Zivilrecht
Aufhebungsvertrag: Bei Ungültigkeit normale Kündigung
Ein Vertrag auf Aufhebung des Arbeitsverhältnisses im gegenseitigen Einvernehmen ist ungültig, wenn sich
eine Angestellte nicht aller Konsequenzen bewusst war, die der Aufhebungsvertrag für sie hatte. Ist der Vertrag ungültig, ist von einer ordentlichen Kündigung durch den Arbeitgeber auszugehen.
Sachverhalt:
X. war seit dem 1. Februar 2001 bei der Y. AG als Sekretärin und Office Managerin angestellt. A. ist Präsident und Delegierter mit Einzelunterschrift der im Handelsregister eingetragenen Y. AG. Aufgrund eines E-Mails ihres Chefs über die Bonuszahlungen an die Mitarbeiter kam es zwischen der Klägerin und ihrem Chef zu einer intensiv geführten Diskussion. Die Klägerin war mit den Bonuszahlungen nicht einverstanden.
Nach weiteren Auseinandersetzungen unterzeichneten die Parteien einen handschriftlich von der Arbeitgeberin verfassten Aufhebungsvertrag. Darin wurde vereinbart, dass das Arbeitsverhältnis im gegenseitigen Einverständnis per Ende 2013 aufgelöst werde, X. ab sofort freigestellt sei und ihr der Lohn bis Ende Dezember 2013 ausgezahlt werde.
Am 20. Januar 2014 teilte die Klägerin der Beklagten schriftlich mit, dass sie Einsprache gegen den Aufhebungsvertrag bzw. die ungerechtfertigte fristlose Entlassung einreiche. Am 16. Mai 2014 reichte X. beim Arbeitsgericht des Kantons Wallis Klage gegen die Y. AG ein und forderte brutto rund 29000 Franken. Sie führte aus, der unterzeichnete Aufhebungsvertrag sei nicht zulässig gewesen, da er lediglich dazu gedient habe, die gesetzlichen Schutzbestimmungen der Arbeitnehmerin zu umgehen, und sie zudem vom Chef unter Druck gesetzt worden sei, diesen von ihm vorbereiteten Vertrag am 5. Dezember 2013 sofort zu unterzeichnen. Der Chef habe ihr Begehren um Bedenkzeit ignoriert und auf der sofortigen Unterzeichnung des Vertrages bestanden. Die erste Instanz wies die Klage ab, worauf die Klägerin Berufung erklärte.
Aus den Erwägungen:
4. Die Berufungsklägerin behauptet, der Aufhebungsvertrag sei wegen der nicht eingeräumten Bedenkzeit ungültig.
4.1 Nach Art. 341 Abs. 1 OR ist ein Verzicht des Arbeitnehmers auf Forderungen, die sich aus zwingenden Gesetzesbestimmungen ergeben, nichtig, wenn er während des Arbeitsverhältnisses oder während eines Monats nach dessen Beendigung erfolgt (Bundesgerichtsurteil 4C.390/2005 vom 2. Mai 2006 E. 2). Diese Bestimmung will den sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befindenden, sozial schwächeren Arbeitnehmer davor schützen, dass er während oder kurz nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses aus Furcht vor nachteiligen Folgen Verzichtserklärungen abgibt (BGE 105 II 39).
Dass der Aufhebungsvertrag während des Arbeitsverhältnisses, nämlich am 5. Dezember 2013 abgeschlossen wurde, ist unbestritten.
4.2 Art. 341 Abs. 1 OR verbietet nur den einseitigen Verzicht und nicht auch den Vergleich, bei dem beide Parteien auf Ansprüche verzichten und damit ihr gegenseitiges Verhältnis klären (BGE 119 II 449 E. 2a, 118 II 58 E. 2a mit Hinweisen, Bundesgerichtsurteile 4A_103/2010 vom 16. März 2010 E. 2.2, 4C.390/2005 vom 2. Mai 2006 E. 3.1 und 4C. 230/2005 vom 1. September 2005 E. 2). Ein Vertrag über die Aufhebung eines Arbeitsverhältnisses kann mithin zulässig sein. Er darf jedoch nicht zu einer klaren Umgehung des zwingendes gesetzlichen Kündigungsschutzes führen (Bundesgerichtsurteil 4A_563/2011 vom 19. Januar 2012 E. 4.1).
Ein Aufhebungsvertrag hat für den Arbeitnehmer einschneidende Folgen. Er lässt den Kündigungsschutz entfallen (vgl. Art. 336 ff. OR) und verkürzt den Anspruch auf Arbeitslosengeld (siehe Art. 30 Abs. 1 a AVIG; Bundesgerichtsurteil 4C.230/2005 vom 1. September 2005 E. 2 mit weiteren Hinweisen). Liegt der einvernehmlich festgelegte Endtermin vor dem Ende der Kündigungsfrist, wie dies vorliegend der Fall ist, so geht der Arbeitnehmer mit dem Abschluss eines Aufhebungsvertrags zudem eines Teils seines Lohnanspruchs verlustig.
Es widerspricht der Lebenserfahrung, dass der Arbeitnehmer auf derartige Vorteile ohne Gegenleistung verzichtet. Der Aufhebungsvertrag bedarf daher einer Rechtfertigung durch die Interessen des Arbeitnehmers (Bundesgerichtsurteil 4C.230/2005 vom 1. September 2005 E. 2 mit weiteren Hinweisen). Es ist folglich stets zu prüfen, was der mutmassliche Verzicht des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer tatsächlich bedeutet (Bundesgerichtsurteil 4C.37/2005 vom 17. Juni 2005 E. 2.2). Im Einzelfall hat eine Interessenabwägung zu erfolgen, wobei zu beurteilen ist, ob die beidseitigen Ansprüche, auf die verzichtet wird, von ungefähr gleichem Wert sind (Bundesgerichtsurteil 4C.27/2002 vom 19. April 2002 E. 3, in: SJ 2003 1 S. 220). Die Vermutung, dass der Arbeitnehmer zu einer einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses Hand bieten will, ist mithin nicht leichthin anzunehmen (Bundesgerichturteil 4A_563/2011 vom 19. Januar 2012 E. 4.1).
Ist ein übereinstimmender Wille, das Arbeitsverhältnis zu beenden, erstellt, ist für die Gültigkeit einer solchen Vereinbarung – soweit sie einen Verzicht auf Ansprüche aus zwingendem Recht bedeutet – zusätzlich vorausgesetzt, dass es sich beim Aufhebungsvertrag um einen echten Vergleich handelt, bei welchem beide Parteien Konzessionen machen (BGE 118 II 58 E. 2b mit Hinweisen; Bundesgerichtsurteil 4A_103/2010 vom 16. März 2010 E. 2.2).
Zwar ist die Unterbreitung und Gegenzeichnung eines durch den Arbeitgeber vorbereiteten Auflösungsdokumentes anlässlich einer einzigen Sitzung möglich (TC VD, JAR 2011 S. 586 ff.), es muss dem Arbeitgeber aber gleichwohl hinreichend Möglichkeit zur Reflexion bleiben (Rehbinder / Stöckli, Berner Kommentar, Der Arbeitsvertrag, 2. Aufl., 2014, N. 3 zu Art. 335 OR mit Hinweisen).
Das Bundesgericht hielt in seinem Urteil 4A_364/2016 vom 31. Oktober 2016 E. 3.1 f. fest: «Une résiliation conventionelle ne doit être admise qu’avec retenue. Elle suppose notamment que soit prouvée sans équivoque la volonté des intéressés de se départir du contrat. Lorsque l’accord est préparé par l’employeur, il faut en outre que le travailleur ait pu bénéficier d’un délai de réflexion et n’ait pas été pris de cout au moment de la signature. L’accord de résiliation qui ne satisfait pas aux conditions susmentionnées ne lie pas les parties.»
Vorliegend hat A. den Aufhebungsvertrag vorbereitet und der angestellten Berufungsklägerin vorgelegt. Daran ändert sich auch nichts, wenn dieser Aufhebungsvertrag im Laufe der Diskussion zugunsten der Arbeitnehmerin abgeändert wurde. Zwischen den beiden (X. und A.) bestand zudem eine Konfliktsituation. Der Sitzung vom 5. Dezember 2013 war nämlich am Vortag eine heftige Diskussion bezüglich der Boni vorausgegangen, die am Arbeitsplatz ausgetragen wurde, und damit hatte die Klägerin ihrem Chef klar und deutlich mitgeteilt, dass sie damit nicht einverstanden war, was A. nicht goutierte. Anlässlich dieser ersten Diskussion war lediglich die Rede davon, dass die Arbeitgeberin kündigen könne, nicht dagegen von einer gegenseitigen Vertragsauflösung des Arbeitsverhältnisses. Der Aufhebungsvertrag wurde erstmals an der Sitzung vom 5. Dezember 2013 – wiederum am Arbeitsplatz – zum Thema, der Berufungsklägerin von A. unterbreitet und schliesslich in derselben Sitzung unterzeichnet.
Aufgrund der obgenannten zitierten Lehre und Rechtsprechung hätte der Berufungsklägerin in dieser Situation Gelegenheit eingeräumt werden müssen, sich in zeitlicher Distanz und im Abstand zu ihrem Chef, dem Präsidenten ihrer Arbeitgeberin, mit der Aufhebungsvereinbarung auseinanderzusetzen.
Dies ist in casu nicht geschehen, weshalb der Aufhebungsvertrag ungültig ist und die Parteien nicht daran gebunden sind. Mithin ist bereits aus diesem Grund die Berufung gutzuheissen.
5. Das Kantonsgericht kann sich zudem der Ansicht des Arbeitsgerichts, «dass sich die Klägerin des Inhaltes und der Konsequenzen des am 5. Dezember 2013 unterzeichneten Dokumentes durchaus bewusst war», so nicht anschliessen.
Es erscheint zwar richtig, dass sich die Berufungsklägerin darüber im Klaren war, dass sie nach dem 5. Dezember 2013 nicht mehr zur Arbeit erscheinen müsse, ihr der Lohn noch bis Ende Dezember 2013 ausgezahlt werde und zudem auch noch angenommen werden kann, dass sie sich bewusst war, dass ihre Arbeitgeberin wegen der Tatsache, dass das Arbeitsverhältnis aufgelöst wird, keine Pensionskassenbeiträge für sie einzahlen werde. Mehr jedoch nicht. Dies sind denn auch nicht alle Konsequenzen, denen sich ein Arbeitnehmer bewusst sein muss, wenn er einen Aufhebungsvertrag unterzeichnet.
Ob die Berufungsklägerin auf ihren Kündigungsschutz verzichten wollte, erscheint äusserst fraglich. Zudem steht keinesfalls fest, dass sie sich der Kürzung des Arbeitslosengeldes bewusst war, wenn sie einen Aufhebungsvertrag unterzeichnet. Darüber haben die Parteien nämlich kein Wort verloren. Zumindest geht nichts dergleichen aus dem Dossier hervor. Da auch ein Schadenersatzanspruch seitens der Arbeitgeberin zur Diskussion stand, geht das Kantonsgericht davon aus, dass dadurch ein massiver Druck auf der Arbeitnehmerin lastete und sie auch daher den Aufhebungsvertrag unterzeichnete, wobei sie sich keinesfalls bewusst war, inwieweit die Schadenersatzforderungen der Arbeitgeberin gerechtfertigt waren oder nicht und wie hoch ein allfälliger Schadenersatzanspruch wäre. Zudem wurde ihr ja die Möglichkeit einer Überprüfung derselben durch die sofortige Vertragsunterzeichnung verunmöglicht.
Mithin steht für das Kantonsgericht fest, dass sich die Berufungsklägerin keinesfalls aller einschneidenden Folgen des abgeschlossenen Aufhebungsvertrages bewusst war.
Aus der Sicht des Kantonsgerichts liegt zudem kein Verzicht auf ungefähr gleich hohe Werte vor.
Die Arbeitgeberin verzichtete auf die Dienste der Angestellten bis zum 31. Dezember 2013, obwohl sie ihr noch den Lohn bezahlte. Durch den Wegfall der Arbeitskraft der Berufungsklägerin mussten die anderen Angestellten der Berufungsbeklagten mehr arbeiten und Überstunden leisten.
Ob und allenfalls auf welchen Schadenersatz in welcher Höhe sie verzichtet hat, ist nicht bekannt.
Demgegenüber hatte die abgeschlossene Vereinbarung für die Arbeitnehmerin den Vorteil, dass sie nicht mehr zu arbeiten brauchte und dennoch den Lohn bis Ende Dezember erhielt.
Bei einer ordentlichen Kündigung hätte sie noch bis Ende März 2014 arbeiten müssen und hätte dafür einen Bruttolohn von 18000 Franken erhalten. Zusätzlich wäre die Arbeitgeberin verpflichtet gewesen, den Pensionskassenanteil für die Arbeitnehmerin zu bezahlen. Zudem hätte die Arbeitnehmerin bei einer ordentlichen Kündigung durch die Arbeitgeberin keinen Verlust bei der Arbeitslosenentschädigung hinnehmen müssen.
Der Verzicht der Arbeitnehmerin ist mithin weitaus höher als der Verzicht der Arbeitgeberin, sodass der Aufhebungsvertrag auch aus diesem Grunde nicht gültig ist. Die Berufung ist auch aus diesem Grunde gutzuheissen.
Aufgrund der Tatsachen, dass sich die Klägerin nicht aller Konsequenzen bewusst war, die der Aufhebungsvertrag für sie hatte, des lediglich beschränkten Interessenausgleichs sowie der Nichteinräumung einer Bedenkzeit kommt das Kantonsgericht zum Schluss, dass ein ungültiger Aufhebungsvertrag vorliegt.
6. Nachdem die Ungültigkeit des vorliegenden Aufhebungsvertrages feststeht, stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen.
Liegt ein ungültiger Aufhebungsvertrag vor, sind sich Lehre und Rechtsprechung darüber uneins, wie zu verfahren ist (Streiff /Von Kaenel / Rudolph, Praxiskommentar Arbeitsrecht, N. 10 zu Art. 335 OR). Verschiedentlich wurde in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, es liege Nichtigkeit vor, weshalb die Parteien in die Lage zu versetzen seien, als ob nie ein Aufhebungsvertrag existiert hätte (Bundesgerichtsurteile 4A_495/2007 vom 12. Januar 2009 E. 4.3.2.1 und 4A_376/2010 vom 30. September 2010 E. 3). Die Lehre stellt sich demgegenüber auch auf den Standpunkt, dass das Arbeitsverhältnis vorbehältlich der Bestimmung von Art. 336c Abs. 2 OR dennoch als beendet anzusehen sei, wobei dem Arbeitnehmer jedoch die umgangenen gesetzlichen oder gesamtarbeitsvertraglichen Ansprüche (z.B. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) erhalten blieben. Dabei ist auf die zwingenden gesetzlichen oder gesamtarbeitsvertraglichen Kündigungsfristen abzustellen (Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen BO.2016.10 vom 26. Oktober 2016 E. 2b mit Hinweisen).
Im vorliegenden Fall erscheint es sachgerecht, von einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses auszugehen, zumal die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis offensichtlich nicht fortführen wollte, hatte doch A. – nachdem er die Arbeitnehmerin für 17 Uhr ins Büro bestellt hatte – gegoogelt und so einen Aufhebungsvertrag für die Sitzung am späteren Nachmittag vorbereitet.
Unklar ist indessen, was genau die Klägerin beabsichtigte. Gemäss B. hatte A. der Klägerin gesagt, sie könne ja gleich kündigen und später habe sie A. gegenüber erklärt, sein Angebot anzunehmen. Ob sie nun bereit war, selber zu kündigen oder mit einer Kündigung seitens der Arbeitgeberin einverstanden war, ist unklar. Auf alle Fälle schloss sie die Auflösung des Arbeitsverhältnisses als Folge einer Kündigung nicht aus, sodass mithin von einer rechtswirksamen Kündigung auszugehen ist und der Klägerin daher die umgangenen gesetzlichen und vertraglichen Ansprüche zuzugestehen sind.
Relevant ist insbesondere, ob gemäss den Bestimmungen von Art. 337 ff. OR bei einer fristlosen Kündigung oder nach Art. 336 OR bei einer ordentlichen Kündigung zu verfahren ist. Diesbezüglich ist auf das abzustellen, was die Arbeitgeberin ursprünglich beabsichtigt hat. A. erklärte der Klägerin, sie könne ja gleich kündigen, und schlug dann selber die Unterzeichnung des Aufhebungsvertrages vor, wobei die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses gemäss seinen eigenen Angaben per 15. Dezember 2013 – demnach nicht per sofort – erfolgen sollte. Die Klägerin war damit nicht einverstanden und die Parteien einigten sich auf die Vertragsaufhebung per 31. Dezember 2013.
Es ist Sache der Arbeitnehmerin zu beweisen, dass eine Arbeitgeberin eine fristlose Kündigung angestrebt hatte (Emmel, in: Huguenin / Müller-Chen, Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Vertragsverhältnisse Teil 2, 3. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2016, N. 4 zu Art. 335 OR). Dies wurde vorliegend nicht bewiesen, sodass von einer ordentlichen Kündigung auszugehen ist.
Urteil C1 16 14 des Kantonsgerichts Wallis vom 29.3.2017
Elterliche Sorge: Alleinzuteilung ist die Ausnahme
Nicht jede Konfliktsituation zwischen den Eltern gefährdet das Kindeswohl und rechtfertigt es, von der Regel der gemeinsamen Sorge abzuweichen. Zudem kommt die Alleinsorge nur in Frage, wenn dadurch einer Gefährdung des Kindeswohls wirksam begegnet werden kann.
Sachverhalt:
Die Berufungsklägerin ist mit der vorinstanzlichen Regelung, wonach die drei Töchter unter der gemeinsamen elterlichen Sorge belassen werden, nicht einverstanden. Sie ficht diese an und beantragt, die drei Kinder unter ihre alleinige elterliche Sorge zu stellen. Dies begründet sie im Wesentlichen mit einem schwerwiegenden Elternkonflikt. Der Berufungsbeklagte dagegen möchte die gemeinsame elterliche Sorge auch nach der Ehescheidung beibehalten. Er macht geltend, die von der Berufungsklägerin ins Feld geführten Kommunikations- und Kooperationsschwierigkeiten gingen allein von dieser aus, wobei die Gründe dafür nicht klar ersichtlich seien.
Aus den Erwägungen:
5. a) Umstritten ist zunächst, ob die elterliche Sorge den Parteien nach der Scheidung weiterhin gemeinsam zukommen soll oder ob diese allein der Mutter zuzuteilen ist. Wie bei allen Kinderbelangen ist auch im Bereich der elterlichen Sorge das Kindeswohl als oberste Richtlinie zu beachten (vgl. Art. 296 Abs. 1 ZGB). Gemäss Art. 296 Abs. 2 ZGB stehen die Kinder, solange sie minderjährig sind, unter der gemeinsamen elterlichen Sorge von Vater und Mutter. Die gemeinsame elterliche Sorge stellt unabhängig vom Zivilstand der Eltern, mithin auch bei geschiedenen Eltern, den Regelfall dar (BSK ZGB I-Schwenzer / Cottier, Art. 296 N 8b und Art. 298 N 2). Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass damit dem Kindeswohl am besten gedient ist. Nur wenn es zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist, überträgt das Gericht einem Elternteil (ausnahmsweise) die alleinige elterliche Sorge (Art. 298 Abs. 1 ZGB; BGer 5A_400/2015, E. 3.3; BGer 5A_186/2016, E. 4; BGer 5A_81/2016, E. 5; BGer 5A_89//2016, E. 4).
Gemäss den vom Bundesgericht erarbeiteten Richtlinien liegt ein Fall für die Alleinzuteilung der elterlichen Sorge an einen Elternteil nicht nur vor, wenn beim anderen ein Grund für die Entziehung der elterlichen Sorge nach Art. 311 Abs. 1 ZGB gegeben ist. Vielmehr kommen weitere Konstellationen vor, in denen die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl zuwiderlaufen könnte, insbesondere bei einem Dauerkonflikt zwischen den Eltern um das Kind, bei Mängeln hinsichtlich Kooperationsfähigkeit bzw. -wille und bei offenbarem Rechtsmissbrauch, wenn sich dies negativ auf das Kindeswohl auswirkt und von einer Alleinzuteilung eine Verbesserung erwartet werden kann. Die Begründungslast trägt derjenige Elternteil, der sich gegen die gemeinsame elterliche Sorge wendet (vgl. zum Ganzen BGE 141 III 472, E. 4.4 ff.; BSK ZGB I-Schwenzer / Cottier, Art. 298 N 13 f.; Büchler/Maranta, Das neue Recht der elterlichen Sorge, in: Jusletter vom 11. August 2014, Rz 38 ff.; Hausheer / Geiser / Aebi-Müller, Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, N 17.88 f.; Botschaft, BBl 2011, S. 9102, 9105).
Da es sich bei der Alleinzuteilung der elterlichen Sorge um den Ausnahmefall handelt, ist bei diesen Gründen eine überdurchschnittliche Intensität zu fordern; nicht jede – wohl in fast jedem Scheidungskontext vorhandene – Konfliktsituation zwischen den Eltern gefährdet das Kindeswohl und vermag deshalb ein Abweichen von der Regel der gemeinsamen Sorge zu rechtfertigen. Die Alleinsorge kommt zudem nur in Frage, wenn dadurch einer Gefährdung des Kindeswohls überhaupt wirksam begegnet werden kann (Geiser, Wann ist die Alleinsorge anzuordnen und wie ist diese zu regeln?, in: ZKE 3/2015, S. 239, 243; Büchler / Maranta, a.a.O., Rz 40).
b) Die Berufungsklägerin ficht die vorinstanzliche Regelung an, wonach die drei Töchter unter der gemeinsamen elterlichen Sorge belassen werden. Sie beantragt, die drei Kinder unter ihre alleinige elterliche Sorge zu stellen, und begründet dies im Wesentlichen mit einem schwerwiegenden Elternkonflikt. Die Kommunikation zwischen ihr und dem Ehemann sei schwierig und auf ein Minimum beschränkt. Ihre Weigerung und ihr Unvermögen, mit ihm zu kommunizieren, hingen mit der häuslichen Gewalt zusammen, welche im Juli 2013 ihren Anfang genommen habe und bei ihr zu einer chronischen und erheblichen psychischen Belastung geführt habe. Es sei davon auszugehen, dass die Entscheidungsfindungen in wichtigen Angelegenheiten der Kinder in Zukunft nicht funktionieren würden. Die Kommunikationsschwierigkeiten wirkten sich bereits jetzt negativ auf das Kindeswohl aus und von der Alleinzuteilung könnten eine Verbesserung und ein geringeres Konfliktpotenzial erwartet werden.
Der Berufungsbeklagte möchte die gemeinsame elterliche Sorge auch nach der Ehescheidung beibehalten. Die von der Berufungsklägerin ins Feld geführten Kommunikations- und Kooperationsschwierigkeiten gingen allein von dieser aus, wobei die Gründe dafür nicht klar ersichtlich seien. Nach ihren Aussagen bei der Staatsanwaltschaft habe zu keinem Zeitpunkt häusliche Gewalt bestanden. Zudem verhalte sich die Mutter widersprüchlich, wenn sie sich verschiedene Male positiv über ihn, den Ehemann, äussere und danach wieder unerklärliche Vorwürfe gegen ihn erhebe und ihm aktuell seit September 2016 grundlos das Besuchsrecht verweigere.
c) Die Familiengeschichte vermittelt den Eindruck, dass die Beziehung zwischen den Eltern in der Vergangenheit wechselhaft war. So trennten sich die Eheleute zum ersten Mal bereits im Jahr 2010 für längere Zeit, fanden dann aber im Verlaufe des Jahres 2012 wieder zueinander, bevor sie sich Mitte 2013 endgültig trennten. In der Folge stellte die Berufungsklägerin Strafantrag gegen ihren Ehemann und warf ihm vor, gegen sie wiederholt und massiv tätlich geworden zu sein. Allerdings zog sie ihre anfänglichen Anschuldigungen später grösstenteils wieder zurück. Zudem ergab die Überprüfung ihrer anfänglichen Aussagen durch die Staatsanwaltschaft, dass diese in zeitlicher und örtlicher Hinsicht teilweise nicht mit den tatsächlichen Begebenheiten übereinstimmten. Dies führte im Ergebnis dazu, dass das Strafverfahren gegen den Ehemann eingestellt wurde. Im vorliegenden Verfahren beharrt die Ehefrau wiederum auf dem Standpunkt, dass der Ehemann Gewalt gegen sie angewendet habe. Letztlich bleibt unklar, ob und inwiefern der Ehemann Gewalt gegen die Ehefrau ausgeübt hat. Jedoch ist auf der Grundlage der Einstellungsverfügung und deren Begründung im vorliegenden Verfahren von einem straflosen Verhalten des Ehemannes auszugehen.
Auch das Besuchsrecht ist geprägt von einem Auf und Ab. Zu Beginn der Trennung war die Mutter nicht bereit, die beiden älteren Mädchen zu den begleiteten Besuchstagen zu bringen, was zur Folge hatte, dass viele Besuchstermine ausfielen. Später schien sie die unbegleiteten Kontakte zwischen dem Vater und den Kindern zu unterstützen. An der Einigungsverhandlung im Scheidungsverfahren gaben beide Parteien an, dass das mittlerweile unbegleitete Besuchsrecht gut funktioniere. Abweichungen vom Besuchsplan könnten sie gut und selbständig untereinander klären. Der Vater telefoniere oft mit den Kindern. Demgegenüber fanden offenbar zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 keine Besuche statt, und seit Juli 2016 haben sich Vater und Kinder – soweit ersichtlich – lediglich zweimal gesehen, obwohl der von der Beiständin aufgesetzte Besuchsplan an jedem ersten und dritten Samstag im Monat einen Besuchstag vorsehen würde. Zudem erlaubt die Mutter bereits seit längerer Zeit keine Telefonate des Vaters mehr, weil dieser beim Telefonieren mit der ältesten Tochter ein schlechtes Wort benutzt haben soll.
Die Eltern pflegen zurzeit keinen Kontakt miteinander, was hauptsächlich auf der Weigerung der Berufungsklägerin zu beruhen scheint. Sie begründet dies mit den – nicht nachgewiesenen – früheren gewalttätigen Übergriffen auf sie. Aus Furcht vor dem Ehemann könne sie Begegnungen mit ihm nicht verkraften und sich in seiner Anwesenheit nicht frei äussern.
Unter Berücksichtigung des Verhaltens der Berufungsklägerin sowohl im Strafverfahren mit Freispruch des Berufungsbeklagten als auch in den familienrechtlichen Verfahren, in welchen sie ihre Meinung offen kundzutun vermochte (vgl. vorstehend E. II.2.b), ist ihre Erklärung jedoch nicht überzeugend. Zudem zeigt die Familiengeschichte, dass die Bereitschaft der Mutter, sich mit dem Vater über die Belange der Kinder zu verständigen, im Verlauf des Scheidungsverfahrens ohne ersichtlichen Grund nach und nach dahinschwand und schliesslich ganz versiegte. Vor diesem Hintergrund ist die Weigerung der Mutter, mit dem Vater zu kommunizieren und kooperieren, in erster Linie als Mittel zum Zweck im Kampf um die alleinige elterliche Sorge einzuordnen.
d) Nach dem Gesagten ist der Elternkonflikt nicht als derart schwer einzustufen, dass die Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge an die Mutter gerechtfertigt wäre. Insbesondere vermag die Mutter – abgesehen von den nicht nachgewiesenen tätlichen Übergriffen auf sie – keine konkreten Konfliktpunkte zu nennen und es ist auch nicht aktenkundig, dass sich die Eltern in grundsätzlicher und unüberwindbarer Weise über die Belange der Kinder gestritten hätten. Vielmehr scheinen die Spannungen auf Elternebene durch die zeitweilig mehr oder weniger starke Verweigerungshaltung einseitig von der Mutter auszugehen. Auch deren Behauptung, es sei davon auszugehen, dass die Entscheidungsfindungen in wichtigen Angelegenheiten der Kinder in Zukunft nicht funktionierten, stellt keinen genügenden Grund für die Zuteilung der Alleinsorge dar. Es war nicht die Meinung des Gesetzgebers, dass ein Elternteil in abstrakter Weise auf einen Konflikt verweisen und daraus einen Anspruch auf Alleinsorge ableiten können soll (BGE 142 III 1, E. 3.4).
Die Eltern haben vielmehr zu beachten, dass das elterliche Sorgerecht ein sogenanntes Pflichtrecht darstellt (BGE 136 III 353, E. 3.1; BGer 5A_198/2013, E. 4.1; BSK ZGB I-Schwenzer /Cottier, Art. 296 ZGB N3). Die mit der elterlichen Sorge verbundenen Rechte und Pflichten sind zum Wohle des Kindes auszuüben. Die Eltern haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles zu unternehmen, was zur gedeihlichen Entwicklung des Kindes erforderlich ist. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass sich insbesondere auch die Mutter zu bemühen hat, zwischen der konfliktbehafteten Elternebene einerseits sowie dem Eltern-Kind-Verhältnis andererseits zu unterscheiden und die Kinder aus dem elterlichen Konflikt herauszuhalten.
Eine Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge lässt sich auch nicht mit der abstrakten Feststellung begründen, dass sich die älteste Tochter in einem Loyalitätskonflikt befinde. Denn ein solcher führt nicht in jedem Fall zu einer Beeinträchtigung des Kindeswohls, welche ein Eingreifen erforderlich erscheinen lässt. Die Auswirkungen eines Loyalitätskonflikts hängen vielmehr von der Konstitution des Kindes selbst und vom Verhalten der Eltern diesem gegenüber ab. Erforderlich ist daher auch in diesem Zusammenhang eine konkrete Feststellung, in welcher Hinsicht das Kindeswohl beeinträchtigt ist (BGer 5A_609/2016, E. 2.2). Dies wird hier – insbesondere in Bezug auf die älteste Tochter – nicht geltend gemacht.
Zudem konnten sich der Vizepräsident und die Gerichtsschreiberin an der persönlichen Anhörung ein unmittelbares Bild der beiden älteren Geschwister und ihrer Befindlichkeit machen. Die beiden Mädchen machten dabei einen zufriedenen und unbeschwerten Eindruck. Sie berichteten über die Schule bzw. den Kindergarten und ihre Freizeit, die sie bevorzugt mit der Mutter und der jüngsten Schwester verbringen. In Bezug auf die mittlere Tochter entstand der Eindruck, dass sie sich über die Besuche des Vaters freut und gern Zeit mit ihm verbringt. Die älteste Tochter hingegen scheint die Besuche des Vaters eher als notwendiges Übel über sich ergehen zu lassen. Insgesamt ergaben sich an der Anhörung keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der elterliche Konflikt in einem Ausmass auf das Wohl der Kinder auswirkte, welches die Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge rechtfertigen würde. Solche ergeben sich auch nicht aus den Akten, insbesondere auch nicht aus den Berichten der Beiständin.
Zu beachten ist schliesslich, dass eine Alleinsorge nur dann in Frage kommt, wenn dadurch einer Gefährdung des Kindeswohls überhaupt wirksam begegnet werden kann. Elternteile, denen die elterliche Sorge über ihr Kind nicht zusteht, sind zwar von Entscheiden bezüglich des Kindes ausgeschlossen, sie trifft jedoch die Pflicht zur Zahlung von Unterhalt (Art. 276 ZGB) und das Recht auf persönlichen Verkehr (Art. 274 f. ZGB). Ausserdem sieht Art. 275a ZGB ein Informations- und Auskunftsrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils vor (BGer 5A_609/2016, E. 4.2).
Würde das Sorgerecht allein der Mutter zugesprochen, wären damit zwar die möglichen Konfliktthemen zwischen den Eltern weniger breit, als wenn der Berufungsbeklagte Mitinhaber des Sorgerechts bliebe. Hingegen blieben die im Zusammenhang mit dem persönlichen Verkehr bestehenden Streitpunkte, um welche sich der Konflikt der Parteien – wie die Anfechtung der vorinstanzlichen Betreuungsregelung durch die Mutter zeigt – im Grunde hauptsächlich dreht, genau gleich bestehen. Wie sich bei der nachfolgend zu beurteilenden Betreuungsregelung zeigen wird (vgl. nachfolgend E. II.6 ff.), steht dabei nämlich nicht in Frage, dass die Kinder hauptsächlich durch die Mutter betreut werden und dem Vater ein Besuchsrecht einzuräumen ist, sodass das mit den Vater-Kind-Kontakten einhergehende Konfliktpotenzial mit oder ohne gemeinsame elterliche Sorge bestehen bliebe. Damit kann gesagt werden, dass von der Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge keine erhebliche Verbesserung des Elternkonflikts und folglich keine entscheidende Verminderung der bestehenden Beeinträchtigung des Kindeswohls zu erwarten sind.
Insgesamt ergibt sich, dass die Voraussetzungen für ein Abweichen von der Regel der gemeinsamen elterlichen Sorge nach der Scheidung im Interesse des Kindeswohls nicht gegeben sind. Die elterliche Sorge ist folglich beiden Eltern gemeinsam zu belassen. Damit ist an Mutter und Vater zu appellieren, künftig ein kooperatives Verhalten an den Tag zu legen und die zumutbaren Anstrengungen bei der gegenseitigen Kommunikation zu unternehmen, ohne die ein gemeinsames Sorgerecht nicht in effektiver Weise und zum Vorteil des Kindes ausgeübt werden kann.
Entscheid FO.2016.17 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 28.6.2017
Zivilprozessrecht
Unentgeltliche Schlichtung: Anforderungen tief
Wird die unentgeltliche Rechtspflege nur für das Schlichtungsverfahren beantragt, sind an die Darlegung des Klagefundaments gelockerte Anforderungen zu stellen. Bei der Beurteilung der Prozessaussichten müssen die Eigenheiten des Schlichtungsverfahrens berücksichtigt werden.
Sachverhalt:
Eine Partei beantragt die unentgeltliche Rechtspflege nur für das Schlichtungsverfahren, nicht dagegen für das erstinstanzliche Gerichtsverfahren. Der Vorrichter hat die Darlegung des Klagefundaments und die Prozessaussichten zu prüfen.
Aus den Erwägungen:
1. Wie schon der Vorrichter zutreffend erwog, wird eine Partei auf entsprechendes Gesuch von Vorschüssen, Sicherheitsleistungen und Gerichtskosten befreit, wenn sie mittellos ist und ihr Rechtsbegehren nicht als aussichtslos erscheint. Die unentgeltliche Rechtsvertretung setzt zudem voraus, dass zur Wahrung der Rechte der mittellosen Partei rechtlicher Beistand notwendig ist (Art. 117 f. ZPO). Dies gilt grundsätzlich auch für das Schlichtungsverfahren (s. anstelle vieler: Emmel, in: Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger, ZPO Komm., Art. 117 N 3, Art. 118 N. 2; vgl. auch Art. 113 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Als aussichtslos sind Prozessbegehren in der Regel dann anzusehen, wenn eine summarische Prüfung zeigt, dass die Gewinnchancen beträchtlich geringer sind als die Gefahr einer Niederlage, sie deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können und eine vernünftig denkende und handelnde Partei, die selbst für die Prozesskosten aufzukommen hätte, von der Prozessführung absehen würde.
Hingegen liegt keine Aussichtslosigkeit vor, wenn sich die Gewinnaussichten und die Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese (Emmel, ZPO Komm., Art. 117 N 13, und Leuenberger / Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, N 10.68, je mit zahlreichen Verweisen). Die gesuchstellende Partei trifft – wie der Vorrichter ebenfalls schon zutreffend erwog – nicht nur bezüglich der geltend gemachten Mittellosigkeit, sondern auch hinsichtlich der Frage nach den Prozessaussichten eine Mitwirkungspflicht, indem sie das tatsächliche und rechtliche Klagefundament darzulegen und ihre Beweismittel zu nennen hat (Emmel, ZPO Komm., Art. 119 N 8).
Nicht befasst hat sich der Vorrichter mit der – in der Literatur allerdings soweit ersichtlich auch nicht näher diskutierten – Frage, ob dann, wenn die unentgeltliche Rechtspflege (wie hier) nur für das Schlichtungsverfahren (und nicht – was an sich möglich wäre [vgl. Art. 119 Abs. 1 ZPO und Gasser / Rickli, ZPO Kurzkommentar, Art. 119 N 6] – auch für das erstinstanzliche Gerichtsverfahren) beantragt ist, an die Darlegung des Klagefundaments allenfalls gelockerte Anforderungen zu stellen und die Prozessaussichten nach besonderen, den Eigenheiten des Schlichtungsverfahrens angepassten Kriterien zu beurteilen sind. In dieser Hinsicht fällt vorab in Betracht, dass das Schlichtungsverfahren nicht primär auf eine Entscheidfindung abzielt (eine solche sieht das Gesetz in Art. 210 ff. ZPO unter dem Titel «Urteilsvorschlag und Entscheid» zwar vor, beschränkt dies aber auf wenige spezifische Fälle sowie solche mit geringem Streitwert), sondern in erster Linie bezweckt, die Parteien in einer formlosen Verhandlung zu versöhnen (Art. 201 ZPO).
Dabei dient das Verfahren nicht zuletzt auch dazu, den Parteien die Chancen und Risiken ihrer Standpunkte aufzuzeigen und sie gegebenenfalls davon abzuhalten, offensichtlich unbegründete Prozesse einzuleiten oder offensichtlich begründete Ansprüche zu bestreiten, damit ihnen und den Gerichten unnötiger Prozessaufwand erspart bleibt (Honegger, in: Sutter-Somm / Hasenböhler Leuenberger, ZPO Komm., Art. 197 N 4 ff., Art. 201 N 1). Es kommt hinzu, dass das Schlichtungsgesuch – dieser Zwecksetzung des Schlichtungsverfahrens entsprechend – zwar alle notwendigen Elemente für eine Individualisierung des Streits enthalten muss, dass es aber keiner Begründung bedarf und eine bloss stichwortartige Umschreibung des Streitgegenstands genügt (Art. 202 Abs. 2 ZPO; Honegger, ZPO Komm., Art. 202 N 12).
In Verbindung mit dem Grundsatz, dass die um unentgeltliche Rechtspflege ersuchende Partei das Klagefundament nur so weit darlegen muss, als ihr dies nach dem Verfahrensstand überhaupt möglich und zumutbar ist (s. dazu etwa Emmel, ZPO Komm., Art. 119 N 8), legen diese Besonderheiten des Schlichtungsverfahrens zunächst nahe, an die Vorbringen zum Klagefundament dann, wenn das Gesuch ausschliesslich das Schlichtungsverfahren betrifft, keine überhöhten Anforderungen und insbesondere grundsätzlich keine solchen zu stellen, welche das Schlichtungsbegehren selber auch nicht zu erfüllen hat.
Weiter erhellt daraus, dass die Prozessaussichten in solchen Fällen nicht unbesehen nach den vorstehenden, auf klassische Gerichtsverfahren zugeschnittenen Regeln beurteilt werden sollten, sondern es genügen muss, wenn der Streitgegenstand so weit umrissen ist, dass es möglich ist, das Schlichtungsverfahren im vorstehenden Sinn sachgerecht durchzuführen. Dies deckt sich auch mit dem Umstand, dass (sieht man einmal von den Ausnahmefällen, die sich nach Art. 210 ff. ZPO ergeben können, ab) ein Schlichtungsverfahren seine Funktion gleichwohl, ob es zu einer Einigung oder zur Ausstellung der Klagebewilligung führt, erfüllt, weshalb es zumindest insofern stets «erfolgreich» ist (in diesem Sinne auch Dolge, in: Dolge / Infanger, Schlichtungsverfahren, S. 78, welche dafürhält, dass bei Rechtsbegehren, die nicht [gerade] rechtsmissbräuchlich oder querulatorisch seien, «im Schlichtungsverfahren in der Regel Nichtaussichtslosigkeit anzunehmen» sei).
Fraglich erscheint im Übrigen auch, ob es sachgerecht wäre, bei der Beurteilung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege, welches nur das Schlichtungsverfahren betrifft, der Aufklärung der Parteien über die Aussichten ihrer Prozessstandpunkte – die wie erwähnt ebenfalls ein Aspekt der Schlichtung ist und worauf die Parteien grundsätzlich Anspruch haben – vorzugreifen. Auf der anderen Seite ergibt sich schon aus dem Zweck des Schlichtungsverfahrens, die Parteien über die Chancen und die Risiken ihrer Standpunkte aufzuklären, sie nach Möglichkeit in einer formlosen Verhandlung zu versöhnen und damit unnötigen Prozessaufwand zu vermeiden, dass in diesem Verfahrensstadium eine rechtskundige Vertretung im Allgemeinen nicht notwendig – und in der Praxis denn auch nicht die Regel – ist. Dies gilt in besonderem Mass für einfachere Fälle und solche mit kleinem Streitwert.
2. Nachdem die Gesuchstellerin Sozialhilfe bezieht, dürfte – wovon schon der Vorrichter ausgegangen ist – ihre Mittellosigkeit hinreichend glaubhaft sein. Beurteilt man die weitere Frage, ob ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, unter den hiervor dargelegten Gesichtspunkten, rechtfertigt sich sodann die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege entgegen dem erstinstanzlichen Entscheid auch unter diesem Aspekt nicht: Aufgrund der Ausführungen der Gesuchstellerin in ihrem Brief vom 28. Dezember 2016 in Verbindung mit dem Schlichtungsgesuch ist einerseits klar, was die Gesuchstellerin vom Gemeinwesen X. will (nämlich die Bezahlung von 3805 Franken und den Ersatz von Zahlungsbefehlskosten) und woraus sie ihre angebliche Forderung herleitet (nämlich aus eigenen Aufwendungen für 84 Briefe/E-Mails und Portokosten, die ihr angeblich im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung eines Eheschutzentscheids entstanden sind). Damit dürften der Streit hinreichend individualisiert sowie der Streitgegenstand so klar umrissen sein, dass die sachgerechte Durchführung eines Schlichtungsverfahrens im vorstehenden Sinn möglich ist.
Im Übrigen trifft zwar – worin dem Vorrichter beizupflichten ist – zu, dass es aufgrund der heutigen Aktenlage an Anhaltspunkten für eine amtliche Pflichtverletzung fehlt (die Gesuchstellerin hat dazu weder substanziierte Angaben gemacht noch irgendwelche Beweismittel vorgelegt) sowie keine Vermögenseinbusse und damit nach der sogenannten Differenztheorie (s. dazu BSK OR I-Kessler, Art. 41 N 3, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundegerichts) auch kein relevanter Schaden erkennbar ist (eigener Zeitaufwand begründet grundsätzlich keinen Schaden, es sei denn, er führe zu einer Einkommenseinbusse, wofür es jedoch hier an Hinweisen fehlt, und zudem wären vorliegend – worin dem Vorrichter ebenfalls beizupflichten ist – wohl vorab die Rechtsmittelmöglichkeiten auszuschöpfen gewesen [ob die Gesuchstellerin dies tat oder nicht, ergibt sich aus ihren Vorbringen nicht], wobei Ersatz für damit einhergehende eigene Umtriebe grundsätzlich in diesem/diesen Verfahren geltend zu machen gewesen wären).
Diese Defizite sind hier – da die Prozessaussichten wie erwähnt nicht nach den allgemeinen, sondern im vorstehenden Sinn dem besonderen Wesen des Schlichtungsverfahrens angepassten Kriterien zu beurteilen sind – allerdings irrelevant. Immerhin sei die Gesuchstellerin aber darauf hingewiesen, dass es sich wohl anders verhielte, wenn von ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ein allfälliges an das Schlichtungsverfahren anschliessendes gerichtliches Verfahren (mit-)betroffen wäre; in diesem Fall müsste – bei der Aktenlage, wie sie sich heute präsentiert – wohl im Sinne der Erwägungen des Vorrichters davon ausgegangen werden, dass keine hinreichenden Prozessaussichten dargetan sind.
Daraus folgt, dass der angefochtene Entscheid insoweit aufzuheben und abzuändern ist, als die Gesuchstellerin für das Schlichtungsverfahren von Vorschussleistungen und Gerichtskosten zu befreien ist. Hingegen besteht kein Anlass, ihr für das Schlichtungsverfahren einen unentgeltlichen Rechtsvertreter zu bestellen; denn angesichts des kleinen Streitwerts und da es wie erwähnt Zweck des Schlichtungsverfahrens ist, den Parteien ihre Prozesschancen aufzuzeigen und sie nach Möglichkeit in einer formlosen Verhandlung zu versöhnen, ist nicht ersichtlich, warum sie in dieser Hinsicht auf rechtlichen Beistand angewiesen sein soll.
Entscheid BE.2017.4 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 22.5.2017
Kostenvorschuss mit unterschiedlichen Gründen anfechtbar
Gegen einen Gerichtskostenvorschuss kann geltend gemacht werden, die anwendbare Tarifordnung sei falsch angewendet worden, das Äquivalenzprinzip sei verletzt oder das Gericht sei von einem offensichtlich falschen Streitwert ausgegangen.
Sachverhalt:
Der Kläger fordert vor Kantonsgericht, dass der von der Vorinstanz einverlangte Gerichtskostenvorschuss von 1500 Franken reduziert wird.
Aus den Erwägungen:
4. Gemäss Art. 98 der Schweizerischen Zivilprozessordnung kann das Gericht von der klagenden Partei einen Vorschuss bis zur Höhe der mutmasslichen Gerichtskosten verlangen. Die Bestimmung ist als Kann-Vorschrift konzipiert und legt die Vorschusspflicht damit ins Ermessen des Gerichts, wobei die Erhebung des vollen Vorschusses allerdings die Regel bildet (BGE 140 III 159 E. 4.2). Der Entscheid über den Vorschuss erfolgt typischerweise nach Klageerhebung zu Beginn und ist zwangsläufig mit gewissen Unsicherheiten verbunden. Dabei ist es Sache des Gerichts, die Angemessenheit zu beurteilen, wobei es über ein beträchtliches Ermessen verfügt (vgl. BGE 139 III 334 E. 3.2.5). Wegen der Problematik der späteren Nachforderung von Gerichtskostenvorschüssen sollte der erste Vorschuss in der Regel eher grosszügig und nicht knapp berechnet werden. Mit der Berechnung der mutmasslichen Gerichtskosten wird deren endgültige Festlegung nicht präjudiziert (Suter / Von Holzen, in: Komm. zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [Hrsg. Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger], 3. Aufl. 2016, Art. 98 ZPO N 10–13).
Bezogen auf die Anordnung eines Gerichtskostenvorschusses kann als Beschwerdegrund gemäss Art. 320 ZPO geltend gemacht werden, der einverlangte Gerichtskostenvorschuss sei zu hoch bemessen: Es liege eine Überschreitung des Ansatzes gemäss der anwendbaren Tarifordnung oder eine Verletzung des Äquivalenzprinzips vor (Rechtsverletzung) oder es werde von einem offensichtlich falschen, nämlich zu hohen Streitwert ausgegangen (offensichtlich unrichtige Sachverhaltsannahme; Sterchi, Berner Komm., Bern 2012, Art. 103 ZPO N 6 f.). Das Äquivalenzprinzip besagt, dass die Gebühr im Einzelfall nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zum objektiven Wert der Leistung stehen darf; sie muss sich «in vernünftigen Grenzen bewegen» (Sterchi, a.a.O., Art. 95 ZPO N 5). Bei der Ermessenskontrolle ist die Kognition auf Ermessensmissbrauch, -überschreitung oder -unterschreitung beschränkt.
Nach Art. 96 ZPO setzen die Kantone die Tarife für die Prozesskosten fest. Im Kanton Luzern gelangt die Verordnung über die Kosten in Zivil-, Straf- und verwaltungsrechtlichen Verfahren (Justiz-Kostenverordnung [JusKV; SRL Nr. 265]) zur Anwendung. § 1 Abs. 1 JusKV nennt als Grundlage für die Festsetzung der Gebühr den Umfang, die Bedeutung und Schwierigkeit der Streitsache, den Umfang der Prozesshandlungen, den Zeitaufwand für die Verfahrenserledigung und die Interessen an der Beurteilung der Streitsache.
Bei besonderen Umständen kann die Gebühr ohne Bindung an den vorgegebenen Rahmen erhöht oder ermässigt werden (vgl. § 1 Abs. 2 und 3 JusKV). §§ 3 ff. JusKV sehen für vermögensrechtliche Streitigkeiten im Zivilprozess einen nach Verfahrensart und Streitwert abgestuften Raster vor, wobei sich der Streitwert nach Art. 91–94 ZPO bestimmt (§ 3 Abs. 1 JusKV). Im vereinfachten Verfahren, welches u.a. für Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 30000 Franken gilt (Art. 243 Abs. 1 ZPO), beträgt die ordentliche Gebühr zwischen 500 Franken und 3000 Franken (§ 6 Abs. 2 lit. a JusKV).
5. Die Vorinstanz geht zu Recht von einem Streitwert der vom Kläger angehobenen Aberkennungs- und Rückforderungsklage von 12528 Franken aus. Der einverlangte Gerichtskostenvorschuss von 1500 Franken liegt innerhalb des ordentlichen Rahmens von 500 Franken bis 3000 Franken. Den Verzicht auf einen Vorschuss verlangte der Kläger von der Vorinstanz nicht, sondern nur dessen Reduktion. Dass der Vorschuss in einem mittleren Bereich dieses Gebührenrahmens festgelegt und aufgrund der blossen Behauptung der Mittellosigkeit in der Folge nicht reduziert wurde, ist nicht zu beanstanden. Die Vorinstanz hat den Kläger zudem auf die Möglichkeit, bei ihr Ratenzahlungen oder die unentgeltliche Rechtspflege zu beantragen, aufmerksam gemacht und auf die entsprechenden Voraussetzungen hingewiesen (vgl. dazu Sterchi, a.a.O., Art. 98 ZPO N 8). Auch diesbezüglich ist ihr Handeln nicht zu beanstanden. Soweit der Kläger seiner Rüge- und Begründungspflicht genügt und auf seine Beschwerde überhaupt eingetreten werden kann, erweist sich diese somit als unbegründet. Der Vorinstanz ist weder in Bezug auf die Einforderung eines Gerichtskostenvorschusses noch in Bezug auf dessen Höhe eine falsche Rechtsanwendung bzw. eine pflichtwidrige Ausübung des Ermessens vorzuwerfen (vgl. oben E. 4). Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Entscheid 1C 16 36 des Kantonsgerichts Luzern vom 18.10.2016
Erlass einer Beweisverfügung zwingend
Ein drohender Eingriff in den Privatbereich einer Partei – im vorliegenden Fall durch die Edition von Steuererklärungen –ist ein ausreichender Nachteil. Eine Beweisverfügung ist daher zwingend.
Sachverhalt:
Im Verfahren geht es um die Rückzahlung eines Darlehens. Nach dem schriftlichen Behauptungsverfahren setzte das Bezirksgericht der einen Partei ohne weitere Erläuterungen Frist an, die Steuererklärungen für mehrere Jahre einzureichen. Sie verlangte das auch vom zuständigen Steueramt. Die betroffene Partei führt dagegen Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
4.1 Der Beklagte rügt, er habe gemäss Art. 154 ZPO Anspruch auf Erlass einer Beweisverfügung, welche festhalte, wer welche Tatsachen zu beweisen habe bzw. den Gegenbeweis zu erbringen habe und welche Beweismittel dafür zugelassen würden. Die Vorinstanz habe keine solche Verfügung erlassen. Die Verfügungen vom 11. und 19. April 2017 enthielten keine sachliche Begründung. Mit ihrem Vorgehen, direkt Beweismittel zu erheben, verunmögliche ihm die Vorinstanz die sachgerechte Wahrung seiner Parteirechte. Sodann hätten beide Parteien auf Anregung der Vorinstanz hin auf die Durchführung der Hauptverhandlung verzichtet. Danach gehe es nicht an, noch Akteneditionen zu verfügen und damit Beweisabnahmen durchzuführen.
Was die angeordnete Edition seiner Steuererklärungen angehe, macht der Beklagte geltend, diese seien für die Prüfung der Klage nicht relevant.
4.2 Die Klägerin ist demgegenüber der Auffassung, die Verfügungen vom 11. und 19. April 2017 genügten den Anforderungen an eine Beweisverfügung. Eine solche müsse nicht begründet werden und könne jederzeit abgeändert werden. Daher stehe auch der Verzicht auf die Hauptverhandlung einer Beweisverfügung und -abnahme nicht entgegen. Die angeordnete Edition der Steuererklärungen des Beklagten sei für die Beurteilung der Klage erforderlich. Die Beschwerde sei daher, wenn auf sie eingetreten werde, abzuweisen.
4.3 Zutreffend ist, dass die Beweisverfügung nach Art. 154 ZPO als prozessleitende Verfügung jederzeit abgeändert und ergänzt werden kann. Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes. Der weitere Wortlaut von Art. 154 ZPO legt fest, dass die Beweisverfügung die zugelassenen Beweismittel zu bezeichnen und zu bestimmen hat, welcher Partei zu welchen Tatsachen der Haupt- und Gegenbeweis obliegt.
4.3.1 Die Beweisverfügung hat im Verfahren Ordnungs-, Informations- und Kontrollfunktion. Sie ist das Drehbuch bzw. Prozessprogramm im Hinblick auf die Beweisabnahme. Zunächst zwingt sie das Gericht, den Prozessstoff zu sichten und zu prüfen, was des Beweises bedarf und was nicht. Die Verteilung der Beweislast gibt den Parteien eine Einschätzung über die rechtliche Einordnung des Falls sowie darüber, ob das Gericht ihre Behauptungen so aufnimmt, wie sie gemeint wurden (vgl. Leu, Dike-Komm-ZPO, 2. Auflage 2016, Art. 154 N 27 ff.; vgl. auch BK ZPO-Brönnimann, Art. 154 N 3 ff.).
4.3.2 Die angefochtenen Verfügungen vom 11. und 19. April 2017 genügen diesen Anforderungen nicht. Zwar ist der Vorinstanz mit der Klägerin der Umstand alleine, dass sie als Beweisabnahmen lediglich die angefochtenen Editionsanordnungen erliess, nicht vorzuwerfen. Eine inhaltliche Aufteilung der Beweisverfügung ist nicht verboten (vgl. aber die Ausführungen von Leu, Dike-Komm-ZPO, 2. Auflage 2016, Art. 154 N 52, wonach eine «scheibchenweise» Erledigung des Beweisverfahrens – und der Beweisverfügung – mit Blick auf deren Funktion nicht wünschenswert ist; eine Aufteilung der Beweisverfügung setzt daher sachliche Gründe voraus).
Indessen fehlt in den angefochtenen Verfügungen eine konkrete Angabe darüber, welche Tatsachen bewiesen werden sollen. Der Verweis auf S. 5 der Replik, der nach der Klägerin dafür genügt, ist nicht schlüssig, da die Klägerin die Edition der Steuerunterlagen nicht nur an dieser Stelle, sondern auch auf anderen Seiten der Replik verlangte. Im Einzelnen lässt sich den angefochtenen Verfügungen somit nicht entnehmen, welche Tatsachen mit den edierten Steuererklärungen 2002 bis 2013 bewiesen werden sollen (zumal die Behauptungen auf act. 5/25 S. 5 nur die Jahre 2002 bis 2005 betreffen, ein Bezug zu späteren Jahren nicht ersichtlich ist und die Verfügungen sich nicht dazu äussern, weshalb gerade die auf S. 5 der Replik vorgebrachten Behauptungen bewiesen werden sollen und die anderen nicht). Wenn eine Partei (insbesondere der Kläger) nicht weiss, welche Tatsachen mit einer bestimmten Beweisabnahme bewiesen werden sollen, ist das Recht auf Stellungnahme zum Beweisergebnis (Art. 232 ZPO) beeinträchtigt. Die mangelhaften Verfügungen verletzen daher (entgegen der Klägerin) die Parteirechte des Beklagten.
Ob ein blosser Verweis auf die Vorbringen einer Partei grundsätzlich den Anforderungen von Art. 154 ZPO zu genügen vermöchte (so die Klägerin, act. 15 S. 10 [und RB170017 act. 12 S. 8], unter Hinweis auf BSK ZPO-Guyan, 2. Auflage 2013, Art. 154 N 3), kann danach offen bleiben.
4.3.3 Die angefochtenen Verfügungen enthalten auch keine Hinweise auf die Beweislast. Die von der Klägerin angeführte Ansicht von Leuenberger, wonach in der Beweisverfügung lediglich die subjektive Beweisführungslast und nicht auch die objektive Beweislast aufgezeigt werden soll, ist in der Lehre stark umstritten und entspricht im Allgemeinen nicht der Zürcher Praxis (vgl. zur Kritik an dieser Ansicht Leu, Dike-Komm-ZPO, 2. Auflage 2016, Art. 154 N 47 Anm. 91, sowie Müller, Beweisen nach der ZPO, in: Tatsachen – Verfahren – Vollstreckung, Festschrift für Isaak Meier, Zürich 2015, S. 487 ff., S. 490 f., sowie derselbe, ZPO – Praktische Fragen aus Richtersicht, SJZ 110/2014 S. 369 ff., S. 373 f. [insb. zur Zürcher Praxis]; vgl. auch die differenzierenden Ausführungen bei ZK ZPO-Hasenböhler, 3. Auflage 2016, Art. 154 N 15 ff.). Nach dem zur Funktion der Beweisverfügung Gesagten ist ferner der Ansicht der Klägerin nicht zu folgen, wonach die Angaben zur Beweis- bzw. Beweisführungslast einzig den Zweck hätten, zu bestimmen, wer Kostenvorschüsse leisten müsse. Daher kann nicht gesagt werden, die fehlenden Angaben zur Beweislast seien unschädlich, weil keine Vorschüsse verlangt worden seien (so die Klägerin, a.a.O.).
Die beiden Verfügungen vom 11./19. April 2017 genügen den Anforderungen somit auch unter diesem Blickwinkel (Angaben zur Beweislastverteilung) nicht. Es ist dazu auf den klaren Wortlaut von Art. 154 ZPO zu verweisen: «wird bestimmt, welcher Partei zu welchen Tatsachen der Haupt- oder der Gegenbeweis obliegt». Letztlich unabhängig davon, ob damit gesagt wird, wer die Folgen der Beweislosigkeit trägt (objektive Beweislast nach Art. 8 ZGB), oder nur, wer welchen Beweis zu führen hat (subjektive Beweislast; vgl. zu den Begriffen ZK ZPO-Hasenböhler, 3. Auflage 2016, Art. 154 N 16 f.), hat die Beweisverfügung sich zur Verteilung des Haupt- und Gegenbeweises hinsichtlich bestimmter Beweisthemen zu äussern. Die angefochtenen Verfügungen verletzen deshalb Art. 154 ZPO.
4.3.4 Das Gesagte führt zur Gutheissung der Beschwerden und zur Aufhebung der angefochtenen Verfügungen. Das Verfahren ist, da die Sache nicht spruchreif ist, zur Ergänzung des Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 327 Abs. 3 lit. a ZPO), insbesondere zur Prüfung des Erlasses einer den Anforderungen genügenden Beweisverfügung. Was den Verzicht der Parteien auf die Durchführung der Hauptverhandlung angeht, stellt die Klägerin zu Recht fest, nach dem Verzicht angeordnete Beweisabnahmen seien vom Verzicht nicht umfasst (vgl. dazu ZK ZPO-Leuenberger, 3. Auflage 2016, Art. 233 N 1b). Das bedeutet, dass den Parteien das Recht zustehen wird, zu den Beweisabnahmen (schriftlich oder mündlich) Stellung zu nehmen (Art. 232 ZPO).
Beschluss und Urteil RB170016 des Obergerichts Zürich vom 26.6.2017
Strafprozessrecht
Einvernahme ohne Übersetzer unverwertbar
Versteht die beschuldigte Person die Verfahrenssprache nicht oder kann sie sich darin nicht genügend ausdrücken, muss die Verfahrensleitung einen Übersetzer beiziehen. Darüber hinaus hat sie die beschuldigte Person vor jeder Einvernahme auf das Recht auf Übersetzung hinzuweisen. Andernfalls sind Einvernahmen grundsätzlich nicht verwertbar.
Sachverhalt:
X. wurde vorgeworfen, sich vom 3. April 2013 bis zum 19. Juni 2015 widerrechtlich – d.h. trotz widerrufener Aufenthaltsbewilligung – in der Schweiz aufgehalten zu haben. Die Vorinstanz erklärte X. des widerrechtlichen Aufenthalts schuldig. Die Strafkammer hob die Verurteilung von X. wegen widerrechtlichen Aufenthalts auf.
Aus den Erwägungen:
3. a) Nach Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO beachten die Strafbehörden «das Gebot, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen rechtliches Gehör zu gewähren». Der in dieser Bestimmung statuierte Anspruch auf rechtliches Gehör ist zudem verfassungs- und konventionsrechtlich verankert (Art. 29 Abs. 2 BV bzw. Art. 6 EMRK).
In seinem Kerngehalt gibt er dem Betroffenen das Recht, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern. Dazu gehört insbesondere das Recht, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn es geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (Art. 107 StPO; vgl. aus der Rechtsprechung statt vieler BGE 133 I 270 E. 3.1 mit weiteren Nachweisen).
Ausfluss des allgemeinen Gehörsanspruchs sind im Strafprozess auch und insbesondere die Informationsrechte gemäss Art. 143 und 158 StPO (vgl. beispielsweise Bommer, Parteirechte der beschuldigten Person bei Beweiserhebungen in der Untersuchung, recht 2010, S. 199) sowie das in Art. 68 StPO festgelegte Recht eines Verfahrensbeteiligten, von Amtes wegen (vgl. wiederum Bommer, a.a.O., S. 199) unentgeltliche Unterstützung durch einen Übersetzer zu erhalten, wenn er die Verfahrenssprache nicht versteht oder spricht (vgl. zu diesem letzteren Teilaspekt des rechtlichen Gehörs auch Art. 6 Ziff. 3 lit. e EMRK sowie Art. 14 Ziff. 3 lit. f Uno-Pakt II).
b) Der Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf einen (unentgeltlichen) Übersetzer (Art. 68 Abs. 1 StPO) setzt nach dem Gesetzeswortlaut voraus, dass die in Frage stehende Person die Verfahrenssprache «nicht versteht» oder sie sich darin «nicht genügend ausdrücken» kann.
Damit bringt das Gesetz die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, dass der Anspruch auf einen Übersetzer nur dort besteht, wo «es eines Übersetzers bedarf» (Bommer, a.a.O., S. 203). Soweit die Sprachkenntnisse einer Person für das Verfahren bzw. den in Frage stehenden Verfahrensschritt ausreichen, ist kein Übersetzer beizuziehen (vgl. dazu auch Capus, Das Recht auf Verdolmetschung in der Strafjustiz, ZStrR 2015, S. 409). In diesem Fall erübrigt sich nach Rechtsprechung und Lehre auch der Hinweis zu Beginn einer Einvernahme, dass ein Übersetzer verlangt werden kann (Art. 158 Abs. 1 lit. d StPO), weil die Voraussetzungen für einen solchen nach Art. 68 Abs. 1 StPO ohnehin nicht gegeben wären und es deshalb den Grundsatz der Formstrenge überdehnen würde, wenn man auf dem Hinweis gleichwohl beharren wollte (vgl. Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 4. Juni 2012, ST.2012.26-SK3 E. 1b; s. aus der Lehre beispielsweise Bommer, a.a.O., S. 203 und FN 55; Godenzi, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber, StPO Kommentar, Art. 158 N 32).
Umgekehrt formuliert lässt sich zusammengefasst festhalten, dass der Nichtbeizug eines Übersetzers bzw. der fehlende Hinweis darauf, dass ein solcher beigezogen werden kann, von vornherein nur dort schädlich ist, wo es tatsächlich eines Übersetzers bedarf. Einzig in diesem Fall sind die jeweiligen Einvernahmen unverwertbar (nach Art. 158 Abs. 2 bzw. Art. 68 Abs. 1 i.V.m. Art. 141 Abs. 2 StPO). Andernfalls kann auf die in Frage stehenden Einvernahmen abgestellt werden. Bei der Beantwortung der Frage, ob im Einzelfall ein Übersetzer notwendig ist (die Sprachkenntnisse eines Verfahrensbeteiligten ausreichen), steht der Behörde ein Ermessensspielraum zu (Capus, a.a.O., S. 409).
4. a) Im vorliegenden Fall wurde X. erstmals am 19. Juni 2015 polizeilich einvernommen. In Frage 1 wurde er in Nachachtung von Art. 158 Abs. 1 StPO darauf aufmerksam gemacht, dass gegen ihn ein Vorverfahren wegen widerrechtlichen Aufenthalts eingeleitet worden sei (lit. a), er die Mitwirkung verweigern könne (lit. b) und berechtigt sei, eine Verteidigung zu bestellen (lit. c). Demgegenüber unterblieb – jedenfalls gemäss Einvernahmeprotokoll (eine Tonaufnahme liegt nicht vor) – der Hinweis darauf, dass er einen Übersetzer verlangen könne (Art. 158 Abs. 1 lit. d StPO). Auch von Amtes wegen wurde kein Übersetzer beigezogen.
Analog wurde im Rahmen der zweiten Einvernahme vor der Vorinstanz verfahren. Auch hier erfolgten die Hinweise gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. a–c StPO, nicht jedoch derjenige nach Art. 158 Abs. 1 lit. d StPO. Ein Übersetzer wurde auch im Rahmen dieser Einvernahme nicht beigezogen.
Nach dem vorstehend Gesagten (E. III.3b) kommt es für die Rechtslage darauf an, ob die Voraussetzungen für einen Übersetzer nach Art. 68 Abs. 1 StPO vorliegend gegeben waren oder nicht. Mithin ist zu fragen, ob die Deutschkenntnisse von X. ausreichend waren, den Befragungen der Polizei bzw. Vorinstanz zu folgen und adäquate Antworten auf die Fragen zu geben oder nicht. Bei genügenden Sprachkenntnissen ist der fehlende Hinweis nach Art. 158 Abs. lit. d StPO bzw. der Nichtbeizug eines Übersetzers nach Art. 68 Abs. 1 StPO unschädlich. Andernfalls sind die entsprechenden Einvernahmen unverwertbar (Art. 158 Abs. 2 bzw. Art. 68 Abs. 1 i.V.m. Art. 141 Abs. 2 StPO).
b) Die Verteidigung vertritt die Auffassung, die Sprachkenntnisse von X. hätten für die Befragungen nicht genügt. Dadurch sei «der Anspruch des Beschuldigten, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen umfassend selbst Stellung nehmen zu können, in geradezu stossender Weise verletzt worden». Bei der polizeilichen Einvernahme vom 19. Juni 2015 hätten die Beamten schlicht aufgeschrieben, «was ihnen ‹gepasst› habe, ohne auf X. zu hören; viele ‹Antworten› seien bereits vor Beginn der Befragungen im ‹Protokoll› gestanden.»
Bei der Einvernahme vor Vorinstanz hätte der die Einvernahme durchführende Richter die mangelnden Deutschkenntnisse von X. ebenfalls erkannt und deshalb den grössten Teil der Befragung und der Rechtsbelehrungen auf Englisch durchgeführt. Da ein Hinweis nach Art. 158 Abs. 1 lit. d StPO ausgeblieben sei und der Richter zudem nicht über die notwendigen Sachkenntnisse verfügt habe, die für Übersetzer notwendig wären, sei auch diese Einvernahme nicht verwertbar.
d) Das Gesagte zeigt hinreichend deutlich, dass X. die Verfahrenssprache (Deutsch; vgl. Art. 29 Abs. 1 EG-StPO) nicht in dem Masse beherrscht, das notwendig wäre, um strafprozessuale Einvernahmen durchzuführen. Es wäre daher zwingend ein Übersetzer beizuziehen gewesen (Art. 68 Abs. 1 StPO), wie es übrigens im Verwaltungsverfahren durchgehend der Fall war. Zudem hätte zu Beginn jeder Einvernahme ein Hinweis gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. d StPO erfolgen müssen (vgl. E. III.4a; der Wortlaut von Art. 158<