Zivilprozessrecht
Schuldner bei neuem Vermögen kostenpflichtig
Der Umstand, dass der Rechtsvorschlag – in welchem Umfang auch immer – nicht bewilligt wird, ist an sich bereits ein Obsiegen des Gläubigers. Die Prozesskosten sind deshalb nicht anteilsmässig zu verlegen, wenn der Richter neues Vermögen nur in einem Teilumfang der in Betreibung gesetzten Verlustscheinsforderung feststellt.
Sachverhalt:
A. erhob in der von der B. AG gegen ihn eingeleiteten Betreibung über 6,3 Millionen Franken Rechtsvorschlag mangels neuen Vermögens gemäss Art. 265a Abs. 1 SchKG. Die Vorinstanz bewilligte den Rechtsvorschlag im Umfang von 5 Millionen Franken und stellte neues Vermögen im Umfang von 1,3 Millionen Franken fest. Bei der Verlegung der Prozesskosten hielt die Vorinstanz fest, A. habe zu 80 Prozent obsiegt. Die B. AG wurde verurteilt, A. nach Massgabe seines Obsiegens eine Parteientschädigung von 9000 Franken auszurichten. Die Beschwerde von A. richtete sich gegen die von ihm als zu tief empfundene Parteientschädigung.
Aus den Erwägungen:
4. Zu beachten ist, dass die vorinstanzlichen Ausführungen, wonach der Beschwerdeführer zu 80 Prozent obsiegt hat, zu kurz greifen. Der Umstand, dass der Rechtsvorschlag – in welchem Umfang auch immer – nicht bewilligt wird, ist an sich bereits ein Obsiegen. Die Beweislast im summarischen Bewilligungsverfahren trifft den Schuldner, das heisst es obliegt dem Schuldner, glaubhaft darzutun, dass er zu keinem neuem Vermögen gekommen ist (vgl. Art. 265a Abs. 2 SchKG; vgl. Huber, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs II, 2. Auflage, Basel 2010, N. 23 zu Art. 265a SchKG). Gelingt ihm dies nicht, wird der Rechtsvorschlag nicht bewilligt; der Schuldner ist folglich mit seiner Einrede fehlenden neuen Vermögens vor dem Gericht gänzlich unterlegen (Art. 106 Abs. 1 ZPO).
Von der Möglichkeit einer bloss teilweisen Bewilligung des Rechtsvorschlags spricht das Gesetz nirgends. Massgebliches Prozessthema des Bewilligungsverfahrens nach Art. 265a Abs. 1 bis 3 SchKG ist, dass der Rechtsvorschlag mangels oder wegen neuen Vermögens zu bewilligen bzw. nicht zu bewilligen ist. Dieser Entscheid ist endgültig (vgl. Art. 265a Abs. 1 SchKG).
Das Gericht ist aber gemäss Art. 265a Abs. 3 ZGB gehalten, im Falle der Nichtbewilligung des Rechtsvorschlages auch den Umfang des neuen Vermögens festzustellen. Der Gläubiger kennt die finanziellen Verhältnisse des Schuldners nicht im Einzelnen und macht in der Betreibung daher in aller Regel den gesamten Betrag seiner Forderung geltend.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass der Schuldner zuerst Angaben zu seiner finanziellen Situation vorlegen muss und der Gläubiger in seiner Vernehmlassung beantragen könnte, es sei nur ein tieferer Betrag als die in Betreibung gesetzte Forderung als neues Vermögen festzustellen, hätte er sich diesfalls im Verfahren teilweise unterzogen und würde ebenfalls kostenpflichtig (vgl. Art. 106 Abs. 1 ZPO [«Anerkennung»]). Auch hier zeigt sich, dass die üblichen Regeln zum teilweisen Obsiegen bzw. Unterliegen nach Art. 106 Abs. 2 ZPO für dieses Verfahren nicht passen.
Erweist sich der Forderungsbetrag als zu hoch und wird nur für einen Teil der Forderung der Rechtsvorschlag nicht bewilligt, kann keine lineare Kostenverteilung Platz greifen. Die deklaratorische Feststellung des neuen Vermögens bei Nichtbewilligung des Rechtsvorschlags (die im ordentlichen Hauptprozess nach Art. 265a Abs. 4 SchKG neu festzulegen sein wird; vgl. Huber, a.a.O., N. 42 zu Art. 265a SchKG), ändert nichts daran, dass der Gläubiger obsiegt, da der Rechtsvorschlag nicht bewilligt wird. Art. 106 Abs. 2 ZPO kann im Bewilligungsverfahren von vornherein keine Anwendung finden.
Zusammengefasst ergibt sich, dass bei Bewilligungsverfahren nach Art. 265a Abs. 1 bis 3 SchKG die Prozesskosten nicht anteilsmässig zu verteilen sind, wenn der Richter neues Vermögen nur in einem Teilumfang der in Betreibung gesetzten Verlustscheinsforderung feststellt.
Die erstinstanzliche Parteientschädigung ist daher sogar zu hoch ausgefallen. Wegen dem aus dem Dispositionsgrundsatz nach Art. 58 ZPO abgeleiteten Verbot der reformatio in peius (vgl. Sutter-Somm / Von Arx, in: Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2013, N 15 zu Art. 58 ZPO) ist das Resultat jedoch zu belassen.
Entscheid ZK 15 572 des Obergerichts des Kantons Bern vom 16.12.2015
Rückweisung: Begründung nicht immer bindend
Eine Rückweisung bindet die unteren Instanzen grundsätzlich bezüglich der Rechtsauffassung des zurückweisenden Gerichts. Das gilt aber dann nicht, wenn inzwischen das Gesetz oder die Rechtsprechung des Bundesgerichts änderte.
Sachverhalt:
Das Obergericht des Kantons Zürich entschied in einem Rechtsmittelverfahren, das Mietgericht sei für eine bestimmte Sache zuständig. Kurz nach diesem Entscheid hatte jedoch das Bundesgericht die gleiche Frage zu beurteilen und befand, das Mietgericht sei in dieser Konstellation nicht zuständig. Das Mietgericht beachtete dies nicht und befasste sich gestützt auf den Rückweisungsbeschluss mit der Sache. Die unterliegende Seite erklärte Berufung. Sie macht erfolgreich geltend, das Mietgericht habe sich an die Erwägungen des Bundesgerichts zu halten.
Aus den Erwägungen:
2.3 Im Berufungsverfahren wird das erstinstanzliche Verfahren fortgesetzt. Der Entscheid im Berufungsverfahren ersetzt denjenigen der ersten Instanz (BK ZPO-Sterchi, Art. 318 N 1). Nebst den genannten Rechtsmittelvoraussetzungen prüft die Berufungsinstanz deshalb auch die Prozessvoraussetzungen von Amtes wegen, und zwar unabhängig davon, ob das Fehlen einer Prozessvoraussetzung von den Parteien geltend gemacht wurde (Art. 60 ZPO; OGer ZH LB130013 vom 16. September 2013 E. II.4; BGer 4A_488/2014 vom 20. Februar 2015 E. 3.1).
Sind die Prozessvoraussetzungen nicht erfüllt, ist auf die Klage nicht einzutreten (Art. 59 Abs. 1 ZPO). Zu den Prozessvoraussetzungen gehört unter anderem die sachliche Zuständigkeit (Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO).
2.4 Die Berufungsklägerin und die Berufungsbeklagte sind im Handelsregister eingetragen. Der Abschluss von Mietverträgen über Geschäftsliegenschaften ist eine geschäftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. a ZPO (BGE 139 III 457 E. 4.4.1). Gegen den Entscheid ist die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht zulässig (Art. 74 Abs. 1 BGG). Im vorliegenden Fall liegt somit eine handelsrechtliche Streitigkeit vor (Art. 6 Abs. 2 lit. a–c ZPO).
Das haben bereits die Vorinstanz mit Beschluss vom 24. Oktober 2013 und die Kammer mit Beschluss und Urteil vom 6. Februar 2014 festgestellt und davon gehen zu Recht auch die Parteien aus.
2.5 Gestützt auf die Tatsache der handelsrechtlichen Streitigkeit erachtete sich die Vorinstanz mit Beschluss vom 24. Oktober 2013 als sachlich unzuständig und trat auf die Klage nicht ein. Diesen Entscheid hob die Kammer mit Beschluss und Urteil vom 6. Februar 2014 auf und wies die Sache zur Ergänzung des Verfahrens und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurück. Dabei ging die Kammer davon aus, dass ein Fall konkurrierender Zuständigkeit zwischen dem Mietgericht und dem Handelsgericht vorliege, und wies die Sache in Anwendung von § 126 GOG dem Mietgericht zu.
Nur kurze Zeit nach diesem Entscheid hielt das Bundesgericht mit Urteil vom 10. Februar 2014 allerdings fest, dass der Bundesgesetzgeber mit Art. 6 ZPO die Zuständigkeitsordnung für handelsrechtliche Streitigkeiten abschliessend geregelt habe und für eine weitere Zuständigkeitsregelung durch den Kanton kein Raum bleibe. Sofern ein Kanton von der Möglichkeit, ein Handelsgericht zu schaffen, Gebrauch gemacht habe, sei dieses zwingend für die Beurteilung von handelsrechtlichen Streitigkeiten gemäss Art. 6 Abs. 2 ZPO sachlich zuständig (BGE 140 III 155; bestätigt in: BGE 140 III 355).
2.6 Demnach ist die Einlassung gemäss § 126 GOG unzulässig, und die sachliche Zuständigkeit zur Beurteilung der vorliegenden Klage liegt beim Handelsgericht und nicht bei der Vorinstanz. Die sachliche Zuständigkeit ist zwingend. Aus prozessökonomischen Gründen hat die Prüfung zwar möglichst frühzeitig zu erfolgen. Wird die sachliche Unzuständigkeit wie hier trotzdem erst in einem späteren Verfahrensstadium entdeckt, so ändert dies an der Unzuständigkeit nichts und auf die Klage ist nicht einzutreten (BGE 140 III 355; BGer 4A_291/2015 vom 3. Februar 2015 E. 3.4).
3.1 Die Berufungsbeklagte hält in ihrer Stellungnahme vom 29. Februar 2016 im Wesentlichen dafür, dass die sachliche Zuständigkeit der Vorinstanz mit dem rechtskräftigen Rückweisungsentscheid der Kammer vom 6. Februar 2014 fixiert worden sei. Sowohl die Vorinstanz als auch die Kammer seien an diesen Rückweisungsentscheid gebunden, weshalb eine erneute Prüfung der sachlichen Zuständigkeit nicht mehr möglich oder zulässig sei. Daran ändere auch die inzwischen ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung nichts.
3.2 Die Prozessvoraussetzungen müssen grundsätzlich im Zeitpunkt der Fällung des Sachurteils gegeben sein. Entscheidet das Gericht vorab über das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen, tut es das in Form eines Zwischenentscheides gemäss Art. 237 ZPO. Dieser ist selbständig anzufechten und eine spätere Anfechtung zusammen mit dem Endentscheid ist ausgeschlossen (Art. 237 Abs. 2 ZPO). Entfällt nach dem Zwischenentscheid eine Voraussetzung, so darf und muss das Gericht aber auf seinen Eintretensentscheid zurückkommen.
Davon ausgenommen ist die Voraussetzung der örtlichen Zuständigkeit, weil sie von der Fixationswirkung der Rechtshängigkeit umfasst wird (Art. 64 Abs. 1 lit. b ZPO). Im Laufe des Verfahrens einmal begründet, geht die örtliche Zuständigkeit durch nachträgliche Änderungen der sie begründenden Tatsachen nicht mehr verloren (vgl. ZK ZPO-Zürcher, 3. Aufl. 2016, 60 N 10 und Art. 64 N 15; BK ZPO-Zingg, Art. 60 N 33 f. und BK ZPO-Berger-Steiner, Art. 64 N 19 f.).
Das trifft entgegen der Ansicht der Berufungsbeklagten aber auf die sachliche Zuständigkeit nicht zu. Die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts bleibt nur bei einer Verminderung des Streitwertes nach zulässiger Klagebeschränkung erhalten (BK ZPO-Zingg, Art. 60 N 53; Art. 227 Abs. 3 und Art. 230 Abs. 2 ZPO).
In allen übrigen Fällen hat das Gericht, welches sich zu Beginn des Verfahrens mit einem Zwischenentscheid (zu Recht) als sachlich zuständig erachtet hat, bei Wegfall der Voraussetzung der sachlichen Zuständigkeit auf seinen Entscheid zurückzukommen und auf die Klage nicht einzutreten. Das gilt insbesondere, wenn sich seine sachliche Unzuständigkeit auf Grund einer inzwischen ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rechtlichen Grundlage ergibt.
An dieser Rechtslage ändert auch nichts, wenn die sachliche Zuständigkeit wie vorliegend nicht vom erstinstanzlichen Gericht selber, sondern von der zweiten Instanz in einem Rückweisungsentscheid festgestellt wurde. Bei einer Rückweisung ist weder die untere Instanz noch die erneut befasste Rechtsmittelinstanz an die Rechtsauffassung im Rückweisungsentscheid gebunden, wenn sich danach das Gesetz oder die Rechtsprechung durch übergeordnete Gerichte geändert hat (so noch explizit § 104a Abs. 3 GVG ZH).
3.3 Aus diesen Gründen hätte die Vorinstanz unabhängig vom Rückweisungsentscheid der Kammer nach Ergehen des zitierten Bundesgerichtsentscheides am 10. Februar 2014 bzw. spätestens im Zeitpunkt der Urteilsfällung ihre sachliche Zuständigkeit erneut prüfen dürfen und müssen. Dies ist im Berufungsverfahren nachzuholen. Wie gezeigt, erweist sich die Vorinstanz für die Beurteilung der vorliegenden Streitigkeit als sachlich unzuständig. Auf die Klage ist daher nicht einzutreten. Eine Auseinandersetzung mit der Berufungsschrift der Berufungsklägerin erübrigt sich damit.
Beschluss NG 150 023 des Obergerichts des Kantons Zürich vom 4.4.2016
Strafprozessrecht
Fall verschlampt: Sistierung zulasten der Staatskasse
Die Kosten eines eingestellten Verfahrens sind dann nicht dem Beschwerdeführer aufzuerlegen, wenn ihm kein prozessuales Verschulden anzulasten ist. Das ist etwa dann der Fall, wenn das Verfahren verjährt, weil der Untersuchungsrichter es mehrfach ungerechtfertigt lange sistierte und das Gericht die Hauptverhandlung auf einen Termin ansetzt, an dem die Verjährung bereits erfolgt war.
Sachverhalt:
Der Journalist Leo Müller veröffentlichte einen Artikel in der «Bilanz» über den Banker Rudolf Elmer, in dem er diesen als Denunziant bzw. Datendieb bezeichnete. Elmer reichte Strafanzeige wegen Ehrverletzung ein.
Nach verschiedenen Sistierungen und Rechtsmittelverfahren fand am 24. Februar 2014 die Hauptverhandlung vor dem Einzelgericht am Bezirksgericht Zürich statt. Mit Verfügung vom 2. Mai 2014 stellte die Vorinstanz das Verfahren ein, weil am 12. Februar 2014 die Verfolgungsverjährung eingetreten war. Die Gerichtskosten von 1500 Franken auferlegte die Vorinstanz Elmer. Ferner verpflichtete die Vorinstanz Elmer, Müller 8000 Franken Prozessentschädigung sowie 500 Franken Umtriebsentschädigung zu zahlen. Dagegen beschwerte sich Elmer mit Erfolg.
Aus den Erwägungen:
5. Es bleibt zu prüfen, ob die Kosten des eingestellten Verfahrens im Sinne von Art. 427 Abs. 2 StPO dem Beschwerdeführer aufzuerlegen sind.
5.1 Ebenso wenig wie dem Beschwerdegegner 1 (Müller) ist dem Beschwerdeführer ein prozessuales Verschulden im engeren Sinne einer mutwilligen oder grobfahrlässigen Erschwerung der Durchführung des Verfahrens anzulasten. Auch für ihn gilt, dass die lange Verfahrensdauer auf das zeitintensive Beweisverfahren sowie die Sistierungen durch den Untersuchungsrichter zurückzuführen sind. Eine schuldhafte Erschwerung der Verfahrensdurchführung durch den Beschwerdeführer ist nicht ersichtlich.
5.2 Auch eine mutwillige oder grobfahrlässige Einleitung des Verfahrens kann dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden. Die Bezeichnungen des Beschwerdeführers als Datendieb und Gestrauchelten im inkriminierten «Bilanz»-Artikel und die darin erhobene Behauptung, er streue «Gefälschtes», boten ihm vertretbaren Anlass zur Erhebung einer Ehrverletzungsklage.
Auch ist nachvollziehbar (wenn auch unzutreffend), dass der Beschwerdeführer den im inkriminierten Artikel verwendeten Begriff Betrüger auf sich bezog und auch deshalb eine Ehrverletzungsklage erhob.
5.3 Bei Antragsdelikten können die Verfahrenskosten bei einer Verfahrenseinstellung und fehlender Kostenpflicht der beschuldigten Person der Privatklägerschaft, welche ihre Verfahrensrechte ausgeübt hat, ohne weitere Voraussetzungen (d.h. nicht bloss bei einem mutwilligen oder grobfahrlässigen Handeln) auferlegt werden (Art. 427 Abs. 2 StPO; BGE 138 IV 248 E. 4.2.2 und 4.2.3; Griesser, a.a.O., N 9 zu Art. 427).
Das entspricht dem Willen des Gesetzgebers mit der Grundtendenz des bundesrätlichen Entwurfs zur StPO, die Verfahrensrechte der Privatklägerschaft auszudehnen, ihr aber andererseits vermehrt Kostenpflichten aufzuerlegen (BGE 138 IV 248 E. 4.2.3).
a) Der auf die Kostenregelung des Ehrverletzungsverfahrens als Privatstrafklageverfahren nach der früheren Strafprozessordnung des Kantons Zürich gestützte Entscheid der Kostenauflage auf den Beschwerdeführer im Beschluss vom 2. März 2015 (Urk. 30 S. 21 f. Erw. III.12.1 und 12.2) könnte demnach auch auf die Bestimmung von Art. 427 Abs. 2 StPO gestützt werden.
b) Anders als nach der Praxis zur aStPO/ZH ist die Regelung von Art. 427 StPO aber dispositiver Natur, kann das Gericht von ihr abweichen, wenn die Sachlage dies rechtfertigt, sind die Verfahrenskosten bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens nicht zwingend von der Privatklägerschaft zu tragen und hat das Gericht nach Recht und Billigkeit zu entscheiden (BGE 138 IV 248 E. 4.2.4).
c) Über die Ehrverletzungsklage des Beschwerdeführers wurde nicht materiell entschieden. Das Verfahren wurde nicht deswegen eingestellt, weil kein Straftatbestand erfüllt oder weil Rechtfertigungsgründe vorhanden gewesen wären, sondern weil die Verjährung eingetreten ist.
Die Verjährung ist insbesondere deswegen eingetreten, weil der Untersuchungsrichter das Verfahren mehrfach sistiert hatte, und zwar gemäss den Beschlüssen der hiesigen Kammer vom 21. Juni 2013 und vom 22. Januar 2014 ungerechtfertigt lange, und weil die vorinstanzliche Hauptverhandlung offenbar aufgrund eines (unzutreffenden) Hinweises des Untersuchungsrichters in der Verfügung vom 5. November 2013, dass die Verfolgungsverjährung Anfang März 2014 drohe, auf einen Termin, nämlich den 24. Februar 2014 angesetzt wurde, an welchem die Verjährung bereits eingetreten war (nämlich am 12. Februar 2014), und dies, obwohl die hiesige Kammer in den Beschlüssen vom 21. Juni 2013 und vom 22. Januar 2014 darauf hingewiesen hatte, dass die Verfolgungsverjährung Anfang Februar 2014 eintreten werde.
Unter diesen Umständen erscheint es als unbillig, dem Beschwerdeführer die Kosten des wegen Eintritts der Verjährung eingestellten Verfahrens aufzuerlegen. Diese Kosten sind vielmehr in Aufhebung von Dispositiv Ziffer 3 der angefochtenen Verfügung auf die Gerichtskasse zu
6. Unter den gleichen Voraussetzungen, unter denen die Privatklägerschaft bei Antragsdelikten zur Tragung der Verfahrenskosten verpflichtet werden kann, kann sie auch zur Entschädigung der Aufwendungen der beschuldigten Person I für die Verteidigung im Strafpunkt verpflichtet werden (Art. 432 Abs. 2 StPO; vgl. Art. 427 Abs. 2 StPO; BSK StPO-Wehrenberg / Frank, N 15 zu Art. 432). Art. 432 Abs. 2 StPO bildet das Gegenstück zu Art. 427 Abs. 2 StPO (Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Auflage 2013, N 6 zu Art. 432) und bedeutet eine Verschiebung der Entschädigungspflicht des Staates gegenüber der beschuldigten Person im Sinne von Art. 429 Abs. 1 StPO auf den Privatkläger (Art. 430 Abs. 1 lit. b StPO).
Ist davon abzusehen, dem Beschwerdeführer die Kosten des vorinstanzlichen Verfahrens aufzuerlegen, ist deshalb und aus dem gleichen Grund (Unbilligkeit unter den vorliegenden Umständen) auch davon abzusehen, ihn (anstelle des Staates) zum Ersatz der Aufwendungen des Beschwerdegegners 1 für dessen Verteidigung im vorinstanzlichen Verfahren zu verpflichten.
Beschluss UK 150 001 des Obergerichts des Kantons Zürich vom 25.5.2016
Massnahme: Mündlich verhandeln kann nötig sein
Die Tragweite des Entscheids über die Verlängerung einer Massnahme nach Artikel 59 Absatz 4 StGB und Art der zu beurteilenden Fragen können ein mündliches Verfahren notwendig machen. Wenn der Verurteilte es verlangt, ist dafür der Gutachter beizuziehen.
Sachverhalt:
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X. wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern, mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher sexueller Belästigung sowie Pornografie. Es ordnete eine stationäre therapeutische Behandlung an. Den Vollzug der Freiheitsstrafe schob es zugunsten der Massnahme auf. Die stationäre therapeutische Behandlung wurde in der Folge jeweils um drei Jahre verlängert, letztmals durch Entscheid des Regionalgerichts Bern Mittelland vom 25. Juni 2014. Das Obergericht des Kantons Bern wies eine gegen den Entscheid vom 25. Juni 2014 erhobene Beschwerde am 30. September 2014 ab. Das Bundesgericht hiess die dagegen gerichtete Beschwerde in Strafsachen von X. am 3. September 2015 gut, hob den obergerichtlichen Entscheid auf und wies die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurück.
Das wieder mit der Sache befasste Obergericht des Kantons Bern wies den Antrag von X. auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beizug des Gutachters am 11. November 2015 ab. Am 15. März 2016 wies das Obergericht die Beschwerde von X. ab und bestätigte die durch die erste Instanz angeordnete Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme um drei Jahre.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X. beim Bundesgericht, der Beschluss vom 15. März 2016 sei aufzuheben. Die Sache sei an die Vorinstanz zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung zurückzuweisen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Beschwerdeführer beanstandet die Ablehnung seines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beizug des Gutachters. Es gehe in der Sache um die Verlängerung einer freiheitsentziehenden Massnahme im Rahmen eines Nachverfahrens gemäss Art. 363 ff. StPO und damit um einen Entscheid von grosser Tragweite. Die Aktenlage sei komplex. Die Situation präsentiere sich heute grundlegend anders als im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Verfahrens im Juni 2014. Eine mündliche Verhandlung erweise sich daher im Lichte von BGE 141 IV 396 und mit Blick auf Art. 6 EMRK als unumgänglich.
2.2 Die Vorinstanz hält in ihrer Vernehmlassung dagegen, eine mündliche Verhandlung sei vorliegend nicht notwendig, weil hievon aufgrund der aktualisierten Aktenlage nach Beizug der Akten im Parallelverfahren betreffend Versetzung in den offenen Vollzug keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten seien. Im Übrigen treffe zwar zu, dass auch im grundsätzlich schriftlichen Beschwerdeverfahren mündlich verhandelt werden könne.
Es handle sich dabei jedoch um eine «Kann»-Bestimmung. Dass diese «Kann»-Bestimmung bei Beschwerden gegen nachträgliche selbständige Entscheide im Sinne von Art. 363 ff. StPO zur «Muss»-Bestimmung mutiere, lasse sich BGE 141 IV 396 entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht entnehmen.
3.1 Das Bundesgericht hat am 3. September 2015 anlässlich einer öffentlichen Beratung namentlich gestützt auf den klaren gesetzgeberischen Willen und in Übereinstimmung mit der überwiegenden Lehre entschieden, dass selbständige nachträgliche gerichtliche Entscheide im Sinne von Art. 363 ff. StPO mit Beschwerde anzufechten sind (BGE 141 IV 396 E. 4.7).
Mit diesem Grundsatzentscheid bestätigte das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung, in welcher es sich unter Hinweis auf die Botschaft und einzelne Autoren konstant dafür ausgesprochen hatte, dass die Beschwerde (und nicht die Berufung) das zulässige Rechtsmittel gegen selbständige gerichtliche Entscheide im Sinne von Art. 363 ff. StPO sei (siehe auch Urteile 6B_293/2012 vom 21. Februar 2012 E. 2, 6B_425/2013 vom 31. Juli 2013 E. 1.2, 6B_688/2013 vom 28. Oktober 2013 E. 2.1. und 2.2 sowie namentlich Urteil 6B_538/2013 vom 14. Oktober 2013 E. 5.2).
Es räumte allerdings ein, dass die im Schrifttum vertretene Minderheitsmeinung, wonach die Berufung das richtige Rechtsmittel sei, einiges für sich habe, namentlich soweit es um selbständige nachträgliche gerichtliche Entscheide gehe, die empfindlich in die Rechtsdisposition des Betroffenen eingreifen (BGE 141 IV 396 E. 4.1).
3.2 Das Bundesgericht widersprach den Bedenken der Minderheitsmeinung, die Beschwerde und das Beschwerdeverfahren würden dem inhaltlichen Gewicht gewisser nachträglicher Entscheide nicht gerecht.
Es wies darauf hin, dass die Beschwerde ein ordentliches und vollkommenes Rechtsmittel darstellt, das eine Überprüfung des angefochtenen Entscheids mit freier Kognition erlaubt. Verfahrensmässig seien im Beschwerdeverfahren im Vergleich zum Berufungsverfahren für die Beschwerde führende Person keine Nachteile auszumachen: Noven seien zulässig.
Ein zweiter Schriftenwechsel dürfe durchgeführt werden (Art. 390 Abs. 3 StPO). Zusätzliche Erhebungen oder Beweisabnahmen seien möglich (Art. 390 Abs. 4 StPO i.V.m. Art. 364 Abs. 3 StPO) und es könne, je nach Tragweite des Falles, mündlich verhandelt werden (Art. 390 Abs. 5 StPO i.V.m. Art. 365 Abs. 1 StPO; Art. 389 Abs. 2 StPO). Das Bundesgericht gelangte vor diesem Hintergrund zum Schluss, dass die Beschwerde, falls notwendig, ein der Berufung angenähertes Verfahren erlaube (BGE 141 IV 396 E. 4.4).
4.1. Das Bundesgericht unterstreicht mit den fraglichen Erwägungen, dass selbständige nachträgliche gerichtliche Entscheide gemäss Art. 363 ff. StPO den Regeln über das Beschwerdeverfahren unterliegen. Dieses ist grundsätzlich schriftlich. Zentral ist eine einfache und rasche Verfahrenserledigung.
4.2 Aus den in Frage stehenden bundesgerichtlichen Erwägungen ergibt sich aber auch, dass ein schriftliches Beschwerdeverfahren der Tragweite gewisser selbständiger nachträglicher gerichtlicher Entscheidungen unter Umständen nicht zu genügen vermag. In diesen Fällen drängt sich, was BGE 141 IV 396 E. 4.1 erkennen lässt, aufgrund der Eingriffsintensität des Entscheids und der Art der zur Prüfung anstehenden Fragen analog zum Berufungsverfahren eine mündliche Verhandlung auf.
Zu denken ist in dieser Hinsicht beispielsweise an die nachträgliche Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 65 Abs. 1 StGB, an die (nachträgliche) Anordnung oder Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59 Abs. 4 StGB bzw. Art. 62c Abs. 3 und 6 StGB sowie an die (nachträgliche) Anordnung der Verwahrung gemäss Art. 62c Abs. 4 StGB.
Diese Entscheide bringen regelmässig massive Einschränkungen der persönlichen Freiheit der betroffenen Personen mit sich (BGE 141 IV 396 E. 4.1). Überdies geht es in diesen Fällen durchwegs in erhöhtem Masse um die Person des Betroffenen und sein künftiges Verhalten. Es sind Prognosen über seine Behandlungsfähigkeit und seine Gefährlichkeit zu stellen. Entsprechend stehen auch im Rechtsmittelverfahren regelmässig Tatsachenfragen zur Prüfung und Beurteilung an. Ein persönlicher Eindruck erscheint zentral. Die Notwendigkeit der Anwesenheit des Betroffenen im Beschwerdeverfahren ist damit grundsätzlich indiziert (vgl. Patrick Guidon, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 397 StPO; vgl. Derselbe, Die Beschwerde gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung, Diss. St. Gallen 2011, S. 254 N. 522; Marianne Heer, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 11 ff. zu Art. 364 StPO sowie N. 1 ff. zu Art. 365 StPO; siehe auch Niklaus Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, S. 686 Rz. 1525 Fn. 235).
Der Beschwerdeinstanz verbleibt in diesen Fällen schwerwiegender Eingriffe in die persönliche Freiheit – was die Vorinstanz zu verkennen scheint – nur wenig Spielraum, ohne mündliche Anhörung und Befragung des Betroffenen zu entscheiden. Will sie trotz entsprechenden Antrags des Betroffenen auf eine mündliche Verhandlung verzichten, muss sie sich auf besondere Umstände stützen können, die es rechtfertigen, von einer mündlichen Verhandlung ausnahmsweise abzusehen.
5.1 Diese Grundsätze, die sich aus BGE 141 IV 396 ergeben, sind auf den zu beurteilenden Fall anzuwenden.
5.2 Vorliegend geht es in der Sache um eine Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59 Abs. 4 StGB um drei Jahre. Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug beträgt in der Regel höchstens fünf Jahre (Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB). Sind die Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben und ist zu erwarten, durch die Fortführung der Massnahme lasse sich der Gefahr weiterer mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen begegnen, kann die Massnahme – wenn nötig mehrfach – um jeweils höchstens fünf Jahre verlängert werden (Art. 59 Abs. 4 Satz 2 StGB; BGE 135 IV 139 E. 2; 134 IV 315 E. 3.4.1; siehe auch BGE 137 II 233 5.2.1).
Mit der Massnahmeverlängerung wird erheblich in die Freiheitsrechte des Beschwerdeführers eingegriffen. Es geht um eine Entscheidung von sehr grosser Tragweite. Schon alleine deshalb war es im Lichte von BGE 141 IV 396 unumgänglich, dem Antrag des Beschwerdeführers stattzugeben und eine mündliche Verhandlung im Beschwerdeverfahren durchzuführen.
5.3 Dass der Beschwerdeführer vor erster Instanz am 25. Juni 2014 unter Beizug des psychiatrischen Gutachters im Beisein seines Rechtsvertreters persönlich befragt und angehört wurde, ändert am Gebot einer mündlichen Verhandlung in zweiter Instanz prinzipiell nichts.
Der persönliche Eindruck, welchen die erste Instanz vom Beschwerdeführer gewonnen hat, macht dessen Befragung und Anhörung durch die Beschwerdeinstanz nicht überflüssig oder verzichtbar. Die sich im Rahmen der stationären Massnahmeverlängerung stellenden Fragen sind vielschichtig und nicht einfach zu beantworten.
Es geht zur Hauptsache um Fragen der Therapierbarkeit des Beschwerdeführers und der Wirksamkeit/Notwendigkeit einer weiteren stationären Therapieintervention (in Abgrenzung zu einer ambulanten Behandlung) im Hinblick auf dessen Gefährlichkeit zur Verbesserung der Legalprognose. Diese Fragen umfassen auch tatsächliche Bewertungsfragen. Es geht um die direkte Beurteilung der Person des Beschwerdeführers. Seine Anhörung und Befragung unter Einbezug des psychiatrischen Gutachters erscheint daher essenziell.
Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass sich die (Vollzugs-)Situation nach dem Verfahren vor erster Instanz mit der Versetzung des Beschwerdeführers in den offenen Massnahmenvollzug massgeblich verändert hat. Die für das Versetzungsverfahren ausgearbeitete ergänzende Stellungnahme des psychiatrischen Gutachters vom 22. September 2015 (vgl. kantonale Akten, pag. 149 ff.) zog die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren für den Entscheid betreffend Massnahmeverlängerung als (weitere) Beurteilungsgrundlage heran.
Eine mündliche Verhandlung unter Beizug des Gutachters wäre auch aus diesem Grunde geboten gewesen; dessen Befragung hätte eine fundierte Auseinandersetzung mit den im vorliegenden Verfahren relevanten Fachfragen erlaubt (vgl. Heer, a.a.O., N. 1 zu Art. 365 StPO).
5.4 Die Vorinstanz hätte nach dem Gesagten zusammenfassend aufgrund der Eingriffsintensität des Entscheids für den Beschwerdeführer und der Art der zu beurteilenden Fragen eine mündliche Verhandlung unter Beizug des Gutachters durchführen müssen.
Besondere Umstände, welche ein Absehen davon rechtfertigen könnten, legt sie nicht dar. Solche Umstände sind auch nicht ersichtlich.
6. Die Beschwerde ist gutzuheissen und der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben.
Urteil 6B_320/2016 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 26.5.2016
Ausländisches Urteil: Verurteilter ist anzuhören
Das Berner Obergericht erklärte sich bereit, ein österreichisches Strafurteil zu vollstrecken. Vorher hörte es die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern an, nicht aber den Verurteilten. Damit verletzte es dessen Anspruch auf rechtliches Gehör. Weiter missachtete es den Grundsatz des doppelten kantonalen Instanzenzugs, indem es als einzige Instanz über die Vollstreckung entschied.
Sachverhalt:
X. wurde in den Jahren 2012 und 2013 in Österreich wegen schweren gewerbsmässigen Betrugs rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sowie zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Das Bundesministerium für Justiz der Republik Österreich ersuchte die zuständige schweizerische Behörde mit Schreiben vom 20. Oktober und 10. November 2014 um stellvertretende Strafvollstreckung. Das Bundesamt für Justiz nahm das Begehren nach Rücksprache mit der Vollzugsbehörde des zuständigen Kantons Bern an. Diese ersuchte am 10. Februar 2015 die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Bern um Durchführung des Exequaturverfahrens. Nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern erklärte das Obergericht mit Beschluss vom 4. März 2015 die österreichischen Urteile für vollstreckbar.
X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der obergerichtliche Beschluss vom 4. März 2015 sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht des Kantons Bern zurückzuweisen. Im Rahmen des Exequaturverfahrens seien ihm das rechtliche Gehör zu gewähren und ein kantonales Rechtsmittel zur Verfügung zu stellen.
Aus den Erwägungen:
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe in Verletzung von Art. 105 IRSG (SR 351.1) über die Vollstreckung der ausländischen Urteile entschieden, ohne ihn angehört zu haben. Bundesrechtswidrig sei sodann, dass ihm lediglich die Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht zur Verfügung gestellt worden sei.
1.2 Die Vorinstanz setzt sich im angefochtenen Beschluss nicht mit den das Exequaturverfahren regelnden und vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Bestimmungen (Art. 105 und 106 IRSG) auseinander. Sie verzichtet gänzlich auf eigene rechtliche Ausführungen und schliesst sich vollumfänglich den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern gemäss deren Schreiben vom 27. Februar 2015 an. Diese kam zum Schluss, gestützt auf Art. 106 Abs. 1 IRSG i.V.m. Art. 55 Abs. 4 StPO und Art. 28 Abs. 2 des Einführungsgesetzes des Kantons Bern zur Zivilprozessordnung, zur Strafprozessordnung und zur Jugendstrafprozessordnung vom 11. Juni 2009 (EG ZSJ; BSG 271.1) sei die Vorinstanz für die Durchführung des Exequaturverfahrens zuständig.
1.3.1 Gestützt auf Art. 104 Abs. 1 IRSG entscheidet das Bundesamt für Justiz nach Rücksprache mit der Vollzugsbehörde zunächst formell über die Annahme eines ausländischen Vollstreckungsersuchens. Nimmt es dieses an, so übermittelt es die Akten und seinen Antrag der Vollzugsbehörde und verständigt den ersuchenden Staat (Art. 104 Abs. 1 IRSG, vgl. zum Verfahren BGE 136 IV 44 E. 1.2, S. 46 f.). In der Folge unterrichtet der (materiell) nach Art. 32 StPO zuständige kantonale Richter den Verurteilten über das Verfahren, hört ihn und seinen Rechtsbeistand zur Sache an und entscheidet über die Vollstreckung (Art. 105 IRSG).
Der Richter prüft von Amtes wegen, ob die Voraussetzungen der Vollstreckung gegeben sind, und erhebt die nötigen Beweise (Art. 106 Abs. 1 IRSG). Sind die Voraussetzungen erfüllt, so erklärt der Richter den Entscheid für vollstreckbar und trifft die für die Vollstreckung erforderlichen Anordnungen (Art. 106 Abs. 2 IRSG). Der Entscheid hat in Form eines begründeten Urteils zu erfolgen (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 IRSG). Das kantonale Recht stellt ein Rechtsmittel zur Verfügung (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG).
1.3.2 Vorliegend hat die Vorinstanz in erster und einziger Instanz über das Exequaturbegehren entschieden. Dies widerspricht Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG und Art. 80 Abs. 2 BGG, welche einen zweistufigen kantonalen Instanzenzug verlangen (vgl. auch BGE 136 IV 44 E. 1.4, S. 48). Es liegt kein Fall einer gesetzlichen Ausnahme (im Sinne von Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG) vor; vielmehr stellt Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG die lex specialis dar für den Rechtsweg im Exequaturverfahren. Der doppelte kantonale Instanzenzug dient nicht nur dem Rechtsschutz der betroffenen Personen, sondern auch der Entlastung des Bundesgerichts (Urteil 1B_467/2013 vom 13. Januar 2014 E. 3.3).
An den klaren gesetzlichen Vorgaben zum Ablauf des Exequaturverfahrens gemäss Art. 105 f. IRSG hat sich mit Inkrafttreten der StPO per 1. Januar 2011 nichts geändert (Omar Abo Youssef, in: Basler Kommentar, Internationales Strafrecht, 2015, N. 18 ff. zu Art. 106 IRSG; Stefan Heimgartner, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch / Hansjakob / Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 7 f. zu Art. 55 StPO; Robert Zimmermann, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 4. Aufl. 2014, Rz. 769; Camille Perrier Depeursinge, CPP annoté, 2015, S. 67, zu Art. 55 StPO; a.M. Horst Schmitt, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 5 f. zu Art. 55 StPO; Jeanneret / Kuhn, Précis de procédure pénale, 2013, S. 206 N. 11007; Moreillon / Parein-Reymond, Petit commentaire, CPP, 2013, N. 10 f. zu Art. 55 StPO; Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 5 zu Art. 55 StPO; Derselbe, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, N. 505; Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, S. 89 Rz. 236; Moreillon / Cruchet / Reymond, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 2 zu Art. 55 StPO; Piquerez / Macaluso, Procédure pénale suisse, 3. Aufl. 2011, N. 933; Paolo Bernasconi, in: Commentario, Codice svizzero di procedura penale, 2010, N. 13 zu Art. 55 StPO; Felix Bänziger, in: Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007, Goldschmid / Maurer / Sollberger [Hrsg.], 2008, S. 45 zu Art. 55 StPO).
Zwar ist in Art. 55 Abs. 4 StPO festgehalten, dass die Beschwerdeinstanz zuständig ist, wenn das Bundesrecht Aufgaben der (internationalen) Rechtshilfe einer richterlichen Behörde zuweist. Die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts sprach sich gestützt darauf wiederholt für eine Zuständigkeit der Beschwerdeinstanz aus, allerdings ohne sich zum Spannungsverhältnis zwischen Art. 55 Abs. 4 StPO und Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG zu äussern (vgl. Urteile 6B_741/2012 vom 5. September 2013 E. 1 und 6B_300/2013 vom 3. Juni 2013 E. 1).
Art. 55 Abs. 4 StPO gilt jedoch nicht absolut. Denn die Gewährung der internationalen Rechtshilfe und das Rechtsmittelverfahren richten sich gemäss Art. 54 StPO nur so weit nach der StPO, als andere Gesetze des Bundes und völkerrechtliche Verträge dafür keine Bestimmungen enthalten. Die Bestimmungen des IRSG gehen der Regelung von Art. 55 Abs. 4 StPO demnach vor (vgl. auch Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBI 2006 1147 Ziff. 2.2.5). Weder der StPO noch der Botschaft lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber vom zweistufigen kantonalen Instanzenzug im Exequaturverfahren nach Art. 105 f. IRSG hätte abweichen wollen (Urteil 1B_467/2013 vom 13. Januar 2014 E. 3.3).
Der Entscheid über das Exequaturbegehren hätte sodann gemäss Art. 106 Abs. 3 Satz 1 IRSG nicht in Form eines Beschlusses, sondern in Form eines begründeten Urteils erfolgen müssen. Damit ist zugleich klar, dass als Rechtsmittel gegen den erstinstanzlichen Exequaturentscheid nur die Berufung in Frage kommt (Art. 398 Abs. 1 StPO; Omar Abo Youssef, a.a.O., N. 14, 18 und 26 zu Art. 106 IRSG; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht sowie Rechtshilfe in Strafsachen, 2011, Rz. 3890).
Indem es die Vorinstanz unterliess, den Beschwerdeführer und seinen Rechtsbeistand vor dem Entscheid anzuhören, verstiess sie zudem gegen Art. 105 IRSG und verletzte dessen Anspruch auf rechtliches Gehör.
2. Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Beschluss aufzuheben. Die Sache ist zur Gewährleistung des zweistufigen gesetzlichen Rechtsweges (über das erst- und zweitinstanzliche kantonale Exequaturgericht) an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Urteil 6B_346/2015 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 1.3.2016
Einvernahme ohne Verteidiger unverwertbar
Nur der notwendige Verteidiger selbst – nicht der Beschuldigte allein — kann auf die Anwesenheit der Verteidigung an der Einvernahme des Beschuldigten verzichten. Eine Verwirkung des Anspruchs auf Wiederholung der Einvernahmen bzw. auf Geltendmachung der Unverwertbarkeit solcher Einvernahmen ist nur mit Zurückhaltung anzunehmen.
Sachverhalt:
A. wird vorgeworfen, an mehreren Standorten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten Hanfpflanzen angebaut, Hanfblüten besessen und 6 Gramm Marihuana verkauft zu haben.
Am 16. September 2011 wurde A. von der Polizei in flagranti beim Ernten von Hanfstauden auf einem Maisfeld ertappt. Der Beschuldigte wurde polizeilich einvernommen und es wurden sein Privatdomizil sowie der Bauernhof seines Vaters durchsucht. Insgesamt wurden rund 150 Hanfstauden sichergestellt. A. machte Anbau zum Eigenkonsum geltend. Der pikettleistende Staatsanwalt wurde zwar kontaktiert, eine Strafuntersuchung zu diesem Zeitpunkt förmlich aber noch nicht eröffnet. Nachdem die Polizei neuerliche Hinweise erhalten hatte, dass A. auch Hanfindooranlagen betreibe, wurden bei Hausdurchsuchungen am 13. Oktober 2011 weitere Hanfstauden sichergestellt.
Nun wurde die Strafuntersuchung förmlich eröffnet. A. wurde festgenommen und in Untersuchungshaft versetzt. Als die Untersuchungshaft 10 Tage überschritten hatte, wurde A. ein amtlicher Verteidiger beigeordnet. Rund ein Jahr später konnten bei A. neuerlich Hanfindooranlagen sichergestellt werden. A. flüchtete, wurde ausgeschrieben und stellte sich schliesslich am 4. Dezember 2012 der Polizei. Er wurde gleichentags in Abwesenheit seines amtlichen Verteidigers einvernommen. Diverse Einvernahmen des Beschuldigten und von Auskunftspersonen durch die Polizei erfolgten trotz zunächst materiell und später auch förmlich eröffneter Untersuchung ohne Auftrag der Staatsanwaltschaft.
A. rügte vor Obergericht wie bereits vor erster Instanz, es habe von Anfang an ein Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen. Nachdem die notwendige Verteidigung laut Gesetz in jedem Fall vor Eröffnung der Untersuchung sicherzustellen sei und die Untersuchung nach den Sicherstellungen vom 16. September 2011 hätte eröffnet werden müssen, sei er vom 16. September 2011 bis zum 25. Oktober 2011 ungenügend verteidigt gewesen. Das gelte auch für die ohne Anwesenheit seines Verteidigers erfolgte Einvernahme vom 4. Dezember 2012. Die ohne notwendige Verteidigung erfolgten Einvernahmen sowie die gestützt darauf erhobenen Beweismittel seien zufolge Unverwertbarkeit aus den Akten zu entfernen.
Aus den Erwägungen:
II./2.1.1 Die Vorinstanz stellt zutreffend fest, dass die Eröffnungsverfügung lediglich deklaratorischer Natur ist und nichts darüber aussagt, ab welchem Zeitpunkt das Vorverfahren nach Art. 299 ff. StPO und insbesondere die Untersuchung nach Art. 308 ff. StPO geführt werden. Die Unterlassung einer förmlichen Eröffnungsverfügung hat demnach keine Nichtigkeit oder Ungültigkeit der durchgeführten Untersuchungshandlungen zur Folge (BGE 141 IV 20 E. 1.1.4, S. 24 f.).
Sodann ist die notwendige Verteidigung laut Art. 131 Abs. 2 StPO zwar vor Eröffnung der Untersuchung sicherzustellen, jedoch kommt diese Bestimmung nur zum Tragen, wenn überhaupt ein Fall notwendiger Verteidigung nach Art. 130 StPO vorliegt.
Mit anderen Worten konnten dem Beschuldigten aus einer allenfalls verspäteten förmlichen Eröffnung der Untersuchung – jedenfalls in Zusammenhang mit der notwendigen Verteidigung – nur Nachteile entstehen, wenn bis zum Zeitpunkt der förmlichen Eröffnung am 13. Oktober 2011 bereits einer der Fälle von Art. 130 StPO eingetreten war.
Die Verteidigungsrechte des Beschuldigten wären sodann auch tangiert, wenn in der Zeit zwischen der förmlichen Eröffnung der Untersuchung und der Einsetzung von Rechtsanwalt X. als amtlicher Verteidiger ein Fall notwendiger Verteidigung eingetreten wäre.
Es gilt daher nachfolgend als Erstes zu prüfen, ob bereits vor dem 25. Oktober 2011 – Tag der Einsetzung von Rechtsanwalt X. als amtlicher Verteidiger des Beschuldigten rückwirkend per 22. Oktober 2011 – ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag.
2.1.3 Zur Diskussion steht ein Fall notwendiger Verteidigung gemäss Art. 130 lit. b StPO. Gemäss dieser Bestimmung muss die beschuldigte Person in notwendiger Weise verteidigt werden, wenn ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme droht. Dabei ist nicht die abstrakte, sondern die konkrete Strafandrohung massgebend (Ruckstuhl, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 18 zu Art. 130 StPO; Lieber, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 16 zu Art. 130 StPO).
Zu klären ist daher, ab welchem Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft vorliegend davon auszugehen hatte, dass der Beschuldigte zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt werden könnte. Diese Frage steht wiederum in direktem Zusammenhang mit dem gegen den Beschuldigten bestehenden Tatverdacht.
2.1.4 Zusammenfassend lag damit nach den Hausdurchsuchungen vom 13. Oktober 2011 ein Fall notwendiger Verteidigung nach Art. 130 lit. b StPO vor.
2.2.1 Vorliegend wurde die Untersuchung am 13. Oktober 2011 förmlich eröffnet. Wann die Eröffnung zeitlich genau erfolgte – vor oder nach der Einvernahme des Beschuldigten durch die Polizei –, kann der Verfügung zwar nicht entnommen werden, spielt aber auch keine Rolle. Massgebend ist vielmehr ein materieller Eröffnungsbegriff.
Die Strafuntersuchung gilt als materiell eröffnet, wenn die Staatsanwaltschaft in Bezug auf einen konkreten Fall zu handeln beginnt. Gemäss Bundesgericht ist dies jedenfalls dann der Fall, wenn die Staatsanwaltschaft Zwangsmassnahmen anordnet (BGE 141 IV 20 E. 1.1.4, S. 24; Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 7. April 2011, in: BJM 202, S. 48 ff.; für den Fall einer trotz Tatverdacht nicht sachlich/personell ausgedehnten Untersuchung vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_445/2013 vom 14. Februar 2014 sowie Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern BK 13 362 vom 6. Februar 2014; zum ebenfalls materiellen Eröffnungsbegriff in Bezug auf die Teilnahmerechte vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_217/2015 vom 5. November 2015 E. 2.3.).
2.2.2 Spätestens mit dem Vollzug der schriftlich angeordneten bzw. bestätigten Hausdurchsuchungen/Durchsuchungen von Aufzeichnungen am 13. Oktober 2011 war deshalb vorliegend die Untersuchung eröffnet.
Diesen Zwangsmassnahmen musste im Übrigen zwingend ein hinreichender Tatverdacht zugrunde liegen (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO). Dieser – auch von der Staatsanwaltschaft als anordnender Behörde der Hausdurchsuchungen /Durchsuchungen von Aufzeichnungen offensichtlich als gegeben erachtete – Tatverdacht erforderte schon nach Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO die Eröffnung der Untersuchung.
2.2.3 Bei genauer Betrachtung war die Untersuchung sogar schon am 16. September 2011 materiell eröffnet:
Mit der mündlichen staatsanwaltschaftlichen Anordnung der Hausdurchsuchungen / Durchsuchung von Aufzeichnungen vom 16. September 2011 bzw. spätestens mit deren Vollzug war die Untersuchung materiell eröffnet.
2.3.1 Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, so hat die Verfahrensleitung gemäss Art. 131 Abs. 1 StPO darauf zu achten, dass unverzüglich eine Verteidigerin oder ein Verteidiger bestellt wird.
Sind die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung bei der Einleitung des Vorverfahrens erfüllt, so ist die Verteidigung nach Abs. 2 dieser Bestimmung nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, jedenfalls aber vor Eröffnung der Untersuchung, sicherzustellen.
Wurden in Fällen, in denen die Verteidigung erkennbar notwendig gewesen wäre, Beweise erhoben, bevor eine Verteidigerin oder ein Verteidiger bestellt worden ist, so ist die Beweiserhebung nur gültig, wenn die beschuldigte Person auf ihre Wiederholung verzichtet (Abs. 3).
2.3.2 Die Staatsanwaltschaft macht geltend, die Rüge der fehlenden notwendigen Verteidigung sei zu spät vorgebracht worden. Die Verteidigung sei gehalten, das Beschleunigungsgebot einzuhalten. Eine derart späte Geltendmachung der Verwertungsverbote stelle eine rechtsmissbräuchliche Verfahrensverzögerung dar.
Die Verteidigung ist dagegen der Ansicht, der Beschuldigte sei aufgrund des Nemo-tenetur-Grundsatzes nicht verpflichtet gewesen, die Nichtverwertbarkeit früher geltend zu machen. Mit der Geltendmachung der Nichtverwertbarkeit im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens habe der Beschuldigte beziehungsweise die Verteidigung in keiner Weise gegen Treu und Glauben verstossen. Ohnehin müsse die Verwertbarkeit der erhobenen Beweise in jedem Verfahrensstadium von Amtes wegen durch das Gericht geprüft werden.
2.3.a.4 Der Beschuldigte hatte bislang jedenfalls nicht explizit i.S.v. Art. 131 Abs. 3 StPO auf die Wiederholung der ohne notwendige Verteidigung erfolgten Einvernahmen verzichtet.
Es stellt sich hingegen die Frage, ob der Beschuldigte durch das lange Zuwarten implizit auf deren Wiederholung verzichtet hatte beziehungsweise ob die späte Geltendmachung der Unverwertbarkeit dieser Beweismittel als rechtsmissbräuchlich zu gelten hat.
2.3.a.5 Das Obergericht hat in seinem Urteil SK 13 338 vom 9. Mai 2014 entschieden, dass es rechtsmissbräuchlich ist, wenn die Verteidigung erstmals im Plädoyer vor oberer Instanz geltend macht, die Erstaussagen des Berufungsführers seien mangels Sicherstellung der notwendigen Verteidigung vor den entsprechenden Einvernahmen unverwertbar.
Das Gericht stützte sich dabei auf die ständige bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach es dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Verbot des Rechtsmissbrauchs widerspricht, formelle Rügen, die in einem früheren Prozessstadium hätten geltend gemacht werden können, bei ungünstigem Ausgang später noch vorzubringen. Vom Beschuldigten bzw. dessen Anwalt werde verlangt, zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte rechtzeitig und in angemessener Weise aktiv zu werden. Unterbleibe eine zumutbare Intervention, könne nach Treu und Glauben sowie von Grundrechts wegen kein Tätigwerden der Strafjustizbehörden erwartet werden.
Indessen erging die erwähnte bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Fällen, in welchen die formellen Rügen entweder vor den kantonalen Instanzen überhaupt nicht (BGE 118 IA 462 E. 2, S. 465 f.; Urteil des Bundesgerichts 6B_1071/2013 vom 11. April 2014 E. 1.2) oder jedenfalls erst im kantonalen Rechtsmittelverfahren (BGE 135 III 334 E. 2.2, S. 336; BGE 120 Ia 48 E. 2.e) bb), S. 55; Urteile des Bundesgerichts 6B_678/2013 vom 3. Februar 2014 E. 2, 4A_516/2012 vom 8. Februar 2013 E. 5.1) geltend gemacht wurden.
Vorliegend verhält es sich anders: Die Verteidigung hat zwar auch hier relativ lange mit der Geltendmachung der Verletzung von Verteidigungsrechten bzw. der sich ihrer Ansicht nach daraus ergebenden Unverwertbarkeit von Beweismitteln zugewartet. Immerhin brachte sie ihren Einwand aber noch im Rahmen des erstinstanzlichen Beweisverfahrens vor.
Es kann (anders als in BGE131 I 185 E. 3.2.4, S. 190 ff.) auch nicht gesagt werden, die Einwände der Verteidigung dienten einzig der rechtsmissbräulichen Prozessverschleppung.
Im Übrigen verweist der Beschuldigte zu Recht auf das Spannungsfeld zwischen dem Gebot von Treu und Glauben bzw. der daraus teilweise abgeleiteten Pflicht des Beschuldigten, Verwertungsverbote rechtzeitig von sich aus geltend zu machen, und dem Grundsatz «nemo tenetur se ipsum accusare» (vgl. dazu Lieber, a.a.O., N. 15 zu Art. 131 StPO; Ruckstuhl, a.a.O., N. 14 zu Art. 131 StPO, je m.w.H.).
Eine Verwirkung des Anspruchs auf eine Wiederholung der trotz erkennbarer notwendiger Verteidigung vor Sicherstellung derselben erfolgten Einvernahmen bzw. auf Geltendmachung eines entsprechenden Verwertungsverbots ist deshalb jedenfalls nur mit Zurückhaltung anzunehmen.
So hielt das Obergericht des Kantons Bern in seinem Beschluss BK 15 201 vom 17. August 2015 fest, die beschuldigte Person sei nicht verpflichtet, die behauptete Unverwertbarkeit eines Beweismittels unverzüglich geltend zu machen. Ein (unbewusstes) Verstreichenlassen der Möglichkeit der Rüge stelle weder einen Verzicht dar, noch sei es einem solchen gleichzustellen (vgl. auch Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt vom 7. April 2011 E. 3.5, a.a.O., wonach aus dem blossen Schweigen des Beschuldigten mit Blick auf sein Mitwirkungsverweigerungsrecht nicht auf den Verzicht auf eine Wiederholung einer ohne notwendigen Verteidiger erfolgten Einvernahme geschlossen werden kann).
Und auch das Bundesgericht hat in einem Entscheid darauf abgestellt, ob ein Beschwerdeführer die Unverwertbarkeit des Untersuchungsergebnisses bereits vor Anklageerhebung «oder im erstinstanzlichen Verfahren» hätte rügen können (Urteil 6B_678/2013 vom 3. Februar 2014 E. 2.3.; vgl. auch BGE 118 IA 462 E. 5, S. 468 f., wonach die Beantragung einer Konfrontationseinvernahme vor oberer Instanz noch rechtzeitig erfolgte; ferner Urteil 6B_20/2014 vom 14. November 2014 E. 8.3, wonach ein treuwidriges Verhalten nicht schon deshalb anzunehmen ist, weil das Beweismittel dem Berufungskläger bekannt war und er den Beweisantrag schon im Untersuchungs- oder erstinstanzlichen Verfahren hätte stellen können).
2.3.a.6 Die Geltendmachung der fehlenden notwendigen Verteidigung (erst) im Rahmen des erstinstanzlichen Beweisverfahrens war im vorliegenden, konkreten Fall nicht rechtsmissbräuchlich. Der Einwand der Unverwertbarkeit war mithin nicht verwirkt.
2.3.c.1 Nachdem die Untersuchung materiell bereits am 16. September 2011 eröffnet war und sich zudem aus den anlässlich der Hausdurchsuchungen vom 13. Oktober 2011 sichergestellten Menge an Betäubungsmitteln ein Tatverdacht ergab, welcher auf eine dem Beschuldigten drohende Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr schliessen liess, hätte die notwendige Verteidigung vor den beiden Einvernahmen des Beschuldigten vom 13. Oktober 2011 sichergestellt werden müssen.
Das gilt auch für die Einvernahme anlässlich der Haftverhandlung vom 14. Oktober 2011 sowie für die Einvernahme vom 19. Oktober 2011, als die Untersuchung nicht nur materiell, sondern inzwischen auch förmlich längst eröffnet war.
2.3. c.2 Diese vier Einvernahmen wurden demnach trotz erkennbar notwendiger Verteidigung durchgeführt, ohne dass eine solche bestellt worden wäre.
Mangels Verzicht auf die Wiederholung dieser Einvernahmen durch den Beschuldigten sind sie laut Art. 131 Abs. 3 StPO nicht «gültig» bzw. «valide» bzw. «exploitables».
Die öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat angesichts der divergierenden Gesetzestexte in den drei Landessprachen – entgegen der früheren Rechtsprechung der strafrechtlichen Abteilung (Urteil 6B_883/2013 vom 17. Februar 2014 E. 2.3) – jüngst offen gelassen, ob die fehlende Wiederholung bzw. der fehlende Verzicht auf eine Wiederholung durch den Beschuldigten zur absoluten Unverwertbarkeit (Art. 141 Abs. 1 StPO) oder aber bloss zur relativen Unverwertbarkeit bzw. ausnahmsweisen Verwertbarkeit der Einvernahme zur Aufklärung schwerer Straftaten (Art. 141 Abs. 2 StPO) führt (BGE 141 IV 289 E. 2, S. 292 ff.; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 1B_124/2015 vom 12. August 2015 E. 2.1.2).
Die Frage muss vorliegend nicht abschliessend beantwortet werden, nachdem die Aussagen des Beschuldigten vom 13. und 19. Oktober 2011 angesichts der objektiven Beweismittel – vorab der sichergestellten Betäubungsmittel, der Aussagen der Auskunftspersonen und Zeugen sowie seiner eigenen, prozessual korrekt erhobenen Aussagen – zur Aufklärung der ihm vorgeworfenen Straftaten nicht unerlässlich i.S.v. Art. 141 Abs. 2 StPO sind.
2.3.c.8 Die Protokolle dieser Einvernahmen sind in Anwendung von Art. 141 Abs. 5 StPO aus den Strafakten zu entfernen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und anschliessend zu vernichten.
2.3.d.1 Nachdem polizeiliche Ermittlungen ergeben hatten, dass in einer Anfang 2012 durch den Beschuldigten gekauften weiteren Liegenschaft […] eine Hanfindooranlage betrieben wird, wurde durch die Staatsanwaltschaft am 30. November 2012 eine (weitere) Untersuchung gegen den Beschuldigten wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz eröffnet. Im Rahmen der am selben Tag vollzogenen Hausdurchsuchungen konnten weitere Indooranlagen sichergestellt werden. Der Beschuldigte war jedoch nicht zu Hause und wurde deshalb vom zuständigen Staatsanwalt zwecks Vorführung zur Festnahme ausgeschrieben. In den folgenden Tagen wurde aktiv nach dem Beschuldigten gefahndet.
Am 4. Dezember 2012 um 10:30 Uhr stellte sich der Beschuldigte auf der Polizeiwache. Ebenfalls um 10:30 Uhr wurde er aufgrund der bestehenden Ausschreibung angehalten und vorläufig festgenommen. Die Polizei war sich der bereits hängigen Verfahren gegen den Beschuldigten bewusst. Um 10:45 Uhr wurde der zuständige Staatsanwalt über die Anhaltung informiert.
Laut Anzeigerapport wurde sodann um 11.25 Uhr das Advokaturbüro [des amtlichen Verteidigers des Beschuldigten] dahingehend orientiert, dass A. mit Rechtsanwalt X. sprechen möchte. [Die Sekretärin des Advokaturbüros] habe angegeben, dass Rechtsanwalt X. nicht abkömmlich sei.
Um 12:46 Uhr wurde mit der «polizeilichen» Einvernahme begonnen.
2.3.d.2 Die Verteidigung bringt zu Recht vor, dass zu diesem Zeitpunkt längst eine Untersuchung eröffnet war und die Einvernahme daher nur staatsanwaltschaftlich delegiert hätte stattfinden dürfen. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich aber bei der Vorschrift von Art. 312 Abs. 1 StPO lediglich um eine Ordnungsvorschrift (oben b.). Aus dem Fehlen des staatsanwaltlichen Auftrags zur Einvernahme – sollte dieser im Rahmen der telefonischen Orientierung über die Anhaltung nicht ohnehin mündlich erteilt worden sein – entstanden dem Beschuldigten keine Rechtsnachteile.
2.3.d.3 Hingegen lag ein Fall notwendiger Verteidigung vor. Der Vorinstanz ist zwar darin zuzustimmen, dass sich die Situation am 4. Dezember 2012 von der den Urteilen des Bundesgerichts 1B_445/2013 vom 14. Februar 2014 sowie des Appellationsgerichts Basel-Stadt vom 7. April 2011 (a.a.O.) zugrunde liegenden dahingehend unterschied, als hier bereits ein amtlicher Verteidiger eingesetzt war. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass der Beschuldigte auf die Anwesenheit seines amtlichen und notwendigen Verteidigers verzichten konnte.
2.3.d.4 Vielmehr konnte höchstens der notwendige Verteidiger selbst bzw. der Beschuldigte zusammen mit der Verteidigung auf die Teilnahme an der Einvernahme verzichten (vgl. Lieber, a.a.O., N. 14a Art. 131 StPO, m.w.H.). Dies jedenfalls solange, als eine ausreichende und wirksame Wahrung der Interessen des Beschuldigten im Verfahren trotzdem gewährleistet war (vgl. BGE 120 IA 48 E. 2. b) bb), S. 51).
Ein solcher Verzicht lag aber gerade nicht vor. Sodann ist in der Auskunft der Sekretärin des Verteidigers, dass dieser «nicht abkömmlich» sei, jedenfalls kein Verzicht auf die Teilnahme der Verteidigung an der Einvernahme zu sehen. Es geht zwar aus den Akten nicht hervor, weshalb [der Verteidiger] damals nicht abkömmlich war. Doch konnte von ihm jedenfalls nicht erwartet werden, nur knapp 1 ½ Stunden nach der telefonischen Orientierung seines Anwaltsbüros zur Einvernahme zu erscheinen (allein die Anfahrt dauert mit dem Zug eine knappe Stunde).
Es hätte mit der Einvernahme auch im Rahmen der maximalen Dauer der vorläufigen Festnahme durchaus zugewartet werden können. Zudem erfolgte die Festnahme laut Befehl ohnehin zwecks Vorführung bei der Staatsanwaltschaft (Art. 207 Abs. 1 lit. d StPO), welche am darauffolgenden 5. Dezember 2012 dem Beschuldigten – nota bene in Anwesenheit seines notwendigen Verteidigers – die Haft eröffnete.
Es ist also nicht so, dass der Beschuldigte gleich nach der polizeilichen Befragung wieder durch die Polizei hätte entlassen werden können und die zeitlich unmittelbare Befragung im Interesse des Beschuldigten angezeigt gewesen wäre. Dies umso mehr, als er auch noch explizit darauf hinwies, dass er seinen Verteidiger beiziehen wolle.
2.3.d.5 Auch die Einvernahme vom 4. Dezember 2012 ist deshalb in Anwendung von Art. 131 Abs. 3 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StPO unverwertbar und nach Art. 141 Abs. 5 StPO aus den Strafakten zu entfernen.
Beschluss SK 2015 24 des Obergerichts des Kantons Bern vom 9.2.2016