Arbeitsrecht
Kündigung nach Videoüberwachung missbräuchlich
Ein Inhaber einer Bar montierte eine Kamera, um die Waschmaschine zu überwachen. Als ein Angestellter sie zuklebte, wurde er entlassen. Das Zivilgericht in Basel stufte dies als unverhältnismässig ein und die Kündigung als missbräuchlich.
Sachverhalt
Der Inhaber einer Bar in Basel hatte verschiedene Überwachungskameras installiert. Eine davon war im Keller auf die Waschmaschine gerichtet. Der Barkeeper klebte diese Kamera zu, worauf ihm der Arbeitgeber noch in der Probezeit kündigte. Der Mann forderte beim Zivilgericht Basel-Stadt neben offenem Lohn eine Entschädigung von 8000 Franken wegen missbräuchlicher Kündigung. Das Zivilgericht Basel-Stadt gab ihm recht.
Aus den Erwägungen
4.3 Der Kläger behauptet an der Hauptverhandlung, die Beklagte habe die Kündigung ausgesprochen, nachdem der Kläger Kameras, welche seiner Ansicht nach unrechtmässig installiert waren, abgeklebt habe. Damit liege eine Rachekündigung vor, nachdem der Kläger – zum Unmut der Beklagten – auf seinen diesbezüglichen Rechten beharrt habe.
5.1 Die Beklagte führt dagegen aus, die Kameras seien allesamt rechtmässig von einer Schweizer Firma als Präventivmassnahme gegen Diebstahl und Überfall installiert worden. Eine weitere Kamera sei bei der Waschküche installiert, damit überprüft werden könne, ob – was immer mal wieder vorgekommen sei – Wasser aus der Waschmaschine austritt.
7.6.1 Bereits mit Ziff. 2 der Verfügung vom 6. Dezember 2022 hat das Gericht auf die von der Beklagten angeregte Edition der Aufnahmen der Überwachungskameras verzichtet. Dies unter Hinweis auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, welche dem Einsatz von Überwachungs- und Kontrollsystemen, die das Verhalten des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz überwachen sollen, entgegenstehen respektive diesen stark einschränken (vgl. auch Art. 26 der Verordnung 3 zum ArG).
Die allgemeine Aufbewahrung entsprechender Aufnahmen ist zeitlich jedenfalls nur begrenzt zulässig, sodass diese in der Regel innert 24 bis 72 Stunden zu löschen sind. Gleiches ergibt sich im Übrigen aus den Bestimmungen zum Datenschutz. Soweit die fraglichen Aufnahmen im Zeitpunkt der Anregung der Edition überhaupt noch vorhanden gewesen sind, wären sie über einen Zeitraum von ca. einem halben Jahr aufbewahrt worden, was nach den vorangehenden Ausführungen als rechtswidrig zu qualifizieren ist.
Insofern können sie nach Art. 152 Abs. 2 ZPO im vorliegenden Verfahren nicht als Beweismittel berücksichtigt werden, zumal ein den Gesundheitsschutz des Klägers überwiegendes Interesse an der Wahrheitsfindung von der Beklagten nicht dargetan und auch ansonsten nicht ersichtlich ist.
9.1 Der Kläger macht wegen der angeblichen Missbräuchlichkeit der Kündigung vom 7. Mai 2022 eine Entschädigung im Sinne von Art. 336a OR geltend. Eine Kündigung ist insbesondere missbräuchlich, wenn sie aus einem der in Art. 366 OR genannten Gründe ausgesprochen worden ist. Die Partei die das Arbeitsverhältnis missbräuchlich gekündigt hat, hat der anderen Partei eine Entschädigung auszurichten, sofern sie nicht zur unveränderten Fortführung des Arbeitsverhältnisses bereit ist und sofern die andere Partei die Formalien nach Art. 336b OR eingehalten hat.
9.5 Wie bereits zuvor ausgeführt ist der Einsatz von Überwachungs- und Kontrollsystemen, die das Verhalten der Arbeitnehmer am Arbeitspatz überwachen sollen, gemäss den Ausführungsbestimmungen zum Arbeitsgesetz grundsätzlich unzulässig (Art. 26 Abs. 1 Verordnung 3 zum ArG). Technische Überwachungsmittel (bspw. zur Überwachung gefährlicher Maschinen und Anlagen) dürfen hingegen eingesetzt werden, wo es für den Betrieb wichtig ist und sich Personal nur selten und kurzzeitig aufhält.
9.7 Bei der Behauptung der Beklagten hinsichtlich der Notwendigkeit der Überwachung der Waschmaschine dürfte es sich um eine reine Schutzbehauptung handeln. Zum einen erscheint höchst fraglich, ob der genannte Zweck (Überwachung der Waschmaschine bzw. rechtzeitiges Erkennen drohender Wasserschäden) den Persönlichkeitsschutz der Arbeitnehmer überwiegt. Zum anderen ist der Einsatz einer Videokamera zur Überwachung einer offenbar defekten Waschmaschine jedenfalls nicht verhältnismässig.
Anstelle der mit der Überwachung der Waschmaschine einhergehenden Überwachung der Arbeitnehmer wäre es der Arbeitgeberin nämlich ohne weiteres zumutbar gewesen, die Waschmaschine durch ein zuverlässiges Modell zu ersetzten, womit auch die angeblich notwendige Videoüberwachung überflüssig geworden wäre.
Es ist deshalb mit dem Kläger davon auszugehen, dass die Überwachung durch die fragliche Kamera nicht der Waschmaschine, sondern vielmehr – unzulässigerweise – den Arbeitnehmern gegolten hat. Die auf das Abkleben der fraglichen Kamera gestützte Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Beklagte ist damit als Rachekündigung und somit als missbräuchlich zu qualifizieren.
9.8 Die Höhe der von der Beklagten zu entrichtenden Pönale wird vom Gericht unter Würdigung sämtlicher Umstände festgesetzt, wobei sie den Lohn für sechs Monate nicht übersteigen darf (Art. 336a OR). Faktoren die bei der Bemessung der Pönale zu berücksichtigen sind, sind insbesondere: die Schwere des Eingriffs in die Persönlichkeit des Gekündigten, der Grad der Missbräuchlichkeit des Motivs des Kündigenden, resp. die Schwere seiner Verfehlung, ein allfälliges Mitverschulden des Gekündigten und auch die Dauer der Anstellung. Der Kläger macht vorliegend eine Pönale von 8000 Franken geltend. Entsprechend ist dem Kläger auch die geforderte Entschädigung von netto 8000 Franken zuzusprechen.
Zivilgericht Basel-Stadt, Entscheid GS.2022.28 vom 5.6.2023
Zivilprozessrecht
Schlichtung ohne korrekte Vertretung ungültig
Parteien haben persönlich an der Schlichtungsverhandlung teilzunehmen. Die Vertreter von juristischen Personen müssen ihre Organstellung schon beim Friedensrichter nachweisen.
Sachverhalt
Eine paritätische Kommission aus dem Kanton St. Gallen ist als Verein organisiert. Die Kommission kontrollierte einen Betrieb und stellte Verstösse gegen den Gesamtarbeitsvertrag der betroffenen Branche fest. Sie forderte vom Betrieb Entschädigungen gemäss Gesamtarbeitsvertrag von 17'000 Franken. An der Schlichtungsverhandlung erschien für die klagende paritätische Kommission der Geschäftsführer. Er legitimierte sich mit einer Vollmacht, legte jedoch keine Bestätigung seiner Wahl zum Vorstandsmitglied des Vereins vor.
Die Schlichtungsbehörde erteilte der Kommission die Klagebewilligung. Das zuständige Kreisgericht beurteilte die Klagebewilligung in einem Zwischenentscheid als gültig. Das Kantonsgericht St. Gallen hingegen trat auf die Klage nicht ein. Eine juristische Person müsse sich bereits vor der Schlichtungsstelle als Organ ausweisen, zum Beispiel mittels Statuten und Bescheinigung ihrer Wahl als Vorstandsmitglied.
Aus den Erwägungen
2. a) Erscheint die klägerische Partei nicht persönlich zur Schlichtungsverhandlung, so gilt das Schlichtungsgesuch als zurückgezogen und das Verfahren ist als gegenstandslos abzuschreiben (Art. 206 Abs. 1 ZPO). Begründet wird die Pflicht zum persönlichen Erscheinen damit, dass eine Schlichtungsverhandlung dann am aussichtsreichsten ist, wenn die Parteien persönlich anwesend sind, da nur so eine wirkliche Aussprache und eine wirkliche Versöhnung stattfinden können (Art. 201 Abs. 1 ZPO).
Durch ein persönliches Erscheinen soll ein Gespräch zwischen den Parteien ermöglicht werden, bevor es zur Klageeinleitung kommt. Die Bestimmung von Art. 204 Abs. 1 ZPO zielt darauf ab, diejenigen Personen zu einer Aussprache zusammenzubringen, die sich miteinander im Streit befinden und die über den Gegenstand der Streitsache auch selber verfügen können (BGE 141 III 164, E. 2.3 und 2.4; BGE 141 III 265, E. 5.1). Juristische Personen treten durch ihre Organe auf.
Persönliches Erscheinen einer juristischen Person vor Gericht bedeutet, dass eine natürliche Person zu erscheinen hat, die zur Klärung des Prozessstoffs beitragen kann und zur Abgabe prozessualer Erklärungen ermächtigt ist (BGE 141 III 159, E. 2.3 und 2.4; BGE 141 III 265, E. 5.1). Hierzu sind kraft Gesetz die Organe berufen. Sie geben dem Willen der juristischen Person Ausdruck (Art. 55 Abs. 1 ZGB) und handeln für diese. Setzt das Gesetz somit voraus, dass eine Partei persönlich erscheinen muss, so hat primär das entsprechende Organ anwesend zu sein. Ist der Organvertreter nicht einzelzeichnungsberechtigt, hat er eine rechtsgenügende Vollmacht vorzulegen.
Auch die Teilnahme eines Prokuristen nach Art. 458 ff. OR ist ausreichend (BGE 141 III 159, E. 2.6).Gemäss Bundesgericht kann sich eine juristische Person durch eine mit einer kaufmännischen Handlungsvollmacht (Art. 462 OR) ausgestattete und ausdrücklich zur Prozessführung befugte Person, die überdies mit dem Streitgegenstand vertraut ist, vertreten lassen (BGE 140 III 70, E. 4.3).
Eine Vertretung durch ein faktisches Organ ist gemäss Bundesgericht jedoch ausgeschlossen: Es ist der Prozessökonomie abträglich, wenn die Frage des korrekten persönlichen Erscheinens i.S.v. Art. 204 Abs. 1 ZPO in das erstinstanzliche Gerichtsverfahren verlagert wird. Erachtet die Schlichtungsbehörde nämlich die Ausführungen des angeblichen faktischen Organs als glaubwürdig und führt sie die Schlichtung durch, besteht das Risiko, dass der zur Verhandlung erschienene Vertreter in Wirklichkeit kein faktisches Organ ist, eine erteilte Klagebewilligung ungültig oder ein abgeschlossener Vergleich infrage gestellt wäre (BGE 141 III 159, E. 2.4–2.6).
Entsprechend kann auch weder eine beliebige, bei der juristischen Person angestellte und bevollmächtigte Person noch eine Rechtsanwältin bzw. ein Rechtsanwalt alleine die Vertretung im Sinne des persönlichen Erscheinens erfüllen (sofern nicht die Voraussetzungen von Art. 204 Abs. 3 lit. a/b ZPO vorliegen). Wird in diesem Fall eine Klagebewilligung ausgestellt, ist diese ungültig, und auf die Klage darf nicht eingetreten werden (BGE 140 III 70, E. 5), da das Vorliegen einer gültigen Klagebewilligung der Schlichtungsbehörde eine Prozessvoraussetzung ist (BGE 141 III 159, E. 2.1).
Die Schlichtungsbehörde muss an der Schlichtungsverhandlung möglichst rasch und einfach gestützt auf Urkunden darüber befinden können, ob die Voraussetzung des persönlichen Erscheinens nach Art. 204 Abs. 1 ZPO erfüllt ist, oder ob sie aufgrund von Säumnis der Klägerin das Verfahren nach Art. 206 Abs. 1 ZPO abschreiben soll (BGE 141 III 159, E. 2.4; zum Ganzen vgl. Honegger, in: Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger, ZPO Komm., Art. 204, N 1 ff.; BSK ZPO-Infanger, 3. Auflage, Art. 204, N 1 ff.; BK-Alvarez / Peter, 2012, Art. 204 ZPO, N 1 f.; Egli, in: Brunner / Gasser / Schwander, ZPO Komm, 2016, Art. 204, N 3 ff.; Grolimund / Bachofner, in: Festschrift für Professor Thomas Sutter-Somm, 2016, S. 137 ff.: Baumberger / Hobi, in Jusletter 19. Oktober 2015, Persönliche Erscheinungspflicht juristischer Personen anlässlich von Schlichtungsverhandlungen, S. 1 ff.).
In einem neusten Entscheid hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung nochmals bekräftigt und präzisiert (BGer 4A_201/2023): Insbesondere hat es nochmals festgehalten, dass die Schlichtungsbehörde an der Schlichtungsverhandlung möglichst rasch und gestützt auf Urkunden (vgl. Art. 203 Abs. 2 ZPO) darüber befinden können müsse, ob die Voraussetzungen des persönlichen Erscheinens nach Art. 204 Abs. 1 ZPO erfüllt seien oder ob sie aufgrund von Säumnis das Verfahren abschreiben solle (E. 3.1.2).
2. b) Diese Rechtsprechung bezieht sich grundsätzlich auf im Handelsregister eingetragene juristische Personen und deren Organe sowie Prokuristen bzw. auf kaufmännische Handlungsbevollmächtigte. Daraus folgt aber auch, dass im konkreten Fall eine gültige Vertretung im Schlichtungsverfahren im Sinne eines «Handlungsbevollmächtigten» mit einer zusätzlichen «Vollmacht zur Prozessführung» im Sinn von Art. 462 Abs. 2 OR ausscheidet, da die Klägerin eben gerade kein nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe betreibt (ansonsten sie im Handelsregister eingetragen sein müsste). Ist der Verein nicht im Handelsregister eingetragen, so kann er folglich auch seine Organe und Prokuristen nicht durch einen Handelsregisterauszug ausweisen.
Nach Art. 69 ZGB handelt der Verein grundsätzlich durch seinen Vereinsvorstand. Dieser wird in der Regel durch die Vereinsversammlung gewählt – soweit die Statuten nichts Gegenteiliges vorsehen (Grolimund / Bachofner, a.a.O., S. 146). Ist der Verein nicht im Handelsregister eingetragen, steht die Vertretungsmacht sodann grundsätzlich jedem einzelnen Vorstandsmitglied zu.
Bei Vereinen, die nicht im Handelsregister eingetragen sind, ist die Berechtigung zur Vertretung als Vorstandsmitglied beispielsweise durch Einreichen der Vereinsstatuten sowie der massgeblichen Sitzungsprotokolle bzw. Versammlungsbeschlüsse der erfolgten Wahl nachzuweisen (Tschudi, Zivilprozess: Probleme der Vertretung juristischer Personen, plädoyer 1/2019, S. 38 f. Ziff. 2; Grolimund / Bachofner, a.a.O., S. 146; Maag, Urteilsbesprechung BGE 141 III 159, MRA 3/15, S. 153, Ziff. 6.4).
3. c) In der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Schlichtungsverfahren lässt sich eine klare Tendenz zur Sicherstellung der effektiven Schlichtungsmöglichkeiten erkennen, indem formelle Voraussetzungen streng ausgelegt werden (vgl. Dolge, Urteilsbesprechung OGer Bern, Entscheid vom 25. August 2015, in: CAN 2016 Nr. 34, S. 90 ff., Hinweis am Schluss). Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung sodann mehrfach festgehalten, dass die Schlichtungsstelle möglichst rasch und einfach gestützt auf Urkunden darüber befinden können müsse, ob eine juristische Person korrekt vertreten zur Schlichtungsverhandlung erschienen sei.
Daraus folgt, dass bereits die Schlichtungsstelle die Prüfung der persönlichen Anwesenheit vorzunehmen hat, was seinerseits voraussetzt, dass die zur Beurteilung nötigen aussagekräftigen Unterlagen bereits an der Schlichtungsverhandlung vorgelegt werden müssen.
d) Vorliegend legte I. als Vertreter der Klägerin vor Vermittlungsamt eine Vollmacht ein, unterzeichnet vom (angeblichen) Präsidenten K. und ihm selber als Geschäftsführer der Klägerin. Zudem reichte er die Statuten der Klägerin ein. Daraus kann allenfalls gefolgert werden, dass I. als Geschäftsführer der Klägerin auftrat und K. als deren Präsident. Die Stellung der beiden als Vorstandsmitglieder und Organe der Klägerin ist damit freilich nicht nachgewiesen.
7. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Schlichtungsbehörde die Klagebewilligung nicht hätte ausstellen dürfen, sondern das Verfahren mangels persönlicher Anwesenheit der Klägerin als gegenstandslos hätte abschreiben müssen. Der angefochtene Entscheid des Kreisgerichts ist deshalb aufzuheben, und auf die Klage ist gestützt auf Art. 59 i.V.m. Art. 204 Abs. 1 ZPO nicht einzutreten.
Kantonsgericht St. Gallen, Entscheid BE.2023.28 vom 4.1.2024
Gericht muss bei Zweifeln an Absenzen Belege anfordern
Die richterliche Fragepflicht gilt auch bei Verhandlungsunfähigkeit. Das Zivilgericht darf ein Verschiebungsgesuch nicht einfach ablehnen, wenn ein Laie sich wegen Krankheit ohne hinreichendes Arztzeugnis abmeldet.
Sachverhalt
Eine Pensionskasse kündigte einem Mieter aus dem Kanton Zürich die Wohnung und verlangte die Ausweisung. Das Bezirksgericht Dietikon ZH lud die Parteien zur Hauptverhandlung vor. Der Mieter meldete sich drei Tage vor der Verhandlung mit einem Brief beim Gericht. Er sei krank und könne nicht an der Verhandlung teilnehmen. Er schickte ein Arztzeugnis zuhanden des Arbeitgebers mit. Das Bezirksgericht wies das Verschiebungsgesuch ab und wies den Mieter aus der Wohnung. Der Mieter habe es versäumt, seine Verhandlungsfähigkeit zu belegen. Der Mieter wehrte sich dagegen mit Erfolg vor dem Obergericht Zürich.
Aus den Erwägungen
4.1 Der Beschwerdeführer war auf den 5. Mai 2023 zur Verhandlung vorgeladen worden. Sein am 3. Mai 2023 gestelltes Verschiebungsgesuch wurde von der Vorinstanz nicht gutgeheissen. Entsprechend war er an der Verhandlung säumig. Zusammen mit seinem Wiederherstellungsbegehren machte der Beschwerdeführer daraufhin (wie bereits in seinem Verschiebungsgesuch) geltend, am fraglichen Termin krank gewesen zu sein. Zusammen mit seinem Wiederherstellungsbegehren reichte der Beschwerdeführer ein «Ärztliches Zeugnis zuhanden Gericht» ein, das ihm für den 3. bis 5. Mai 2023 eine Verhandlungsunfähigkeit infolge Krankheit bescheinigte.
Mit den Vorbringen des Beschwerdeführers und diesem ärztlichen Zeugnis ist hinreichend behauptet und belegt, dass ihm eine Teilnahme an der vorinstanzlichen Hauptverhandlung nicht möglich war. Dass ihn daran kein Verschulden trifft, ergibt sich bereits klar und hinreichend aus dem Umstand, dass er krank war. Eine weitergehende Begründung zur Frage des Verschuldens war – entgegen der Ansicht der Vorinstanz – im Hinblick auf seine Erkrankung nicht erforderlich.
4.2.2.2 Daran ändert nichts, dass in der Vorladung der Vorinstanz unter «wichtige Hinweise» vermerkt ist, dass bei Krankheit oder Unfall ein ärztliches Zeugnis beizubringen sei, das die Verhandlungsunfähigkeit bescheinige.
4.2.2.3 Entsprechend kann der Vorinstanz nicht gefolgt werden, wenn sie das Verschiebungsgesuch einzig mit dem Hinweis abwies, der Beschwerdeführer habe seine Verhandlungsunfähigkeit nicht belegt. Die Vorinstanz hätte, wenn sie den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Verschiebungsgrund der Verhandlungsunfähigkeit infolge Krankheit gestützt auf das eingereichte Arztzeugnis nicht als glaubhaft erachtet hätte, das Verschiebungsgesuch nicht ohne weiteres ablehnen dürfen.
Vielmehr wäre es – gerade da es sich beim Beschwerdeführer um einen nicht vertretenen Laien handelte – an ihr gewesen, in Ausübung der richterlichen Fragepflicht (Art. 56 ZPO) eine Frist zur ergänzenden Begründung des Verschiebungsgesuchs und Einreichung der erforderlichen Belege anzusetzen (vgl. etwa BK ZPO-FreiI, 2012, Art. 135, N 10; BSK ZPO-Brändli / Bühler, 3. Aufl. 2017, Art. 135, N 13; BSK ZPO-Gehri, 3. Aufl. 2017, Art. 56, insb. N 3). Dazu wäre es hilfreich gewesen, die Vorinstanz hätte über eine Telefonnummer oder E-Mail- Adresse des Beschwerdeführers verfügt; ohne solche wäre die Vorinstanz gehalten gewesen, dem Beschwerdeführer – auf die Gefahr hin, die angesetzte Verhandlung allenfalls wiederholen zu müssen – auf dem postalischen Weg die Gelegenheit zu geben, sein Gesuch zu ergänzen.
4.2.4 Damit verfängt die Argumentation der Vorinstanz nicht, in der unzureichenden Begründung seines Verschiebungsgesuches sei ein grobes Verschulden des Beschwerdeführers an seiner Säumnis zu erkennen. Das Vorliegen einer Krankheit hat er glaubhaft gemacht. Soweit die Vorinstanz dies nicht als ausreichend erachtete, hätte sie in Ausübung der richterlichen Fragepflicht nachfragen müssen.
4.4 Damit trifft den Beschwerdeführer an seiner Säumnis kein Verschulden.
5.4 Die Vorinstanz teilte unmittelbar nach dem gestellten Verschiebungsgesuch weder einen ablehnenden noch einen gutheissenden Entscheid mit, sondern sie äusserte sich erst im Endentscheid zum Gesuch des Beschwerdeführers, wobei keine formelle, sondern lediglich eine implizite Abweisung im Rahmen der Erwägungen erfolgte. Damit wusste der Beschwerdeführer erst mit Erhalt dieses Entscheides um seine Säumnis. Entsprechend ist die Frist zur Stellung des Wiederherstellungsgesuchs eingehalten.
6. Damit ergibt sich, dass die Vorinstanz das Wiederherstellungsgesuch zu Unrecht abwies. Entsprechend sind die Beschwerde und das Wiederherstellungsgesuch bzw. Gesuch um erneute Vorladung zur Hauptverhandlung gutzuheissen. Die Gutheissung des Wiederherstellungsgesuchs führt dazu, dass das Urteil der Vorinstanz vom 9. Mai 2023 vollumfänglich aufzuheben ist und die Parteien mit separater Vorladung zur Hauptverhandlung vorzuladen sind.
Obergericht Zürich, Urteil PF230039 vom 21.8.2023
Anwaltsrecht
Keine Sanktion für das Verändern von Beweismitteln
Ein Anwalt ist nicht Gehilfe des Richters, sondern Verfechter von Parteiinteressen. Bei der Wahl der Mittel ist er auf gesetzeskonforme Mittel beschränkt. Schwärzungen in eingereichten Dokumenten an relevanten Stellen sind eine Sorgfaltswidrigkeit. Eine Sanktion wäre aber nicht verhältnismässig.
Sachverhalt
Eine Rechtsanwältin aus dem Kanton Aargau reichte dem Bezirksgericht Baden Beweisurkunden ein, die teilweise abgedeckt und geschwärzt waren. Daraufhin erstattete die Gegenseite im Juli 2022 eine Anzeige bei der Anwaltskommission wegen mutmasslicher Verstösse gegen Standesregeln. Die Anwaltskommission verwarnte sie. Dagegen wehrte sich die Anwältin mit Erfolg vor Obergericht.
Aus den Erwägungen
5.3 Wie diese Erwägungen des Obergerichts zeigen, enthalten der abgedeckte Betreff und der abgedeckte Einleitungstext in Ziff. 1–3 der Aktennotiz vom 25. Mai 1998 Informationen, welche für die beurteilenden Gerichte von Relevanz waren, damit sich diese ein umfassendes Bild über das einstige Geschäftsverhältnis zwischen dem Klienten der Beschwerdeführerin und seinem ehemaligen Geschäftspartner D. sowie die darauf basierenden, zahlreichen Transaktionen verschaffen konnten. Dies gilt umso mehr, als der Abschluss der strittigen Rechtsgeschäfte über zwanzig Jahre zurücklag.
6.2 Der Anwalt hat primär die Interessen seines Klienten zu vertreten und ist im Gegensatz zum Richter nicht der objektiven Wahrheits- und Rechtsfindung verpflichtet. Er ist nicht Gehilfe des Richters, sondern Verfechter von Parteiinteressen. Allerdings kommt dem Anwalt aufgrund seiner Befugnisse und Pflichten auch eine besondere Stellung in der Rechtspflege zu. Er hat deshalb gleichzeitig die Regeln, welche den geordneten Gang der Rechtspflege gewährleisten sollen, einzuhalten.
Zwar verfügt der Anwalt zur Verteidigung der Klienteninteressen hinsichtlich der Festlegung der Strategie und der Wahl der Mittel über einen grossen Handlungsspielraum. Dieser ist jedoch nicht uferlos. Der Anwalt hat vielmehr alles zu unterlassen, was die Vertrauenswürdigkeit der Anwaltschaft – gerade auch im Verhältnis zu den Justizbehörden – infrage stellt, und sich in diesem Sinne umsichtig zu verhalten.
Bei der Wahl der Mittel ist der Anwalt auf gesetzeskonforme Mittel beschränkt. Art. 12 lit. a BGFA gebietet, dass er sich bei der Vertretung der Parteiinteressen innerhalb der Rechtsordnung bewegt, andernfalls die Sorgfaltspflicht verletzt ist.
6.4.1 Es erscheint kaum nachvollziehbar, weshalb die Beschwerdeführerin die Aktennotiz dem Gericht zunächst in teilweise abgedeckter bzw. geschwärzter Form einreichte. Dies gilt umso mehr, als ihr bewusst sein musste, dass sie dadurch den Gerichten prozessrelevante Aussagen vorenthalten könnte. In diesem Zusammenhang ist wesentlich, dass nicht nur Namen, Daten oder dergleichen, sondern auch Teile des Inhalts der getroffenen Vereinbarung unkenntlich gemacht worden waren. Das behauptete Geheimhaltungsinteresse der Klientschaft ist nicht nachvollziehbar.
Allerdings darf die Bedeutung der Aktennotiz sowie der vorgenommenen Abdeckungen bzw. Schwärzungen nicht überschätzt werden. Das (komplette) Dokument ist zwar insofern prozessrelevant, als sich die beurteilenden Gerichte dadurch ein besseres Bild über das einstige Geschäftsverhältnis zwischen dem Klienten der Beschwerdeführerin und seinem ehemaligen Geschäftspartner D. verschaffen konnten.
Das Obergericht gelangte allerdings aufgrund der vollständig offengelegten Aktennotiz nicht etwa zum Schluss, dass die fraglichen Geldzahlungen gestützt auf einen Kaufvertrag erfolgten; es folgerte nur, dass die entsprechende Darstellung des Beklagten «nicht minder wahrscheinlich» erscheine als die Ausführungen des Klägers, der eine Auszahlung der Darlehenssumme behaupte. Die vollständige Aktennotiz war mithin nicht geeignet, einen schlüssigen Beweis für die Ausführungen der einen oder der anderen Partei zu erbringen.
Insgesamt ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin kein Dokument einreichte, das – im Gegensatz zur vollständigen Offenlegung – aufgrund der darin enthaltenen Abdeckungen bzw. Schwärzungen geeignet war, die Gerichte in die Irre zu führen. Entsprechend muss das Vorgehen der Beschwerdeführerin zwar als unverständlich und unsorgfältig beurteilt werden, doch fehlt es an einer qualifizierten Norm- und Sorgfaltswidrigkeit, die einen genügenden Anlass für eine Disziplinierung zu bilden vermöchte.
Insgesamt ist der Beschwerdeführerin eine Sorgfaltswidrigkeit vorzuwerfen, die zwar grenzwertig erscheint, aber nicht dermassen schwer wiegt, dass eine Sanktion im überwiegenden öffentlichen Interesse läge und verhältnismässig wäre.
8. Zusammenfassend ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. Die Ziffern 1 und 2 des vorinstanzlichen Dispositivs sind aufzuheben, und es ist festzustellen, dass die Beschwerdeführerin keine Berufspflichtverletzung begangen hat.
Obergericht Aargau, Entscheid WBE.2023.187 vom 20.12.2023
Strafrecht
Auch Beifahrer kann wegen Raserei verurteilt werden
Motiviert ein Beifahrer eines Autos den Chauffeur zu Geschwindigkeitsexzessen, droht ihm eine Strafe als Mittäter. Das Schaffhauser Obergericht bestrafte einen Beifahrer gar härter als den Fahrer.
Sachverhalt
Bei einer Tesla-Veranstaltung im Kanton Schaffhausen führte ein Verkaufsberater mit einem Fahrer Probefahrten durch. Die Kinder des Fahrers sassen auf der Rückbank. Der Fahrer beschleunigte das Fahrzeug mehrmals stark, wobei er erheblich die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritt. Die Kinder filmten die Fahrt mit ihren Handys. Das Kantonsgericht Schaffhausen verurteilte den Testfahrer wegen grober Verkehrsregelverletzung zu einer Geldstrafe. Der Beifahrer wird wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt. Er erhob Berufung vor dem Obergericht Schaffhausen. Dieses bestätigte den Entscheid.
Aus den Erwägungen
2. Der amtliche Verteidiger rügt – wie bereits vor Kantonsgericht –, die Verwertung des privat erlangten Handyvideos als Beweismittel verletze den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren.
2.3 Gemäss Art. 141 Abs. 1 StPO dürfen Beweise, welche von den Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben worden sind, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich (Art. 141 Abs. 2 StPO). Hat ein Beweis, der nach Art. 141 Abs. 2 StPO nicht verwertet werden darf, die Erhebung eines weiteren Beweises ermöglicht, ist dieser gemäss Art. 141 Abs. 4 StPO ebenfalls nicht verwertbar, wenn er ohne die vorhergehende Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre.
Wieweit diese Beweisverbote auch greifen, wenn nicht staatliche Behörden, sondern Privatpersonen Beweismittel sammeln, wird in der Strafprozessordnung nicht explizit geregelt. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung geht davon aus, dass von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel nur verwertbar sind, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und zudem eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht.
2.3.3 Zusammenfassend erfolgte das Gespräch beziehungsweise die Demonstration des Tesla während der Probefahrt nicht im strafrechtlich geschützten Rahmen. Im Übrigen wäre ohnehin von einer zumindest konkludenten Einwilligung des Beschuldigten auszugehen.
2.4.2 Der Beschuldigte führte als Verkaufsberater eine Demonstrationsfahrt mit dem Mitbeschuldigten X. und seinen drei Kindern durch. Zwei der Kinder, welche rund 14 und 18 Jahre alt waren, sassen dabei auf dem Rücksitz und hielten ihre Handys nach vorne. Zudem rief das dritte Kind, welches zuhinterst in einem Kindersitz sass, während der Fahrt: «Mach bi mir Video hoi» (Video 00:26 Min.). Der Beschuldigte drehte sich während der Fahrt mehrmals nach hinten und sprach mit den Kindern. Er schaute dabei auch in die Handykamera (Video 00:05 Min.).
Für den Beschuldigten war ohne weiteres erkennbar, dass die Kinder Aufnahmen mit ihren Handys machten. Dennoch wehrte er sich nicht dagegen. Seine Gestik und Mimik sowie die Aufforderung an die Kinder, nicht zur Seite zu schauen, lassen vielmehr darauf schliessen, dass der Beschuldigte die Aufzeichnung begrüsste, zumal damit die Beschleunigungskraft des Tesla werbewirksam festgehalten wurde. Es sind keine besonders schützenswerten Personendaten betroffen, deren Bearbeitung eine ausdrückliche Einwilligung erfordert hätten. Dementsprechend ist von einer zumindest konkludenten Einwilligung auszugehen.
2.5 Nach dem Gesagten liegt kein rechtswidrig erlangtes Beweismittel vor. Daher ist das Video im vorliegenden Strafprozess verwertbar.
4.3 Mit Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren wird bestraft, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen (Art. 90 Abs. 3 SVG; BGer 6B_567/2017 vom 22. Mai 2018, E. 3.1 mit Hinweisen).
4.3.1 Für die Erfüllung von Art. 90 Abs. 3 SVG wird in objektiver Hinsicht also die Verletzung elementarer Verkehrsregeln vorausgesetzt, wozu die Vorschriften über die Geschwindigkeit gehören. Das geforderte Risiko muss sich auf einen Unfall mit Todesopfern oder Schwerverletzten beziehen und somit ein qualifiziertes Ausmass erreichen. Der Erfolgseintritt muss vergleichsweise naheliegen; gefordert ist ein «hohes» Risiko (Fiolka, Art. 90, N 117). Abs. 3 ist in jedem Fall erfüllt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mindestens 50 km/h überschritten wird, wo die Höchstgeschwindigkeit höchstens 50 km/h beträgt (Art. 90 Abs. 4 lit. b SVG).
4.3.2 Der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 3 SVG erfordert Vorsatz bezüglich der Verletzung einer elementaren Verkehrsregel und der Risikoverwirklichung, wobei Eventualvorsatz genügt. Dabei ist kein Gefährdungsvorsatz oder der Vorsatz, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, erforderlich (BGE 142 IV 137, E. 3.3; BGer 6B_1188/2021 vom 14. September 2022, E. 4.3.2.1 mit Hinweisen, nicht publiziert in: BGE 148 IV 456; Fiolka, Art. 90, N 145 ff.). Wird eine krasse Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinne von Art. 90 Abs. 4 lit. a–d SVG bejaht, folgt daraus nahezu zwangsläufig, dass auch ein dadurch geschaffenes hohes Risiko von Unfällen mit Todesopfern oder Schwerverletzten angenommen werden muss.
4.4.1 Nach der Rechtsprechung ist Mittäter, wer bei der Entschliessung, Planung oder Ausführung eines Delikts vorsätzlich und in massgeblicher Weise mit anderen Tätern zusammenwirkt, sodass er als Hauptbeteiligter dasteht. Dabei kommt es darauf an, ob der Tatbeitrag nach den Umständen des konkreten Falls und dem Tatplan für die Ausführung des Delikts so wesentlich ist, dass sie mit ihm steht oder fällt. Die Folgen der Mittäterschaft bestehen darin, dass alle tatbestandsmässigen Handlungen, die von einem der Mittäter ausgeführt werden und dem gemeinsamen Tatplan entsprechen, allen anderen Mittätern zugerechnet werden.
4.5 Im vorliegend zu beurteilenden Fall fanden drei Beschleunigungsmanöver statt. Beim ersten Beschleunigungsmanöver forderte der Beschuldigte den Mitbeschuldigten X. während der Fahrt zu einer Vollbeschleunigung auf («Ier chönd ruhig mal de Fuess voll abedrucke»). In der Folge beschleunigte der Mitbeschuldigte X. das Fahrzeug von ca. 41 km/h auf 98 km/h und überschritt somit die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 48 km/h. Die anderen beiden Beschleunigungsmanöver erfolgten aus dem Stand heraus.
Beim zweiten Manöver beschleunigte der Mitbeschuldigte X. bis auf 119 km/h, womit er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 69 km/h überschritt. Beim dritten Manöver beschleunigte der Mitbeschuldigte X. aus dem Stand heraus bis auf 133 km/h. Er überschritt somit die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 83 km/h. Der Beschuldigte, welcher die Routenwahl dieser Probefahrt bestimmte, wies den Mitbeschuldigten nach dem ersten Beschleunigungsmanöver an, «da vorne denn rechts» in die N.-Strasse einzubiegen und das Fahrzeug anzuhalten («Da chönder mal ahalte, ganz uf null»).
Als Nächstes gab der Beschuldigte die Anweisung: «Und jetzt gnau gliich, nöd so beschlünige, sondern voll abe.» Zu den auf der Rückbank sitzenden Kindern des Mitbeschuldigten X. sagte der Beschuldigte sodann: «Und ier dörfed nöd uf de Siite luege, süsch hender nachher Nackeweh, ier müend füre luege.» Danach wiederholte der Beschuldigte seine Aufforderung zur Vollbeschleunigung des Fahrzeugs («Also voll abe»). Am Ende der Neutalstrasse wies der Beschuldigte den Mitbeschuldigten X. an, er solle rechts in die Solenbergstrasse abbiegen («Jetzt müend er rechts»).
Dies unterstrich der Beschuldigte mit einer 90-Grad-Bewegung der rechten Hand und mit ausgestrecktem Zeigfinger. Nach dem Abbiegemanöver aktivierte der Beschuldigte durch Drücken des zentralen Steuerdisplays den sogenannten «Ludicrous»-Modus. Dadurch wurde die volle Leistung des Fahrzeugs freigesetzt, womit das Fahrzeug in unter drei Sekunden von 0 auf 100 km/h beschleunigt werden konnte. Der Beschuldigte teilte dem Mitbeschuldigten X. mit, dass das Fahrzeug auf volle Leistung eingestellt sei: «Und jetzt, jetzt chund die voll Leischtig.» In der Folge beschleunigte der Mitbeschuldigte X. das Fahrzeug erneut aus dem Stand, wobei er wie erwähnt eine Geschwindigkeit von bis zu 133 km/h erreichte.
4.6.1 Der Beschuldige leistete vorliegend einen wesentlichen Tatbeitrag. Er motivierte den Mitbeschuldigten X. verbal, das Probefahrzeug, dessen Eigenschaften ihm als Mitarbeiter der A. GmbH bestens bekannt waren, insgesamt dreimal massiv zu beschleunigen. Dabei gab er die Fahrtroute vor, instruierte und leitete den Mitbeschuldigten X. bei der gesamten Fahrt in massgeblicher Weise, sodass davon auszugehen ist, dass es ohne die Tatbeiträge des Beschuldigten zumindest zu keiner derart massiven Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit gekommen wäre. Indem er durch Drücken des zentralen Steuerdisplays den sogenannten «Ludicrous»-Modus des Tesla aktivierte, leistete er auch einen physischen Tatbeitrag.
4.6.2 Beim Rasertatbestand besteht zunächst eine Vermutung, dass die subjektiven Tatbestandsmerkmale durch kausales Verhalten, d.h. insbesondere durch eine Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 90 Abs. 4 SVG, erfüllt sind. Entlastende Umstände im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, welche diese Gesetzesvermutung widerlegen könnten, lagen nicht vor. Der Beschuldigte wollte offensichtlich die ausserordentliche Beschleunigungskraft demonstrieren, weshalb er auch die Kinder des Mitbeschuldigten X. anwies, geradeaus zu schauen.
Dabei war ihm klar, dass bei einem vollen «Durchdrücken» dieses Tesla-Modells die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h massiv überschritten wird. Ebenso wusste er, dass bei einem derartigen Beschleunigungsmanöver die Gefahr eines schweren Unfalls immanent ist, zumal sie an Fussgängern und einem Hund vorbeifuhren.
4.6.3 Demensprechend erfüllte der Beschuldigte den Rasertatbestand sowohl objektiv als auch subjektiv. Aus dem Umstand, dass das Verschlechterungsverbot den Mitbeschuldigten X. vor einer schärferen Strafe schützt, vermag der Beschuldigte nichts zu seinen Gunsten abzuleiten, zumal besondere Umstände (vorliegend der vom Kantonsgericht dem Mitbeschuldigten X. zugestandene Irrtum), welche die Strafbarkeit vermindern, nur beim Täter zu berücksichtigen sind, bei dem sie vorliegen (Art. 27 StGB).
5. Zusammenfassend ist der Beschuldigte wegen qualifizierter grober Verletzung der Verkehrsregeln i.S.v. von Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. b SVG zu verurteilen.
Obergericht Schaffhausen, Entscheide 50/2021/28 und 50/2021/32 vom 12.9.2023
Steuerrecht
Maklerhonorar kann man bei den Steuern abziehen
Das Steueramt muss das bezahlte Maklerhonorar bei der Berechnung der Grundstückgewinnsteuer anrechnen, sofern es nicht unüblich hoch ist.
Sachverhalt
Ein Luzerner verkaufte zwei Häuser für insgesamt 1,57 Millionen Franken. Der Makler erhielt eine Provision von 3 Prozent des Kaufpreises. Die verbleibenden 1,5 Millionen Franken deklarierte der Mann in der Steuererklärung als Verkaufserlös für die Grundstückgewinnsteuer. Das Steueramt der Stadt Luzern liess jedoch für den Makleraufwand nur einen Abzug von 2 Prozent zu. Dies entspreche dem üblichen Maklerhonorar. Der Verkäufer wehrte sich dagegen erfolgreich vor dem Kantonsgericht Luzern: Entscheidend sei das im Einzelfall vereinbarte und bezahlte Honorar, sofern keine Anzeichen einer Steuerumgehung vorlägen.
Aus den Erwägungen
2.2 Rahmengesetzliche Rechtsgrundlage der vorliegend infrage stehenden Grundstückgewinnsteuer stellt Art. 12 des Bundesgesetzes über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden dar. Nach dessen Abs. 1 unterliegen Gewinne, die sich bei Veräusserung eines Grundstückes des Privatvermögens oder eines land- oder forstwirtschaftlichen Grundstückes sowie von Anteilen daran ergeben, soweit der Erlös die Anlagekosten (Erwerbspreis oder Ersatzwert zuzüglich Aufwendungen) übersteigt, der Grundstückgewinnsteuer.
2.3 Das Luzerner Grundstückgewinnsteuergesetz folgt dem dualistischen Modell. Der Grundstückgewinnsteuer unterliegen Gewinne aus Veräusserung von Grundstücken oder von Anteilen an solchen; ausgenommen sind Gewinne aus Veräusserung von Geschäftsvermögen, die der Einkommens- oder Gewinnsteuer unterliegen. (§ 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Grundstückgewinnsteuer). Als steuerbegründende Veräusserung gilt unter anderem die Übertragung des Eigentums an einem Grundstück (§ 3 Abs. 1 Ziff. 1). Als Grundstückgewinn gilt der Mehrbetrag des Veräusserungswerts gegenüber dem Anlagewert des Grundstücks (§ 7 Abs. 1 GGStG).
Unter Mäklerprovisionen sind die Auslagen zu verstehen, die die Steuerpflichtigen einer Drittperson für Vermittlung oder Nachweis einer Kauf- beziehungsweise Verkaufsgelegenheit geleistet haben. Die Provision ist geschuldet, wenn mit dem vermittelten Liegenschaftskauf oder -verkauf der beabsichtigte Geschäftserfolg eingetreten ist (LGVE 2006 II Nr. 26, E. 2c/aa).
Abzugsfähig sind vom Veräusserungswert gemäss § 19 Abs. 1 Ziff. 3 GGStG nur die üblichen Mäklerprovisionen. Als üblich gelten gemäss dem Luzerner Steuerbuch Mäklerprovisionen von 1 bis 2 Prozent für überbaute und von 2 bis 4 Prozent für unüberbaute Grundstücke. Ausnahmsweise (z.B. bei Schwerverkäuflichkeit) gelten Provisionen von 3 Prozent für überbaute und von 3 bis 5 Prozent für unüberbaute Grundstücke noch als üblich (Band 3, Weisungen Grundstückgewinnsteuer, § 13 Abs. 1 Ziff. 2 Mäklerprovisionen).
2.4.2 Beim Luzerner Steuerbuch handelt es sich um Verwaltungsanweisungen beziehungsweise Verwaltungsverordnungen, deren Hauptfunktion darin besteht, im Sinn einer behördlichen Meinungsäusserung über die Auslegung der anwendbaren Bestimmungen des Steuergesetzes eine einheitliche, gleichmässige und sachgerechte Steuerpraxis sicherzustellen. Dem Steuerbuch kommt jedoch keine Gesetzeskraft zu. So sind die Ausführungen im Steuerbuch für das Kantonsgericht auch nicht verbindlich.
2.5 Sinn und Zweck der Grundstückgewinnsteuer ist eine Ausgleichsfunktion. Sie soll einen Teil der durch die Leistungen des Gemeinwesens bewirkten Werterhöhungen von Grundstücken wieder der Allgemeinheit zuführen (BGer-Urteil 2C_176/2016 vom 8.12.2016, E. 5.1). Ein Ausgleichsbedürfnis ist allein dort auszumachen, wo ein effektiver Grundstückgewinn im Sinn eines konjunkturellen Mehrwerts tatsächlich realisiert wurde.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Auslegung naheliegend, die zu einer Besteuerung des «Reingewinns» führt. Es ist daher ein gewisses Spannungsverhältnis dort auszumachen, wo die Berechnung des Grundstückgewinns sich von den effektiven Begebenheiten entfernt und sich auf pauschale Wertgrössen beschränkt. Angesichts des im Abgaberecht herrschenden strengen Legalitätsprinzips ist allerdings einer Auslegung, die sich vorwiegend am Normsinn orientiert, enge Grenzen gesetzt. Gerade im Steuerrecht sind – angesichts des Vollzugsdrucks – gewisse Schematisierungen und Pauschalisierungen hinzunehmen und üblich.
Als üblich im Sinn des Gesetzes ist demnach nicht ein maximaler Prozentwert zu verstehen, sondern vielmehr das im jeweiligen Einzelfall Vereinbarte, sofern es als das Resultat eines freien Markts erscheint und einem Drittvergleich standhält.
Wie bereits in Erwägung 2.5 dargelegt, gilt als «üblich» nicht ein maximaler Prozentsatz, sondern die im Einzelfall vereinbarte und effektiv geleistete Mäklerprovision, sofern sie als Ergebnis dem Drittvergleich standhält und insbesondere keine Anzeichen für eine Steuerumgehung bestehen. Dies gilt umso mehr, wenn der Umfang der geleisteten Mäklerprovision, wie vorliegend in der Höhe von 3 Prozent, von der Veranlagungsbehörde in der Praxis bereits bei Schwerverkäuflichkeit gewährt wird. Auch der gerichtlichen Überprüfung hielt eine Mäklerprovision in der Höhe von 3 Prozent bereits stand.
Der Beschwerdeführer konnte darlegen, dass der vorliegende Verkauf mit einem erheblichen Aufwand der Mäklerfima verbunden war. Die damit verbundene effektiv geleistete Provision kann somit nicht als «unüblich» hoch qualifiziert werden und ist deshalb zum Abzug zuzulassen.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich in Bezug auf die Mäklerprovision als begründet.
Kantonsgericht Luzern, Urteil 7W 21 77 vom 29.6.2023