigt, dass die Auffassung nicht richtig sein kann, sobald der Gläubiger das Konkursbegehren stellen könne, sei eine Zahlung an das Amt nicht mehr zulässig.
Dem Vernehmen nach scheuen die Ämter Vorwürfe der Gläubiger, wenn sie eine Zahlung entgegennehmen und bereits das Konkursbegehren gestellt ist, weil die Gläubiger fürchten, den Kostenvorschuss gemäss Art. 169 SchKG wieder eintreiben zu müssen, und dies schlimmstenfalls auf dem Weg einer neuen Betreibung gegen den Schuldner, der es bereits einmal bis zum Konkursbegehren hat kommen lassen. Das Problem des Kostenvorschusses für das Konkursverfahren ist aber anders und gesetzeskonform zu lösen, und es wird tatsächlich anders gelöst: Die Konkursgerichte pflegen in der Vorladung zur Konkursverhandlung anzumerken, dass der Schuldner die Forderung noch bis zur Verhandlung zahlen kann, dass aber zu den in der Konkursandrohung genannten Kosten hinzu eine in der Regel reduzierte Gebühr für das Konkursgericht bezahlt werden muss (KuKo SchKG-Diggelmann, 2. Aufl. 2014, Art. 172 N. 3). Und auch wenn das Verfahren bis zur Beschwerde weitergeht, werden die Interessen des Gläubigers gewahrt: Der Schuldner kann sich darauf berufen, er habe noch vor Konkurseröffnung bezahlt, und der Konkurs wird aufgehoben, auch wenn das Konkursgericht von diesem entscheidenden Umstand nicht informiert wurde und die Konkurseröffnung demnach fehlerfrei war; der Schuldner muss dann aber sowohl die Kosten des Konkursgerichts als auch des Konkursamtes sicherstellen, damit der Gläubiger seinen Vorschuss ungeschmälert zurück erhält (KuKo SchKG, Art. 174 N. 10).
Urteil PS1U70266-O/U des Obergerichts Zürich vom 5.12.2017
Strafprozessrecht
Strafbefehl nur durch Staatsanwalt
Sachbearbeiter mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen dürfen bloss in Übertretungsstrafverfahren Untersuchungen führen. Sie sind nicht befugt, einen Strafbefehl zu erlassen oder Anklage zu erheben, wenn Verbrechen oder Vergehen Gegenstand der Anklage sind.
Sachverhalt:
Der Beschuldigte macht im Berufungsverfahren am Kantonsgericht St. Gallen die formelle Ungültigkeit des Strafbefehls respektive der Anklageschrift geltend, da sie von einem Sachbearbeiter mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen erlassen worden seien.
Aus den Erwägungen:
2.a) Gemäss Art. 2 Abs. 1 StPO steht die Strafrechtspflege einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden zu. Auch können Strafverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO). Strafverfolgungsbehörden sind die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Übertretungsstrafbehörden (Art. 12 StPO). In der Bezeichnung und Organisation der Strafbehörden sind Bund und Kantone jedoch grundsätzlich frei (vgl. Art. 14 Abs. 1 StPO). Bund und Kantone regeln namentlich Wahl, Zusammensetzung, Organisation und Befugnisse der Strafbehörden, soweit die StPO oder andere Bundesgesetze dies nicht abschliessend regeln (Art. 14 Abs. 2 StPO), sowie die Aufsicht über ihre Strafbehörden (Art. 14 Abs. 5 StPO). Art. 14 Abs. 1 StPO überlässt es Bund und Kantonen insbesondere festzulegen, welche Behörden die Funktionen der in Art. 12 StPO aufgelisteten Strafverfolgungsbehörden zu übernehmen haben und welche Bezeichnungen sie tragen sollen, sowie den Kreis der Beamten zu bestimmen, die in der Strafverfolgung tätig werden (BGE 142 IV 70 E. 3.2.1).
b) Art. 311 Abs. 1 Satz 1 StPO regelt, dass innerhalb der Staatsanwaltschaften Staatsanwältinnen und Staatsanwälte für die Beweiserhebung zuständig sind. Bund und Kantone können jedoch bestimmen, dass die Staatsanwälte einzelne Untersuchungshandlungen ihren Mitarbeitern übertragen (Art. 311 Abs. 1 Satz 2 StPO). Wesentliche Untersuchungshandlungen wie z.B. Haftanträge an das Zwangsmassnahmengericht oder Anklagen können jedoch nicht gestützt auf Art. 311 Abs. 1 StPO delegiert werden (BGE 142 IV 70 E. 3.2.2, u.a. mit Verweis auf die Botschaft zur StPO: «[…] wobei darauf zu achten ist, dass wesentliche Untersuchungshandlungen [z.B. Haftanträge an das Zwangsmassnahmengericht; Anklagen] nach wie vor nur durch die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte selbst erfolgen» [BBl 2006 1265]; vgl. auch Schmid, StPO Praxiskommentar, 2. Aufl., Art. 310 N 3, wonach Art. 311 Abs. 1 Satz 2 StPO die Anordnung von Zwangsmassnahmen und Erledigungen [Anklagen, Strafbefehle und Einstellungen] von der Delegation ausschliesst).
c) Ausnahmen ergeben sich bei der Verfolgung und Beurteilung von Übertretungen. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass Bund und Kantone entsprechende Kompetenzen an Verwaltungsbehörden übertragen können (Art. 17 Abs. 1 StPO). Diese Behörden haben die Befugnisse der Staatsanwaltschaft (Art. 357 Abs. 1 StPO). In analoger Anwendung von Art. 17 Abs. 1 StPO ist es zudem zulässig, dass auch innerhalb einer Staatsanwaltschaft Verwaltungsbeamte mit der Führung und dem Abschluss von Übertretungsstrafverfahren betraut werden können (BGE 142 IV 70, E. 4.2; zu den verschiedenen Formen der Organisation der Übertretungsstrafbehörden vgl. Botschaft StPO, BBl 2006, S 1136 f., sowie BGE 142 IV 70, E. 4.1).
Keine Ausnahmen von der ausschliesslichen Kompetenz insbesondere zur Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft sieht die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO) bei Vergehen und Verbrechen vor. Insofern ist die Regelung im Bundesrecht abschliessend und es ist ausgeschlossen, dass die Führung von Verfahren bei Vergehen oder Verbrechen durch Verwaltungsbeamte erfolgt; einzig die Delegation einzelner Untersuchungshandlungen gemäss Art. 311 Abs. 1 Satz 2 StPO ist zulässig (vgl. Riklin, OFK-StPO, Art. 17 N 4: «Logische Folge dieses Konzepts mit seiner Beschränkung auf Übertretungen ist es, dass ein Fall der Staatsanwaltschaft überwiesen werden muss, wenn nach Auffassung der Übertretungsstrafbehörde ein Verbrechen oder Vergehen vorliegt»; vgl. zudem BSK StPO-Omlin, Art. 311 N 6, wonach die Delegation im Einzelfall zu erfolgen hat und nicht generell ausgesprochen werden darf).
d) Die Strafprozessordnung schreibt nicht vor, welche (fachlichen) Voraussetzungen eine Person zu erfüllen hat, um als Staatsanwältin oder Staatsanwalt tätig zu sein respektive ernannt zu werden. Das Bundesgericht scheint in BGE 142 IV 70 E. 4.2 («Dennoch entspricht es Sinn und Zweck der Regelung, dass innerhalb der Staatsanwaltschaften auch nichtjuristisches Personal mit Massengeschäften in Übertretungsstrafsachen betraut werden können muss») immerhin davon auszugehen, dass eine juristische Ausbildung vorausgesetzt ist (in diesem Sinne auch Landshut / Bosshard in: Donatsch / Hansjakob / Lieber [Hrsg.], StPO Komm., Art. 311 N 9 m.w.H.).
Das kantonale St. Galler Recht kennt ebenfalls keine Mindestanforderungen für die Funktion der Staatsanwältin oder des Staatsanwaltes. Unterschieden wird in der Funktion indessen zwischen Staatsanwälten (inkl. dem Ersten und den Leitenden Staatsanwälten) sowie Sachbearbeitern mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen (SmsB, Art. 10 ff. EG-StPO). Letztere sind Verwaltungsbeamte im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGE 142 IV 70 E. 4.2). Der oder die SmsB führt gemäss Art. 13 Abs. 1 EG-StPO «auf Anordnung und unter Verantwortung der Staatsanwältin oder des Staatsanwaltes Untersuchungen, verfügt die Nichtanhandnahme, sistiert das Verfahren oder stellt es ein, erlässt einen Strafbefehl oder erhebt Anklage, wenn als Sanktion voraussichtlich eine Busse, eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen, gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden oder eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten in Betracht kommt».
e) Nach dem zuvor Gesagten erweist sich Art. 13 Abs. 1 EG-StPO insofern als nicht bundesrechtskonform, als SmsB bloss in Übertretungsstrafverfahren Untersuchungen führen dürfen. Sie sind daher gemäss der StPO entgegen Art. 13 Abs. 1 EG-StPO nicht befugt, einen Strafbefehl zu erlassen oder Anklage zu erheben, wenn als Sanktion eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen, gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden oder eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten in Betracht kommt, sprich wenn Vergehen und Verbrechen Gegenstand des Verfahrens sind. Das Bundesrecht räumt dem kantonalen Gesetzgeber keinen entsprechenden Freiraum ein.
Nicht weiter von Belang ist in diesem Zusammenhang, dass SmsB gemäss Art. 13 Abs. 1 EG-StPO «auf Anordnung und unter Verantwortung der Staatsanwältin oder des Staatsanwaltes» tätig sind. Wie bereits erläutert, können vom Staatsanwalt bloss einzelne Untersuchungshandlungen an Verwaltungsbeamte delegiert werden (Art. 311 Abs. 1 Satz 2 StPO). Sobald ein Vergehen oder Verbrechen untersucht wird, hat die Untersuchung von einer Staatsanwältin oder einem Staatsanwalt selber geführt zu werden. Wesentliche Untersuchungshandlungen wie z.B. die Anklageerhebung sind in jedem Fall von einer Staatsanwältin oder einem Staatsanwalt vorzunehmen. Aus den Akten geht im Übrigen auch nicht hervor, inwiefern der fallführende SmsB vorliegend i.S.v. Art. 13 Abs. 1 EG-StPO auf Anordnung und unter Verantwortung einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwaltes tätig gewesen wäre. Zudem ist auch unbestritten und aufgrund der Formulierung von Art. 13 Abs. 1 StPO ausgewiesen, dass es sich beim SmsB eben gerade nicht um einen Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin handelt.
f) Im vorliegenden Fall wurde die Untersuchung durchgehend von einem SmsB geführt und schliesslich erhob er auch Anklage (vgl. Untersuchungsakten sowie die Anklageschrift). Es ist daher davon auszugehen, dass der SmsB nach ergangener Zuteilung des Falles (vgl. dazu auch die Ausführungen in act. B/15, S. 2) die Untersuchung eigenständig geführt und zum Abschluss gebracht hat. Gegenstand des Verfahrens respektive der Anklage ist dabei ein Vergehen (Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG i.V.m. Art. 102 Abs. 1 SVG und Art. 10 Abs. 3 StGB). Wie zuvor ausgeführt, war dieses Vorgehen nicht bundesrechtskonform, da der SmsB zumindest nicht zur Anklageerhebung berechtigt ist. Deshalb kann mangels gültiger Anklage zurzeit kein (materieller) Entscheid ergehen. Demzufolge erging auch der vorinstanzliche Entscheid auf Basis einer ungültigen Anklage.
3. Die Anklage wird daher im Sinne der vorstehenden Erwägungen zur Ergänzung respektive Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Das Verfahren bleibt nicht beim Kantonsgericht hängig (Art. 379 i.V.m. Art. 329 Abs. 3 StPO), sondern wird als erledigt abgeschrieben und wird wieder bei der Staatsanwaltschaft hängig.
Entscheid ST.2016.82 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 29.11.2017
Mitbeschuldigte müssen gemeinsam beurteilt werden
Die Staatsanwaltschaft muss Verfahren gegen Mitbeteiligte vereinigen. Eine Trennung solcher Verfahren ist nur ausnahmsweise und bei Vorliegen sachlicher Gründe zulässig.
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen führt gegen X. eine Strafuntersuchung wegen Verdachts der mehrfachen qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. X. beantragte die Vereinigung des Verfahrens mit dem ebenfalls in Schaffhausen geführten Verfahren gegen den Mitbeschuldigten Y. Die Staatsanwaltschaft wies diesen Antrag ab. Die dagegen gerichtete Beschwerde von X. hiess das Obergericht gut.
Aus den Erwägungen:
2. Art. 29 StPO regelt den Grundsatz der Verfahrenseinheit. Straftaten werden unter anderem gemeinsam verfolgt und beurteilt, wenn Mittäterschaft oder Teilnahme vorliegt (Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO). Nebst Mittäterschaft werden von dieser Bestimmung auch die mittelbare Täterschaft und die Nebentäterschaft erfasst. Unter den Begriff der Teilnahme fallen Anstiftung und Gehilfenschaft nach Art. 24 f. StGB (BGE 138 IV 29, E. 3.2, S. 31). Der Grundsatz der Verfahrenseinheit bezweckt die Verhinderung sich widersprechender Urteile, sei dies bei der Sachverhaltsfeststellung, der rechtlichen Würdigung oder der Strafzumessung. Er gewährleistet das Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 BV; BGer 1B_11/2016 vom 23. Mai 2016, E. 2.2). Überdies dient er der Prozessökonomie (BGE 138 IV 29, E. 3.2 S. 31). Der Grundsatz gilt auch im staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsverfahren (BGE 138 IV 214 E. 3.6 f., S. 220 f.).
In Konstellationen gemäss Art. 29 StPO ist eine Verfahrenstrennung nur bei Vorliegen sachlicher Gründe zulässig und muss die Ausnahme bleiben (Art. 30 StPO). Die sachlichen Gründe müssen objektiver Natur sein. Rein organisatorische Aspekte auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden genügen nicht.
In Rechtsprechung und Literatur werden als sachliche Gründe solche genannt, die der Verfahrensbeschleunigung dienen bzw. eine unnötige Verzögerung vermeiden sollen. Sachliche Gründe können etwa eine grosse Anzahl Mittäter bei Massendelikten sein, die Unerreichbarkeit beschuldigter Personen, z.B. infolge langwieriger Auslieferungsverfahren, oder die drohende Verjährung von Übertretungen (BGE 138 IV 214, E. 3.2, S. 219; BGer 1B_86/2015, 1B_105/2015 vom 21. Juli 2015, E. 2 und 6B_295/2016 vom 24. Oktober 2016, E. 2.3; Urs Bartetzko in: Niggli / Heer / Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung/Jugendstrafprozessordnung, Art. 1–195 StPO, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 30 N. 3, S. 265; Fingerhuth / Lieber, in: Donatsch /Hansjakob / Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Straf- prozessordnung [StPO], 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2014, Art. 30 N. 2, S. 197).
Namentlich bei mutmasslichen Mittätern und Teilnehmern ist eine Abtrennung des Verfahrens äusserst problematisch, wenn der Umfang und die Art der Beteiligung wechselseitig bestritten ist und somit die Gefahr besteht, dass der eine Mitbeschuldigte die Verantwortung dem andern zuweisen will (BGer 1B_11/2016 vom 23. Mai 2016, E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 116 Ia 305, E. 4b und 134 IV 328, E. 3.3 S. 334, BGer 1B_124/2016 vom 12. August 2016, E. 4.5).
Zu beachten ist auch, dass eine getrennte Führung von Strafverfahren gegen mutmassliche Mittäter und Teilnehmer schwerwiegende Konsequenzen für die Parteirechte der Betroffenen nach sich zieht. Es besteht gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kein gesetzlicher Anspruch auf Teilnahme an den Beweiserhebungen und an den Einvernahmen der anderen beschuldigten Personen im eigenständigen Untersuchungs- oder Hauptverfahren. Ebenso wenig hat der separat Beschuldigte in den abgetrennten Verfahren einen Anspruch auf Akteneinsicht als Partei. Schon angesichts dieser schwerwiegenden prozessualen Konsequenzen ist an die gesetzlichen Ausnahmevoraussetzungen einer Verfahrenstrennung bzw. einer getrennten Führung von Strafverfahren ein strenger Massstab anzulegen (BGer 1B_124/2016 vom 12. August 2016, E. 4.6).
4.1 In Frage steht eine Konstellation im Sinne von Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO (vorangehende E. 2), zumal dem Beschwerdeführer und Y. insb. zur Last gelegt wird, beim Drogenschmuggel zusammengewirkt zu haben. Ob hierbei Mittäterschaft oder eine andere Teilnahmeform vorliegt, ist nicht in diesem Verfahren zu klären. Zusätzlich wird dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, Drogen in die Schweiz eingeführt zu haben.
4.3 In den Akten finden sich verschiedene Anhaltspunkte, wonach Y. nicht nur an einem einzigen Drogentransport beteiligt gewesen sein könnte. Insbesondere hielt er sich schon vor seiner Festnahme in der Schweiz auf. Seine Erklärung, kurze Zeit vor seiner Festnahme mit dem Flugzeug alleine als Tourist in die Schweiz gereist zu sein, um das Land kennenzulernen, weil es hier schöne Landschaften, schöne Frauen und viel Freiheit gebe, ist bereits deshalb nicht plausibel und zumindest höchst widersprüchlich, weil er den Drogentransport damit begründet hatte, dringend Geld gebraucht zu haben und verzweifelt gewesen zu sein, da er eine Familie mit einer neugeborenen Tochter ernähren müsse.
Ein weiterer Aufenthalt von Y. in der Schweiz im Januar 2016 erscheint aufgrund der Akten ebenfalls wahrscheinlich. Ausserdem ergab die Mobilfunkauswertung, dass zwischen dem vom Beschwerdeführer verwendeten Mobiltelefon und der Nummer von Y. zahlreiche Kontakte bzw. Kontaktversuche in den Wochen vor dessen Festnahme erfolgt waren. Damit kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer und Y. über den Transport hinaus deliktisch zusammengewirkt haben.
Zwar kam das Bundesstrafgericht im Beschluss vom 9. März 2017 (BG.2017.5) zum Ergebnis, weder aus den Telefonüberwachungen noch aus den Einvernahmen habe sich der Verdacht verdichtet, dass – beim damaligen Verfahrensstand – von einer Organisation mit zugedachten Rollen- und Aufgabenteilungen und dem Willen zu zukünftigen Straftaten gesprochen werden könne und höchstens punktuelle Mittäterschaft in Bezug auf eine beschränkte Anzahl Straftaten vorliege. Selbst wenn aber ein bandenmässiges Vorgehen nicht hinreichend erstellt wäre (dazu vorangehende E. 4.2), stünde dies angesichts der sachlich eng verzahnten Vorwürfe gegen die beiden Beschuldigten einer Verfahrensvereinigung nicht zum vornherein im Weg, umso weniger, als nicht hinreichend feststeht, dass Y. hierarchisch lediglich untergeordnet bzw. nur Transporteur gewesen war, sondern die Rollenverteilung noch nicht abschliessend feststeht.
4.4 Dem Argument der erheblichen Auswirkungen einer getrennten Verfahrensführung auf die Teilnahmerechte der Beschuldigten (BGer 1B_124/2016 vom 12. August 2016 E. 4.6 m. H.) kommt im vorliegenden Fall insofern keine ausschlaggebende Bedeutung mehr zu, als die Untersuchung der Staatsanwaltschaft in den beiden Verfahren weitgehend abgeschlossen ist. Damit sind Implikationen der getrennten Verfahren auf die Beschuldigtenrechte grundsätzlich entsprechend geringer. Im konkreten Fall wurden die Teilnahmerechte ausserdem namentlich mit den beiden Konfrontationseinvernahmen gewahrt, wie die Staatsanwaltschaft zu Recht festhält.
4.5.1 Wie dargelegt (E. 2), bezweckt der Grundsatz der Verfahrenseinheit aber insbesondere auch die Verhinderung sich widersprechender Urteile, weshalb sich aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 8 BV) eine getrennte Verfahrensführung verbieten kann, wenn Art und Umfang der Beteiligung wechselseitig bestritten werden.
5. Zusammenfassend erweist sich die Beschwerde als begründet. Die Verfügung ist aufzuheben und die Sache ist zur Verfahrensvereinigung und zur neuen Entscheidung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen (Art. 397 Abs. 2 StPO).
Entscheid OGE 51/2017/50 des Obergerichts Schaffhausen vom 26.1.2018
Anwaltsrecht
Entbindung vom Amtsgeheimnis kostenpflichtig
Wer als Anwalt Anlass zu einem Verfahren gibt, trägt in der Regel die Kosten. Das gilt auch für die Entbindung vom Berufsgeheimnis. Die Frage einer Parteientschädigung stellt sich nicht, da es sich nicht um ein Zweiparteienverfahren handelt.
Sachverhalt:
Eine Anwältin ersuchte die Luzerner Aufsichtsbehörde über die Anwälte um Entbindung vom Berufsgeheimnis. Sie hatte vorher ihre Klientin nicht um die Entbindung ersucht. Die Anwältin forderte neben der Kostenauflage an ihre Klientin auch eine Parteientschädigung.
Aus den Erwägungen:
4.1 Die Gerichtsgebühr wird in Anwendung von § 15 Abs. 1 AnwG der Gesuchstellerin auferlegt. Gemäss konstanter Praxis der Aufsichtsbehörde wird gefordert, dass der Anwalt vor Einleitung des Verfahrens soweit möglich den Klienten (erfolglos) um freiwillige Entbindung vom Berufsgeheimnis ersucht. Die Entbindung durch die Aufsichtsbehörde ist insofern subsidiär (Fellmann, Anwaltsrecht, 2. Aufl. 2017, S. 251, N 590; Brunner / Henn / Kriesi, Anwaltsrecht, Zürich 2015, Kap. 5 N 57 und N 89).
Die Gesuchstellerin hat die Gesuchsgegnerin vor Einleitung des Verfahrens nicht um freiwillige Entbindung vom Berufsgeheimnis ersucht und sie damit nicht über die von ihr für den Weigerungsfall geplante Anrufung der Aufsichtsbehörde orientiert. Damit ist die Subsidiarität des vorliegenden Verfahrens aufgrund des Verhaltens der Gesuchstellerin nicht gegeben. Die amtlichen Kosten werden auf 300 Franken festgesetzt (§ 13 Abs. 1 der Verordnung über die Kosten in Zivil-, Straf- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren [Justiz-Kostenverordnung, JusKV; SRL Nr. 265]).
4.2 Das Gesuch um Entbindung vom Berufsgeheimnis wird von der Aufsichtsbehörde nicht in einem Zweiparteienverfahren im eigentlichen Sinne behandelt (vgl. RBOG 1993 S. 173; ZGGVP 1989 S. 126). Es richtet sich zwar formell gegen den Klienten in seiner Stellung als Geheimnisherr, der die Einwilligung verweigert (Kaspar Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, Zürich 2009, Rz 621). Dem Klienten wird auch das rechtliche Gehör gewährt, um ihm Gelegenheit zu geben, aus seiner Sicht Interessen darzulegen, welche gegen die Entbindung vom Berufsgeheimnis sprechen könnten (vgl. Fellmann, a.a.O., S. 252, N 593).
Während es dem Klienten freisteht, seine Einwilligung zu erteilen bzw. zu verweigern oder zum Gesuch um Entbindung Stellung zu nehmen, hat die Aufsichtsbehörde über das Gesuch um Entbindung zu entscheiden und ist dabei an die vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen gebunden. Sie hat das Gesetz anzuwenden und darf nur vom Berufsgeheimnis entbinden, wenn ein vom Gesetz vorgesehener Rechtfertigungsgrund vorliegt (vgl. Nater / Zindel, in: Komm. zum Anwaltsgesetz [Hrsg. Fellmann / Zindel], 2. Aufl. 2011, Art. 13 BGFA N 137; vgl. Kaspar Schiller, a.a.O., Rz 624). Beim Entscheid über das Gesuch um Entbindung vom Berufsgeheimnis hat die Aufsichtsbehörde die Interessen des Anwalts an der Offenbarung des Geheimnisses gegen die Interessen des Klienten an der Geheimhaltung sowie das institutionell begründete Interesse an der Vertraulichkeit abzuwägen und in diesem Sinne eine Güterabwägung vorzunehmen. Dabei hat sie in Rechnung zu stellen, dass das Berufsgeheimnis einen hohen Stellenwert hat und sie grundsätzlich nur davon entbinden darf, wenn dem Geheimhaltungsinteresse des Klienten ein deutlich höheres öffentliches oder privates Interesse gegenübersteht (Fellmann, a.a.O., S. 252 N 594 mit Hinweisen).
Die Entbindung vom Berufsgeheimnis stellt daher einen Akt der Justizverwaltung dar. Die Aufsichtsbehörde ist beim Entbindungsverfahren der Offizialmaxime verpflichtet und hat eine sachgerechte und möglichst umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Es ist dementsprechend auch nicht entscheidend, ob der Klient und Geheimnisherr als Gesuchsgegner am Verfahren beteiligt ist oder nicht. Es sei hier ergänzend darauf hingewiesen, dass es – aufgrund der zeitlichen Unbegrenztheit des Anwaltsgeheimnisses – Gesuche um Entbindung vom Berufsgeheimnis gibt, welchen kein Klient bzw. Geheimnisherr gegenübersteht.
Da vorliegend nicht in einem Zweiparteienverfahren im eigentlichen Sinne entschieden wird, besteht für die Zusprechung einer Parteientschädigung keine Grundlage. Der diesbezügliche Antrag der Gesuchstellerin wäre auch aus diesem Grund abzuweisen. Ergänzend kann darauf hingewiesen werden, dass ein Anspruch auf eine Parteientschädigung im Kanton Zürich schon von Gesetzes wegen ausgeschlossen ist (Brunner / Henn / Kriesi, a.a.O., Kap. 5 N 119 mit Hinweis).
Entscheid AR 17 64/LGVE 2017 V Nr. 1 der Luzerner Aufsichtsbehörde über die Anwältinnen und Anwälte vom 7.11.2017