Zivilprozessrecht
Wer eine Vertretung bestellt, muss das Honorar zahlen
Wenn ein Gericht eine Rechtsvertretung bestellt, schuldet es auch das Honorar. Das gilt in Analogie zum Zivil- und Strafprozess auch für die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde.
Sachverhalt:
In einem Verfahren vor dem Bezirksrat wurde der Beschwerdeführerin von Amtes wegen eine Anwältin als Beiständin für das Verfahren bestellt. Der Bezirksrat verpflichtete die Beschwerdeführerin zur Bezahlung des Honorars der Anwältin. Dagegen beschwerte sich die Anwältin.
Aus den Erwägungen:
2.2 Rechtsanwältin A. war zwar in der Vorinstanz nicht selber Partei, ist aber vom angefochtenen Entscheid beschwert und daher zur Beschwerde legitimiert (Art. 450 Abs. 2 Ziff. 3 ZGB). Sie verlangt mit ihrer Beschwerde, dass sie vom Bezirksrat honoriert und nicht aufs Inkasso gegenüber Claudia F. verwiesen werde. Zur Begründung führt sie an, dass der Bezirksrat sie mandatierte. Entgegen der Auffassung in der Vernehmlassung des Bezirksrates reicht das aus, da das Recht von Amtes wegen anzuwenden ist (Art. 57 ZPO in Verbindung mit § 40 Abs. 3 EG KESR).
Nach Art. 449a ZGB bestellt die Kesb der betroffenen Person wenn nötig eine Vertretung für das Verfahren und bezeichnet als Beistand oder Beiständin eine in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person. In der Literatur wird vertreten, das auch auf das Verfahren der gerichtlichen Beschwerdeinstanzen anzuwenden (FamKomm KESR-Steck, Art. 449a N. 6, vgl. auch Botschaft BBl 2006, 7082). Das ist nicht ohne Weiteres selbstverständlich, da die Bestimmung systematisch im Verfahren (nur) der Kesb steht und für das Recht mittelverfahren im Bereich der Fürsorgerischen Unterbringungen eine eigene Vorschrift aufgestellt ist (Art. 450 e Abs. 4 zweiter Satz ZGB).
Zudem kollidiert die Anweisung zur Bestimmung einer «in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person» (ohne weitere Voraussetzungen) mit dem Recht der Kantone, die berufsmässige Vertretung vor ihren Gerichten (und damit auch vor den gerichtlichen Beschwerdeinstanzen des Kindes- und Erwachsenenschutzrechtes [KESR]) zu regeln. Jedenfalls gilt subsidiär die allgemeine Bestimmung, dass sich das Verfahren im Bereich des KESR nach den Bestimmungen der ZPO richtet, soweit die Kantone nichts anderes anordnen – und der Kanton Zürich hat in diesem Bereich keine eigenen Normen erlassen. Art. 449a ZGB sagt in der Sache nichts anderes als die etwas differenziertere Norm von Art. 69 ZPO.
Der Bezirksrat hat richtig entschieden, als er die Rechtsanwältin A. als Beiständin und nicht als Anwältin bestellte. Eine vom Gericht bestellte Anwältin handelt nach Instruktionen der Klientin, auch wenn diese nicht ausreichend in der Lage ist, sich gegenüber dem Gericht zweckmässig auszudrücken (Art. 69 Abs. 1 ZPO). Muss angenommen werden, die Klientin könne die Tragweite ihrer Entscheidungen im Verfahren nicht genügend überblicken, ist sie im Sinne des Gesetzes in dieser Hinsicht urteilsunfähig (Art. 67 ZPO e contrario) und kann daher keine verbindlichen Instruktionen geben. In dieser Situation muss eine Beiständin bestellt werden, welche nach bestem Ermessen im wohlverstandenen Interesse der vertretenen Person handelt.
Die Bestellung einer Vertretung gestützt auf Art. 69 Abs. 1 und 2 ZPO ist zu unterscheiden von der Bestellung einer Anwältin als unentgeltliche Vertreterin im Sinne von Art. 118 Abs. 1 lit. c ZPO. Diese wird von der Partei mandatiert und auf Gesuch hin (Art. 119 Abs. 1 ZPO) vom Gericht als unentgeltliche Vertretung bestellt. Bei jener kommt das Mandat (im Sinne eines öffentlich-rechtlichen Verhältnisses) direkt zwischen dem Gericht und der Vertretung zustande. Eine ausdrückliche Bestimmung über ihre Honorierung fehlt. Im analogen Fall des Verfahrens vor Bundesgericht wird sie vom Bundesgericht honoriert, wenn nicht eine ausreichende Parteientschädigung zugesprochen wird oder die vertretene Partei zahlungsfähig ist (Art. 41 BGG). Nach der Praxis der Kammer zum kantonalen Recht (OGerZH LB 15 0019/Z14 vom 31. Mai 2006) wurde das Honorar grundsätzlich aus der Gerichtskasse bezahlt und als Teil der Verfahrenskosten behandelt. Daran ist auch unter neuem Recht festzuhalten, in Analogie zu Art. 95 Abs. 2 lit. e ZPO (für den Strafprozess sieht es Art. 422 Abs. 2 lit. a StPO ausdrücklich vor).
Der Bezirksrat argumentiert in der angefochtenen Verfügung, eine Kostentragung durch das Gemeinwesen nach § 22 EG KESR sei in diesem Fall ausgeschlossen. Diese Bestimmung regelt allerdings allgemein die Kosten von Beistandschaften, heute zu entscheiden ist aber der spezielle Fall einer Vertretung im gerichtlichen Verfahren. Eine besondere Bestimmung dazu gibt es nicht, und der vom Bezirksrat erwähnte § 60 Abs. 5 EG KESR (welcher einer Honorierung der Vertretung aus der Kasse des Bezirksrates gar nicht entgegenstünde) ist nach § 73 EG KESR auf das Verfahren der gerichtlichen Beschwerdeinstanzen gerade nicht anwendbar.
Vielmehr ist nach der dargestellten Praxis und in Analogie zum Zivil- und Strafprozess eine im Sinne von Art. 69 ZPO bestellte Vertretung von der Instanz zu honorieren, welche die Bestellung ausgesprochen hat. Ob Anlass bestanden hätte, für Claudia F. die unentgeltliche Rechtspflege zu beantragen, ist hier nicht zu entscheiden. Die Kasse des Bezirksrates wäre bei unentgeltlicher Rechtspflege schlechter gefahren, weil die Anwältin ebenfalls aus der Kasse zu honorieren gewesen wäre (Art. 122 Abs. 1 lit. a ZPO), die Vertretene aber nur und erst dann zur Rückerstattung angehalten werden könnte, wenn sie in bessere finanzielle Verhältnisse käme (Art. 123 ZPO).
Urteil PQ150072-O / U des Obergerichts des Kantons Zürich vom 7.1.2016
Sistierung der Alimente: Nur bei Dringlichkeit
Die vorsorgliche Aufhebung oder Herabsetzung einer Unterhaltsrente, auf welche die berechtigte Person zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts angewiesen ist, stellt eine einschneidende Massnahme dar. Sie ist im Rahmen eines Prozesses nur bei besonderer Dringlichkeit und unter besonderen Umständen verhältnismässig. Insbesondere müssen liquide tatsächliche Verhältnisse vorliegen, die den Verfahrensausgang einigermassen zuverlässig abschätzen lassen.
Sachverhalt:
Im Scheidungsverfahren verpflichtete sich A. zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen an C. Einige Jahre später erhob er Abänderungsklage (Art. 129 Abs. 1 ZGB) mit der Begründung, dass C. in einem qualifizierten Konkubinat lebe. Nach Klageeinreichung beantragte er zudem die vorsorgliche Sistierung der Unterhaltszahlungen. Das Obergericht rezipierte die bundesgerichtliche Rechtsprechung (BGE 118 II 228, E. 3b) und bejahte liquide Verhältnisse hinsichtlich des geltend gemachten qualifizierten Konkubinats sowie das Vorliegen besonderer Umstände.
Aus den Erwägungen:
3.2 Über ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen ist im summarischen Verfahren zu entscheiden (Art. 271 Bst. a ZPO gelangt sinngemäss zur Anwendung, siehe Ziff. 1.1 hiervor).
Aus der Natur des Summarverfahrens folgt, dass die Anspruchsvoraussetzungen lediglich glaubhaft zu machen sind
(Botschaft ZPO, BBl 2006, S. 7358; Sutter-Somm / Vontobel, in: Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2013 [zit. hiernach: ZK-ZPO-Autor], N 12 zu Art. 271 ZPO).
3.2.1 Glaubhaft machen («rendre vraisemblable») bedeutet die Darlegung der Wahrscheinlichkeit des behaupteten Sachverhalts und umfasst mehr als Behaupten, aber weniger als Beweisen.
Nach der Rechtsprechung ist eine Tatsache schon dann glaubhaft gemacht, wenn für deren Vorhandensein gewisse Elemente sprechen, selbst wenn das Gericht noch mit der Möglichkeit rechnet, dass sie sich nicht verwirklicht haben könnte (BGE 132 III 715 E. 3.1, S. 719 f.; BGer 5A_921 / 2014 vom 11. März 2015 E. 3.1; ausführlich Sprecher, in: Spühler / Tenchio / Infanger [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Auflage 2013 [zit. hiernach: BSK- ZPO-Autor], N 50 ff. zu Art. 261 ZPO).
3.2.2 In der Literatur wird postuliert, in bestimmten Fällen (insbesondere bei besonders schwerwiegenden Eingriffen in die Rechtsstellung der Gegenseite) seien erhöhte Anforderungen an das Glaubhaftmachen zu stellen (für eine Übersicht über die Lehrmeinungen siehe BSK-ZPO-Sprecher, N 65 ff. zu Art. 261). Diese Auffassung findet im Gesetz keine Stütze und ist, soweit isoliert auf das Beweismass bezogen, abzulehnen. Das Beweismass des Glaubhaftmachens ist stets dasselbe, unabhängig von der Frage, wie sich eine Massnahme auf die tatsächliche und rechtliche Situation der Gegenseite auswirkt.
Die konkreten Auswirkungen einer Massnahme sind jedoch keinesfalls irrelevant; sie sind bei der Auswahl der zu treffenden Massnahme zu gewichten (zum diesbezüglichen Ermessen des Gerichts und zur fehlenden Bindung an die Parteianträge siehe Güngerich, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Band II, Bern 2012, N 51 zu Art. 262) und unter dem Aspekt der Verhältnismässigkeit zu prüfen.
3.3.1 Vorsorgliche Massnahmen stehen unter der Schranke des Verhältnismässigkeitsgebots. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Massnahmen, die die Rechtsstellung der gesuchsgegnerischen Partei in besonders schwerwiegender Weise beeinträchtigen, nur unter restriktiven Voraussetzungen zuzusprechen; sie müssen sehr viel strengeren Anforderungen genügen (BGE 131 III 473, E. 2.3, S. 476 ff. [=Pra 2006 Nr. 32 S. 226 ff.] betr. Realvollstreckung eines arbeitsrechtlichen Konkurrenzverbots).
Diese erhöhten Anforderungen betreffen die Gesamtheit der Voraussetzungen für die Gewährung vorsorglichen Rechtsschutzes, insbesondere die Prognose des Streitausgangs und die jeweiligen Nachteile für die Parteien bei Zuspruch beziehungsweise Verweigerung von Massnahmen. In solchen Fällen darf einstweiliger Rechtsschutz nur gewährt werden, wenn das Begehren in Anbetracht des glaubhaft gemachten Sachverhalts relativ klar begründet erscheint (BGE 138 III 378, E. 6.4, S. 381 f. [=Pra 2013 Nr. 6, S. 37 ff.] betreffend Abriss eines Dachs und Stabilisierung sowie Wettersicherung eines Gebäudes).
Das Gericht hat mit anderen Worten die gegenläufigen Interessen der Parteien, das heisst das mutmassliche Recht des Gesuchstellers gegen die Nachteile einer vorläufigen Regelung für den Gesuchsgegner, abzuwägen (ZK-ZPO-Huber, N 23 zu Art. 261 ZPO; BSK-ZPO-Sprecher, N 47 zu Art. 262 ZPO). Hierbei ist – als eines von mehreren Elementen – zu berücksichtigen, zu welchem Grad der Gesuchsteller das Gericht von der Wahrscheinlichkeit der Existenz des behaupteten Tatsachenfundaments überzeugt hat.
Denn je glaubhafter die tatsächliche Grundlage für einen Anspruch ist, desto weniger Bedenken bestehen auch unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten gegen dessen Durchsetzung. Umgekehrt kann es mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht vereinbar sein, einen bloss glaubhaft gemachten Anspruch zu vollstrecken, wenn die Auswirkungen einschneidend sind und sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Es sind jedoch sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, das heisst, die beidseitigen Interessen sind umfänglich abzuwägen. Dabei können sich einzelne Umstände aufwiegen.
3.3.2 Die erwähnte bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Verhältnismässigkeit findet auch bei der vorsorglichen Abänderung rechtskräftiger Unterhaltsrenten Anwendung.
Grundsätzlich bleibt eine (mit rechtskräftigem Urteil festgelegte) Unterhaltsverpflichtung in Kraft, bis über die Abänderungsklage (Hauptprozess) entschieden ist. Die vorsorgliche Aufhebung oder Herabsetzung einer Unterhaltsrente, auf welche die berechtigte Person zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts angewiesen ist, stellt eine einschneidende Massnahme dar, die nach der Rechtsprechung nur bei besonderer Dringlichkeit und unter besonderen Umständen angeordnet werden kann (BGE 118 II 228 E. 3b, S. 228 f.).
Insbesondere müssen liquide tatsächliche Verhältnisse vorliegen, die den Ausgang des Verfahrens einigermassen zuverlässig abschätzen lassen (BGE 118 II 228 E. 3b; BGer 5P.414/2004 vom 22. März 2005 E. 4.4; BGer 5P.269/2004 vom 3. November 2004 E. 2; BGer 5P.349 / 2001 vom 6. November 2001 E. 4).
Besondere Umstände liegen etwa vor, wenn der Schuldner, ohne sich verschulden zu müssen, die Rente während des Abänderungsverfahrens nicht mehr ausrichten kann und die Herabsetzung oder Aufhebung der Rente der anderen Partei schon während des Verfahrens zugemutet werden kann (BGer 5P.101 / 2005 vom 12. August 2005 E. 3). Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass bei Gutheissung der Klage die berechtigte Person die während der Prozessdauer empfangenen Alimente zurückzahlen muss, da die Abänderung bzw. Herabsetzung der Rente bereits für die Zeit ab Klageeinreichung verlangt werden kann (BGer 5A_732 / 2012 vom 4. Dezember 2012 E. 3.2: BGer 5P.349 / 2001 vom 6. November 2001 E. 3).
Entscheid ZK 15 234 des Obergerichts des Kantons Bern vom 2.10.2015
Zivilrecht
Alleinsorgerecht: Wohl des Kindes entscheidend
Für die Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge gelten nicht die gleichen Voraussetzungen wie für den Entzug des Sorgerechts. Es kommt darauf an, ob das Kindeswohl verlangt, dass von der gemeinsamen elterlichen Sorge abgesehen und die Sorge einem Elternteil allein übertragen wird, und nicht nur darauf, ob Gründe bestehen, einem Elternteil das Sorgerecht zu entziehen.
Sachverhalt:
Die Mutter des Kindes zog wegen Drogenproblemen seines Vaters aus dem gemeinsamen Haushalt aus. Der Vater hatte kaum mehr Kontakt mit seinem Sohn. Damit lagen die Grundlagen für eine gemeinsame Elternverantwortung nicht mehr ohne Weiteres vor, weshalb die Zuteilung der elterlichen Sorge neu beurteilt wurde.
Aus den Erwägungen:
4. Auf Begehren eines Elternteils, des Kindes oder von Amtes wegen regelt die Kindesschutzbehörde die Zuteilung der elterlichen Sorge neu, wenn dies wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist (Art. 298d Abs. 1 ZGB). Ob eine wesentliche Veränderung vorliegt, beurteilt sich aufgrund sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls. Notwendig, aber auch ausreichend, ist, dass die wesentlichen Grundlagen für eine gemeinsame Elternverantwortung nicht mehr vorhanden sind, sodass das Kindeswohl eine Zuweisung des Sorgerechts an einen Elternteil erfordert (Schwenzer / Cottier, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 5. Auflage, N 2 zu Art. 298 d; Urteil des Bundesgerichts 5C.34 / 2006) vom 27. Juni 2006.
5. Vorliegend beruht die gemeinsame elterliche Sorge auf einer Vereinbarung, welche am 20. Juli 2010 und damit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen wurde, als die Kindseltern in einem gemeinsamen Haushalt lebten. Eine wichtige Veränderung seit Abschluss dieser Vereinbarung ist dadurch eingetreten, dass die Kindsmutter mit A. Ende 2011 wegen Drogenproblemen des Kindsvaters aus dem gemeinsamen Haushalt ausgezogen ist. Unbestritten ist ferner, dass der Alltag des Kindsvaters durch dessen Drogenkonsum bestimmt wird und er kaum mehr am Leben seines Sohnes A. teilhat.
Damit haben sich vorliegend die Verhältnisse wesentlich geändert beziehungsweise die Grundlagen für eine gemeinsame Elternverantwortung liegen nicht mehr ohne Weiteres vor, weshalb die Zuteilung der elterlichen Sorge neu zu beurteilen ist.
6. Am 1. Juli 2014 ist das neue Sorgerecht in Kraft getreten. Sowohl unverheiratete wie auch geschiedene oder getrennte Eltern sollen grundsätzlich gemeinsam Inhaber der elterlichen Sorge sein bzw. bleiben. Die Kesb (sowie das Scheidungsgericht) können vom rechtlichen Regelfall der gemeinsamen Sorge dann abweichen und die Übertragung der elterlichen Sorge an einen Elternteil anordnen, wenn dies zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist (vgl. Art. 298b Abs. 2 ZGB; Art. 298 Abs. 1 ZGB).
Sind andere Kindesschutzmassnahmen erfolglos geblieben oder erscheinen sie von vornherein als ungenügend, so entzieht die Kindesschutzbehörde die elterliche Sorge, wenn die Eltern wegen Unerfahrenheit, Krankheit, Gebrechen, Abwesenheit, Gewalttätigkeit oder ähnlichen Gründen ausserstande sind, die elterliche Sorge pflichtgemäss auszuüben. Ferner kann die elterliche Sorge entzogen werden, wenn die Eltern sich um das Kind nicht ernstlich gekümmert oder ihre Pflichten gegenüber dem Kinder gröblich verletzt haben (vgl. Art. 311 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 ZGB).
Gemäss Art. 298 Abs. 1 und 298b Abs. 2 ZGB kommt es darauf an, ob das Kindeswohl verlangt, dass von der gemeinsamen Sorge abgesehen und die Sorge einem Elternteil allein übertragen wird, und nicht allein darauf, ob Gründe bestehen, einem Elternteil die Sorge zu entziehen. Der Fokus ist somit auf das Kind und nicht auf die Eltern gerichtet. Die Konstellationen bei der Alleinzuteilung des Sorgerechts und beim Entzug der elterlichen Sorge wegen Unvermögen oder Nachlässigkeit gemäss Art. 311 ZGB (und bei der Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts mit Fremdplatzierung gemäss Art. 310 ZGB, was als schwächere Massnahme gilt) sind nicht dieselben.
Bei Art. 310 und 311 ZGB geht es um für alle Betroffenen einschliesslich des Kindes einschneidende Kindesschutzmassnahmen, die sich in der Regel gegen beide Elternteile richten, während bei Zuteilung der Alleinsorge der Aufenthaltsort des Kindes nicht verändert wird und diese Massnahme durchaus mit einem ausgedehnten persönlichen Verkehr des nicht sorgeberechtigten Elternteils mit dem Kind vereinbar ist.
Die Regelung des neuen Sorgerechts kann nicht so ausgelegt werden, dass bei Fehlen von Entzugsgründen die Sorge auch dann beiden Eltern zukommen muss, wenn sich dies negativ auf das Kindeswohl auswirkt und die Situation bei Zuteilung der Sorge an einen Elternteil allein verbessert werden könnte. Zu prüfen ist dabei nicht, ob die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl entspricht (sogenannte positive Kindeswohlprüfung). Es besteht vielmehr eine entsprechende Vermutung. Hingegen ist abzuklären, ob die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl widerspricht (sogenannte negative Kindeswohlprüfung), was dann der Fall ist, wenn mit der Alleinsorge einer Kindeswohlgefährdung begegnet werden kann (vgl. Obergericht Bern, 2. Zivilkammer, Entscheid vom 16. September 2014, ZK 14 183, unter Hinweis auf Büchler / Maranta, «Das neue Recht der elterlichen Sorge», Jusletter vom 11. August 2014, S. 13).
Es kommt somit gemäss Art. 298 Abs. 1 und 298b Abs. 2 ZGB darauf an, ob das Kindeswohl verlangt, dass von der gemeinsamen Sorge abgesehen und die Sorge einem Elternteil allein übertragen wird, und nicht allein darauf, ob Gründe bestehen, einem Elternteil die Sorge zu entziehen (vgl. Wilhelm Felder, Heinz Hausheer, Regina Aebi-Müller und Erica Desch, ZBJV 2014, S. 892 ff.; vgl. auch Entscheid des Kindes- und Erwachsenenschutzgerichts KES 14 811 vom 18. Mai 2015).
Elterliche Sorge hat unter anderem mit Entscheidungsbefugnis zu tun. Entsprechend hält die Botschaft zur Revision des Sorgerechts auf Seite 9106 fest, gemeinsame elterliche Sorge bedeute, « dass die Eltern alles, was das Kind betrifft, im Prinzip gemeinsam regeln». Das Bundesgericht definiert die elterliche Sorge als Pflichtrecht, «das die Gesamtheit der elterlichen Verantwortlichkeiten und Befugnisse gegenüber dem Kind umfasst, insbesondere mit Bezug auf die Erziehung, die gesetzliche Vertretung und die Vermögensverwaltung» (vgl. Urteil des Bundesgerichts 5A_198 / 2013 vom 14. November 2013, E. 4.1; vgl. Büchler / Maranta, a.a.O., S. 5). Wer sich selbst aus dem Erziehungsprozess verabschiedet hat und dem anderen Elternteil allein die Verpflichtung zur Erziehung überbürdet, soll nicht mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet werden, die insbesondere der Wahrung des erzieherischen Auftrages dienen (Wilhelm Felder, Heinz Hausheer, Regina Aebi-Müller und Erica Desch, ZBJV 2014, S. 892 ff.).
7. Die Alleinzuteilung der Sorge an einen Elternteil ist somit gerechtfertigt, wenn dies zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist. Dass der hauptbetreuende Elternteil die Mitsorge des anderen Elternteils als störend empfindet, genügt dazu nicht. Wie hiervor erwogen, brauchen für die Anordnung der alleinigen elterlichen Sorge aber auch nicht Gründe für die Entziehung der elterlichen Sorge gemäss Art. 311 ZGB vorzuliegen.
Vorliegend ist der Kindsvater offenbar leider so tief in die Drogensucht abgerutscht, dass er nicht mehr in der Lage ist, Verantwortung für das Kind zu übernehmen. Er hat sich auch nach der Abklärung durch den Dienst für Kinder und Jugendliche B. nicht mehr am Verfahren beteiligt. Die Beschwerde konnte ihm mit eingeschriebener Post nicht zugestellt werden, da er sie nicht abgeholt hat (pag. 55 ff.). Bei seiner Situation, wie sie aus dem Abklärungsbericht vom 15. Oktober 2014 hervorgeht, dürften zudem die Voraussetzungen für einen Entzug der Obhut gemäss Art. 310 ZGB, wenn er sie innehätte, und möglicherweise auch der Sorge gemäss Art. 311 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB erfüllt sein.
8. Gestützt auf die vorstehenden Erwägungen wird die Beschwerde demnach gutgeheissen und der Beschwerdeführerin wird für ihren Sohn A. die alleinige elterliche Sorge übertragen.
Entscheid KES 15 157 des Kindes- und Erwachsenenschutzgerichts des Kantons Bern vom 31.7.2015
Strafprozessrecht
Zwangsmassnahme: Keine Anfechtung durch Privatkläger
Für die Anordnung und die Verlängerung von Ersatzmassnahmen im Jugendstrafrecht im Stadium der Untersuchung ist die Untersuchungsbehörde zuständig. Für dagegen erhobene Beschwerden ist die Beschwerdeinstanz zuständig. Die Privatklägerschaft ist zur Anfechtung von Zwangsmassnahmen im Bereich der Haft und von Ersatzmassnahmen für Haft nicht legitimiert.
Sachverhalt:
Im Rahmen einer von der Jugendanwaltschaft gegen X. wegen sexueller Nötigung zum Nachteil von Y. geführten Strafuntersuchung wurde X. nach sieben Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Jugendanwaltschaft belegte X. jedoch mit einem Kontaktverbot bezüglich Y. sowie – da X. und Y. dieselbe Schule besuchten – mit einem Rayonverbot betreffend das Schulareal; beide Ersatzmassnahmen wurden befristet. Die Jugendanwaltschaft verlängerte in der Folge das (modifizierte) Kontaktverbot zweimal um je einen Monat. In der zweiten Verlängerungsverfügung hielt die Jugendanwaltschaft fest, dass das Kontaktverbot nur ausserhalb des Schulgebäudes gelte; es sei vorzumerken, dass innerhalb der Schule ein entsprechendes Kontaktverbot durch die Schule gewährleistet sei und durchgesetzt werde. Gegen diese Einschränkung des Kontaktverbots liess Y. Beschwerde beim Zwangsmassnahmengericht erheben. Dieses überwies die Beschwerde der III. Strafkammer des Obergerichts, da es sich für die Behandlung der Beschwerde als nicht zuständig erachtete.
Aus den Erwägungen:
3.4 b) Gemäss dem Wortlaut von Art. 39 Abs. 3 JStPO ist das Zwangsmassnahmengericht im Jugendstrafverfahren nur bei Beschwerden gegen die Anordnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft Beschwerdeinstanz. Im Übrigen ist das Obergericht beziehungsweise die hiesige Kammer Beschwerdeinstanz.
Art. 39 Abs. 3 JStPO spricht ausdrücklich nur von Beschwerden gegen die Anordnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft, bei welchen das Zwangsmassnahmengericht zuständig ist. In Art. 27 Abs. 1 JStPO hingegen, der die Überschrift «Untersuchungs- und Sicherheitshaft» trägt, wird festgehalten, dass Untersuchungs- und Sicherheitshaft nur in Ausnahmefällen und erst nach Prüfung sämtlicher Möglichkeiten von Ersatzmassnahmen angeordnet werde.
Es ist daher davon auszugehen, der Gesetzgeber hätte die Ersatzmassnahmen in Art. 39 Abs. 3 JStPO erwähnt, wenn er auch insofern für die Beurteilung von Beschwerden ausnahmsweise das Zwangsmassnahmengericht hätte für zuständig erklären wollen. In der Literatur wird denn auch festgehalten, die Beschwerdeinstanz sei für sämtliche Beschwerden, mit Ausnahme derjenigen gegen die Anordnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft, zuständig (Riedo, a.a.O., Rz. 2483; Bürgin / Biaggi, in: Niggli / Heer / Wiprächtiger, a.a.O., Art. 39 JStPO N 8 f.; Jositsch / Riesen- Kupper / Brunner / Murer Mikolàsek, a.a.O., Art. 39 JStPO N 7).
Daher ist davon auszugehen, dass die angefochtene Verfügung betreffend Verlängerung des Kontaktverbots (grundsätzlich) bei der hiesigen Kammer mit Beschwerde angefochten werden kann.
3.5 Es stellt sich die Frage, ob die Beschwerdeführerin zur Beschwerde legitimiert ist. Allgemein – mithin auch bezüglich der Privatklägerschaft – ist für die Rechtsmittelerhebung ein rechtlich geschütztes Interesse vorausgesetzt (Art. 3 Abs. 1 JStPO in Verbindung mit Art. 382 Abs. 1 StPO).
Ersatzmassnahmen werden anstelle von Untersuchungshaft oder Sicherheitshaft angeordnet (Art. 237 Abs. 1 StPO; Art. 27 Abs. 1 JStPO). Sie sind somit ein Surrogat für die Haft; mithin handelt es sich bei Entscheiden über den Erlass, die Verlängerung oder die Aufhebung von Ersatzmassnahmen um Entscheide in Haftsachen.
Gemäss Rechtsprechung ist die geschädigte Person, die sich als Privatklägerschaft konstituiert hat, nicht legitimiert, Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts im Bereich Haft und Ersatzmassnahmen für Haft anzufechten (BGE 139 IV 121, Erw. 4.8; Beschlüsse der hiesigen Kammer vom 8. Juli 2014 [UH140204] Erw. 3.3, vom 5. November 2014 [UB140137], Erw. 3.4 und vom 9. Juli 2015 [UH150185], Erw. 2.3). Auch die Lehre spricht der Privatklägerschaft eine Beschwer zur Anfechtung der (Nicht-)Anordnung von Zwangsmassnahmen ab, weil die Privatklägerschaft allenfalls ein faktisches, nicht jedoch ein rechtlich geschütztes Interesse habe (Guidon, Die Beschwerde gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung, Zürich / St. Gallen 2011, Rz. 277 m.H.; Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 2014, Art. 382 N 17b; vgl. auch Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl., Zürich / St. Gallen 2013, Art. 237 N 17).
Schmid weist zudem darauf hin, dass das Bundesgericht regelmässig ein schützenswertes Interesse des Privatklägers, die Staatsanwaltschaft zu bestimmten Untersuchungsmassnahmen und vor allem zu Zwangsmassnahmen zu veranlassen, verneint, weil dies Bereiche seien, die dem Ermessen des Staatsanwalts anheimgestellt seien (Schmid, Praxiskommentar, a.a.O., Art. 224 N 15 m.H.).
Hat die Privatklägerschaft kein solches schützenswertes Interesse, ist ihr eine Beschwer betreffend die Nichtanordnung bzw. die Aufhebung von Zwangsmassnahmen im Bereich Haft generell abzusprechen (genannte Beschlüsse der Kammer, a.a.O.). Gemäss Rechtsprechung der Kammer ist dabei ohne Belang, ob die Untersuchungsbehörde oder das Zwangsmassnahmengericht die Zwangsmassnahme angeordnet hat (Beschluss der Kammer vom 8. Juli 2014 [UH140204] Erw. 3.3 lit. c). Diese Grundsätze müssen analog auch im Jugendstrafverfahren beziehungsweise bei von der Jugendanwaltschaft angeordneten Zwangsmassnahmen Anwendung finden.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin zur Anfechtung der Verfügung der Jugendanwaltschaft vom 28. Oktober 2015 nicht legitimiert ist.
Beschluss UH 15 0339 des Obergerichts des Kantons Zürich vom 17.11.2015
Schriftlicher Durchsuchungsbefehl zwingend
Für Durchsuchungen von Aufzeichnungen bedarf es – ausser sie seien dringlich oder Gefahr sei in Verzug – eines schriftlichen Durchsuchungsbefehls der Staatsanwaltschaft. Die Einwilligung des Betroffenen in die Durchsuchung vermag dieses Erfordernis nicht zu ersetzen. Bei der Prüfung der Verwertbarkeit von Zufallsfunden ist die Fehlerhaftigkeit der ursprünglichen Zwangsmassnahme zugrunde zu legen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer erstattete Anzeige gegen A. wegen Erpressung und verwies auf SMS-Kontakte zwischen ihm und A. Er willigte ein, dass sein Handy durchsucht wird. Die Auswertung förderte nicht nur Informationen im Zusammenhang mit der Erpressung zutage, sondern auch den Verdacht, dass sich der Beschwerdeführer seinerseits strafbar gemacht haben könnte (insb. BetmG-Widerhandlungen). In der Folge verlangte er die Entfernung der Auswertungsergebnisse aus den Akten. Gleiches verlangte er für die Folgebeweise.
Aus den Erwägungen:
5.1 Gemäss Art. 246 StPO dürfen Schriftstücke, Ton-, Bild- und andere Aufzeichnungen, Datenträger sowie Anlagen zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass sich darin Informationen befinden, die der Beschlagnahme unterliegen. Die Durchsuchung dient dazu, Aufzeichnungen, welche prima vista als Beweisgegenstände in Betracht kommen, auf die mögliche Beweiseignung hin zu prüfen. Schriftstücke oder Datenträger werden dabei im Hinblick auf ihren Inhalt oder ihre Beschaffenheit durchgelesen bzw. besichtigt, um so ihre Beweiseignung festzustellen und sie bejahendenfalls beschlagnahmeweise zu den Akten des Strafverfahrens zu nehmen.
Die Durchsuchung von Aufzeichnungen stellt einen besonders schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen dar (Keller, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Art. 246 N 2, auch zum Folgenden). Das Gesetz sieht deshalb für die Durchsuchung von Aufzeichnungen ein besonders geregeltes Verfahren vor und gewährt dem Betroffenen einen speziellen, erhöhten Rechtsschutz. Dieser Rechtsschutz wird durch das Recht auf Siegelung und den Richtervorbehalt für den Entscheid über die Entsiegelung gewährleistet (Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, N 1079).
Durchsuchungen gemäss Art. 246 StPO sind nach Art. 198 i.V.m. Art. 241 Abs. 1 StPO von der Staatsanwaltschaft (allenfalls vom Sachgericht) anzuordnen beziehungsweise vorzunehmen (BGE 139 IV 128 E. 1.4, auch zum Folgenden). Die Anordnung hat in Form eines schriftlichen Befehls zu ergehen (Art. 241 Abs. 1 StPO), es sei denn, es liege ein dringender Fall vor. Diesfalls genügt eine mündliche Anordnung und eine nachträgliche schriftliche Bestätigung. Es ist der Staatsanwaltschaft unbenommen, die Polizei im Rahmen von Art. 312 StPO damit zu beauftragen, die auf die Amtsstelle verbrachten bzw. entsiegelten Aufzeichnungen nach bestimmten Kriterien zu durchsuchen bzw. auszuwerten (Keller, a.a.O., Art. 246 N 4). Sofern im Sinn von Art. 241 Abs. 3 StPO «Gefahr in Verzug» vorliegt, kann die Polizei Unterlagen und Aufzeichnungen auch ohne besonderen Befehl der Staatsanwaltschaft durchsuchen. Das polizeiliche Handeln muss sich dann allerdings – wie bei einer allfälligen Delegation von der Staatsanwaltschaft an die Polizei nach Art. 312 StPO – angesichts der besonderen Relevanz des Eingriffs in die Privatsphäre der betroffenen Person (oder Dritter) auf einfache Sachverhalte beschränken (Schmid, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, S. 474 N 1074; ders., Schweizerische Strafprozessordnung Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, Art. 246 N 3; Gfeller, in: Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Art. 241 N 32 ff.; Chirazi, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale, 2010, Art. 241 N 28 und 33).
5.2 Unbestritten liegt für die Durchsuchung des Mobiltelefons des Beschwerdeführers kein schriftlicher Befehl vor. Dass von «Gefahr in Verzug» gesprochen werden könnte, welche die Polizei zu selbständigem Handeln im Sinn von Art. 241 Abs. 3 StPO ermächtigt hätte, ist nicht erkennbar und wird auch nicht geltend gemacht. Die Staatsanwaltschaft vertritt indessen die Ansicht, dass in die Durchsuchung von Aufzeichnungen freiwillig eingewilligt werden könnte. Dies würde sich e contrario bereits aus dem Recht auf Siegelung ergeben. Die Generalstaatsanwaltschaft ihrerseits verweist auf die Voraussetzungen der Hausdurchsuchung und Entscheide der Beschwerdekammer, in welchen die Formlosigkeit einer Hausdurchsuchung nicht bemängelt worden sei.
Bei der Beurteilung der Voraussetzungen einer Durchsuchung von Aufzeichnungen ist Art. 246 StPO im Zusammenhang mit den allgemeinen Bestimmungen zur Durchsuchung und dabei insbesondere mit Art. 241 StPO auszulegen. Inwiefern Hausdurchsuchungen bei Vorliegen einer Einwilligung ohne Durchsuchungsbefehl vorgenommen werden dürfen, braucht an dieser Stelle nicht beurteilt zu werden. Streitgegenstand ist vorliegend die Durchsuchung von Aufzeichnungen, welche systematisch in einem anderen Abschnitt als die Hausdurchsuchung geregelt ist. Ferner werden bei der Durchsuchung von Aufzeichnungen, welche im 3. Abschnitt des 4. Kapitels geregelt ist, Einwilligungen – im Gegensatz zu den unter dem 2. Abschnitt aufgeführten Bestimmungen zur Hausdurchsuchung – im Gesetzeswortlaut nicht erwähnt.
Eine analoge Anwendung der Regeln zur Hausdurchsuchung rechtfertigte sich allein schon mit Blick auf die besondere Schwere der Grundrechtseingriffe bei Durchsuchung von Aufzeichnungen nicht. Hinzu kommt, dass einer Vielzahl von Betroffenen nicht bewusst ist, was in technischer Hinsicht bei einer Auswertung überhaupt möglich ist, weshalb die Beurteilung der Zulässigkeit einer entsprechenden Einwilligung mit Schwierigkeiten verbunden wäre. Ein Durchsuchungsbefehl bezweckt vor diesem Hintergrund, die Eingriffe in die betroffenen Grundrechte mess- und kontrollierbar zu machen (Gfeller, a.a.O., Art. 241 N 8).
Zu berücksichtigen ist ferner, dass das Bundesgericht in seinem zur Publikation bestimmten Entscheid 1B_256 / 2015 vom 4. November 2015 festgehalten hat (E. 4.5), dass Strafverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt werden können (Art. 2 Abs. 2 StPO) und selbst eine Zustimmung des Betroffenen zur rückwirkenden Randdatenerhebung eine richterliche Genehmigung nicht zu ersetzen vermag. Gleiches muss in der hier interessierenden Konstellation gelten: Die Zustimmung beziehungsweise Einwilligung des Betroffenen in die Durchsuchung seines Mobiltelefons ersetzt nicht den staatsanwaltlichen Durchsuchungsbefehl. Inwiefern das Gegenteil aus dem Recht auf Siegelung abgeleitet werden könnte, ist für die Beschwerdekammer nicht nachvollziehbar. Auch aus dem von der Polizei verwendeten Formular kann nichts Gegenteiliges geschlossen werden. Dieses bezweckt einzig den Nachweis einer erfolgten Information über das Recht auf Siegelung.
Gestützt auf das Ausgeführte vermag eine Einwilligung einen schriftlichen Befehl nicht zu ersetzen. Das selbständige Handeln der Polizei ohne staatsanwaltschaftlichen Befehl war regelwidrig. Welche prozessualen Folgen dieser Verstoss zeitigt, wird nachfolgend zu prüfen sein (E. 6). Die weiteren Voraussetzungen der Durchsuchung im Sinn von Art. 246 i.V.m. Art. 241 StPO waren indessen erfüllt. Sowohl die Beschlagnahmerelevanz wie auch der Tatverdacht (der Erpressung, begangen durch A.) waren gegeben.
Der Einwand, wonach die Durchsuchung auf die Kommunikation zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschuldigten hätte beschränkt werden müssen, geht fehl. Um die Bedeutung einzelner Mitteilungen des Beschuldigten richtig erfassen zu können, waren nicht nur die von ihm ausgehenden Mitteilungen von Bedeutung, sondern auch der Kommunikationsverkehr zwischen den beiden Betroffenen insgesamt und zudem, in Anbetracht der speziellen Beziehungssituation, auch derjenige mit D. Für die richtige Einordnung der vom Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe war das Beziehungsgeflecht zwischen dem Beschwerdeführer und D. einerseits und zwischen A. und D. andererseits erheblich.
6.1 Die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise ist in Art. 141 StPO geregelt. Für Beweise, die durch verbotene Beweiserhebungsmethoden erlangt werden, sieht Art. 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ein absolutes Beweisverwertungsverbot vor. Dasselbe gilt, wenn das Gesetz einen Beweis als unverwertbar bezeichnet (Art. 141 Abs. 1 Satz 2 StPO). Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, dürfen nach Art. 141 Abs. 2 StPO grundsätzlich nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich.
Beweise, bei deren Erhebung lediglich Ordnungsvorschriften verletzt wurden, sind dagegen gemäss Art. 141 Abs. 3 StPO verwertbar. Ob im Einzelfall eine Gültigkeits- oder eine Ordnungsvorschrift vorliegt, bestimmt sich (sofern das Gesetz die Norm nicht selber als Gültigkeitsvorschrift bezeichnet) primär nach dem Schutzzweck der Norm: Hat die Verfahrensvorschrift für die Wahrung der zu schützenden Interessen der betreffenden Person eine derart erhebliche Bedeutung, dass sie ihr Ziel nur erreichen kann, wenn bei Nichtbeachtung die Verfahrenshandlung ungültig ist, liegt eine Gültigkeitsvorschrift vor (BGE 139 IV 128 E. 1.6; Urteil des Bundesgerichts 6B_56 / 2014 vom 16. Dezember 2014, E. 3.2). Das Bundesgericht hat in BGE 139 IV 128 ausdrücklich festgehalten, dass die Frage, ob die Notwendigkeit eines schriftlichen Befehls eine reine Ordnungsvorschrift oder eine Gültigkeitsvorschrift darstelle, nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beantworten sei (E. 1.1.7).
6.2 Im vorgenannten Entscheid hatte das Bundesgericht eine von Polizeibeamten ohne staatsanwaltlichen Befehl vorgenommene Durchsuchung des Smartphones der Beschwerdeführerin / Beschuldigten zu beurteilen und kam zum Schluss, dass das Erfordernis eines Durchsuchungsbefehls eine reine Ordnungsvorschrift darstelle und daher nichts gegen die Verwertung der Freier-Adressen sprechen würde. Die Voraussetzungen für die Durchsuchung des (offenkundig nicht mittels eines Codes verschlossenen) Smartphones seien an sich erfüllt und die Durchsuchung als solche sei auch nicht unverhältnismässig gewesen.
Die Polizeibeamten hätten sich offenbar darauf beschränkt, (nur) Einsicht in die im Gerät abgelegten Adressen zu nehmen. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Beamten vorsätzlich und rechtsmissbräuchlich über die gesetzliche Zuständigkeitsordnung im Sinn von Art. 198 StPO hinweggesetzt bzw. den staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsbefehl bewusst nicht eingeholt hätten, bestünden nicht. Das gelte umso mehr, als selbständiges polizeiliches Handeln im Rahmen von Art. 246 StPO nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern bei Dringlichkeit (Art. 241 Abs. 3 StPO) möglich sei. Die Zuständigkeiten seien hier in einer gewissen Hinsicht «fliessend».
Der Beschwerdeführer weist zu Recht darauf hin, dass der vom Bundesgericht beurteilte Sachverhalt vom vorliegenden Sachverhalt abweicht. Die Polizeibeamten sichteten dort lediglich Kontaktdaten. Hier wurde indessen der ganze Inhalt inklusive gelöschter Daten gespiegelt. Ferner richtete sich die damalige Zwangsmassnahme gegen die beschuldigte Person. Vorliegend wurde die Massnahme bei einer Drittperson angewendet. Solche Zwangsmassnahmen sind gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO besonders zurückhaltend einzusetzen. Aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer mit der Durchsuchung seines Mobiltelefons einverstanden war, kann die Staatsanwaltschaft nichts zu ihren Gunsten ableiten, zumal keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er den Umfang der Auswertung und die technischen Möglichkeiten richtig hat erfassen können. Dass er in die Auswertung auch von gelöschten Daten eingewilligt haben könnte, ist zu bezweifeln. Vor diesem Hintergrund erachtet die Beschwerdekammer die Notwendigkeit eines Durchsuchungsbefehls in der hier interessierenden Konstellation als Gültigkeitsvorschrift.
6.3 Gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise, die Strafbehörden unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Was unter eine schwere Straftat gemäss dieser Bestimmung fällt, kann dem Gesetz nicht entnommen werden. In der Lehre umstritten ist, ob dabei auf die Deliktskataloge der Art. 269 Abs. 2 und Art. 286 Abs. 2 StPO zurückgegriffen werden darf oder ob schwere Straftaten auf Delikte der Schwerkriminalität oder Verbrechen beschränkt werden sollen (Gless, Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Auflage 2014, Art. 141 N 72; Wohlers, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Auflage 2014, Art. 141 N 21a; Schmid, Praxiskommentar, a.a.O., Art. 141 N 8). Diese Frage braucht hier nicht abschliessend beurteilt zu werden. Der Tatbestand der Erpressung (Art. 156 StGB) ist nicht nur unter den vorerwähnten Deliktskategorien aufgeführt, sondern stellt auch ein Verbrechen dar. Unabhängig vom Deliktsbetrag stellt der gegen A. erhobene Vorwurf somit eine schwere Straftat im Sinn von Art. 141 Abs. 2 StPO dar. Ferner ist die Auswertung des Mobiltelefons des Beschwerdeführers als unerlässliches Beweismittel zur Aufklärung dieses Vorwurfs zu bezeichnen, weshalb die im Zusammenhang mit diesem Vorwurf erhobene Auswertung im Verfahren gegen A. derzeit verwertbar und nicht aus den Akten zu weisen ist. Wie es sich aber mit der Verwertung im gegen den Beschwerdeführer erhobenen Verfahren verhält, ist eine andere Frage (vgl. nachfolgend E. 7).
7.1 Die Auswertung des Mobiltelefons förderte nicht nur Informationen im Zusammenhang mit dem gegen A. bestehenden Tatverdacht, sondern auch solche zutage, die den Verdacht begründen, der Beschwerdeführer seinerseits könnte sich im Umgang mit D. strafrechtlich relevanten Handelns schuldig gemacht haben. Die entsprechenden Informationen stellen Zufallsfunde im Sinn von Art. 243 StPO dar (BGE 139 IV 128 E. 2.1).
Art. 243 StPO verpflichtet zur Sicherstellung solcher Zufallsfunde, äussert sich aber nicht zu deren Verwertbarkeit. Zufallsfunde sind gemäss Lehre verwertbar, wenn die ursprüngliche Massnahme rechtmässig erfolgt ist und die Beweiserhebung auch hinsichtlich des neuen Tatverdachts verfahrensrechtlich zulässig gewesen wäre (Gfeller / Thormann, in: Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Auflage 2014, Art. 243 N 30). Besonderes Kriterium für die Verwertbarkeit von Zufallsfunden ist somit die hypothetische Zulässigkeit der Zwangsmassnahme. Bei Zufallsfunden, die aus einer rechtswidrigen Durchsuchung stammen, gilt die allgemeine Regel von Art. 141 StPO zur Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise (Keller, a.a.O., Art. 243 N 4). Dabei ist der Prüfung der hypothetischen Zulässigkeit die Fehlerhaftigkeit der ursprünglichen Zwangsmassnahme, d.h. das Fehlen eines Durchsuchungsbefehls, zugrunde zu legen (konkrete Hypothesenbildung).
7.2 Soweit hier interessierend, stellt sich somit die Frage, ob die Beweise, die ohne schriftlichen Durchsuchungsbefehl und damit unter Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift erhoben worden sind, im Sinn von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertbar sind oder nicht. Gegen den Beschwerdeführer wird wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Abs. 1 BetmG) und «evtl. Nötigung» ermittelt. Diese Delikte können nicht unter schwere Straftaten im Sinn von Art. 141 Abs. 2 StPO subsumiert werden. Zwar trifft zu, dass der Tatbestand der Nötigung unter den in E. 6.3 erwähnten Deliktskatalog fallen würde.
Indessen wurde nicht wegen Nötigung eröffnet, sondern wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage, evtl. Nötigung und Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. D. zog den Strafantrag wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage aber wieder zurück. Was zwischenzeitlich mit dem Vorwurf der «evtl. Nötigung» passiert ist, entzieht sich der Kenntnis der Beschwerdekammer. Jedenfalls reicht dies nicht zur Annahme einer schweren Straftat im Sinn von Art. 141 Abs. 2 StPO.
Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass die aus dem Mobiltelefon gewonnenen Auswertungsergebnisse nicht gegen den Beschwerdeführer verwendet werden dürfen. Sie sind im Verfahren gegen den Beschwerdeführer aus den Akten zu entfernen und bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und danach zu vernichten.
Beschluss BK 15 350 des Obergerichts des Kantons Bern vom 22.12.2015