Familienrecht
Arbeitsunfähigkeit erhöht den Unterhalt nicht
Der Betreuungsunterhalt umfasst die Lebenshaltungskosten der betreuenden Person, soweit sie aufgrund der Betreuung nicht selbst dafür aufkommen kann. Nicht berücksichtigt wird, wenn die Gesundheit eine Erwerbsarbeit verunmöglicht. In solchen Fällen ist auf ein hypothetisches Einkommen abzustellen.
Sachverhalt:
Die Klägerin ist die minderjährige Tochter des Beklagten. Gegenstand des Verfahrens ist eine Abänderung der Unterhaltspflicht des Beklagten gegenüber der Klägerin. Bezüglich des Betreuungsunterhalts stellt sich die Frage der Leistungsfähigkeit der Mutter der Klägerin beziehungsweise, welches Arbeitspensum ihr angerechnet werden kann.
Aus den Erwägungen:
3.2.4.1 Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners ergibt sich aus der Gegenüberstellung von Einkommen und Eigenbedarf. Zum Einkommen gehört das Nettoeinkommen, das mitsamt Pauschalentschädigungen, 13. Monatslohn, Trinkgeldern, Gratifikationen und Boni und ggf. Gewinnanteilen zu ermitteln ist. Familienzulagen und Kinderrenten gehören nicht dazu, ebensowenig Sozialhilfe- und Ergänzungsleistungen (Fountoulakis, Basler Komm., 6. Aufl. 2018, Art. 285 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs [ZGB; SR 210] N 13 f. mit Hinweisen). Unbestritten ist vorliegend, dass die Mutter der Klägerin in einem 40-Prozent-Pensum an einem geschützten Arbeitsplatz in der Administration arbeitet. Sie verdient netto Fr. 1636.30 inkl. Anteil 13. Monatslohn exkl. besondere Sozialzulage und Kinderzulage. Von einem höheren hypothetischen Einkommen darf nach dem Gesagten nur ausgegangen werden, falls ein höherer Verdienst tatsächlich möglich und zumutbar ist. Der von der Klägerin eingereichte Untersuchungsbericht zeigt, dass die Mutter der Klägerin an ADHS leidet. Gemäss Beweisaussage der Mutter der Klägerin könne sie nur noch ca. vier Stunden konzentriert arbeiten.
3.2.4.2 Die obligatorische Beschulung erfolgt im Kanton Luzern mit dem Eintritt in den Kindergarten. Im Regelfall ist dem hauptbetreuenden Elternteil im Kanton Luzern folglich ab Beginn des Schuljahrs, in welchem das jüngste Kind in den Kindergarten eintritt, eine Erwerbstätigkeit mit einem Pensum von 50 Prozent zuzumuten (LGVE 2019 II Nr. 2, E. 5.6.3.1 und 5.6.3.2).
3.2.4.3 Vorliegend hat die Beschulung der Klägerin bereits stattgefunden, weshalb gemäss dem bundesgerichtlichen Schulstufenmodell der Betreuungsaufwand grundsätzlich 50 Prozent beträgt und eine Erwerbstätigkeit von 50 Prozent zumutbar ist. Aufgrund pflichtgemässer richterlicher Ermessensausübung kann im Einzelfall von dieser Richtlinie abgewichen werden.
Das Bundesgericht führt in diesem Zusammenhang erhöhten Betreuungsbedarf aufgrund mehrerer oder behinderter Kinder an. Dabei handelt es sich um Gründe, die sich durch das Kind selber ergeben. Das Kantonsgericht hat denn auch jüngst festgestellt, ein vermindertes Einkommen, das nicht auf die Betreuungsarbeit, sondern auf objektive Fremdfaktoren zurückzuführen sei, könne für die Berechnung des Einkommens nicht massgebend sein. Vielmehr sei in diesem Fall auf ein hypothetisches Einkommen abzustellen (LGVE 2019 II Nr. 2, E. 5.6.6).
Dies steht insofern mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Einklang, als der Betreuungsunterhalt grundsätzlich die Lebenshaltungskosten der betreuenden Person, soweit diese aufgrund der Betreuung nicht selber dafür aufkommen kann, umfasst. Diese Kosten sind einzig im Interesse des Kindes und nicht des betreuenden Elternteils von beiden Eltern gemeinsam zu tragen (BGE 144 III 377, E. 7.1.2.1 übersetzt in Pra 107 [2018], Nr. 104 mit Hinweisen).
Soweit die Mutter der Klägerin somit aufgrund ihrer Gesundheit nicht in der Lage ist, ein dem sogenannten Schulstufenmodell entsprechendes Arbeitspensum zu leisten, kann dies bei der Berechnung des Betreuungsunterhalts nicht berücksichtigt werden; d.h. es ist dafür auf ein hypothetisches Einkommen mit einem Pensum entsprechend der Schulstufe bzw. dem Alter der Klägerin – momentan 50 Prozent, ab Sekundarstufe I 80 Prozent und ab Vollendung des 16. Lebensjahrs 100 Prozent – abzustellen. Insofern ist dem Beklagten zuzustimmen, wenn er vorbringt, dass er nicht für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Mutter der Klägerin einzustehen und aufzukommen habe.
Zu prüfen bleibt, ob der Mutter der Klägerin aus Gründen, die in der Person der Klägerin liegen, kein dem sogenannten Schulstufenmodell entsprechendes Arbeitspensum angerechnet werden kann. Gemäss Mitbericht der Schulsozialarbeit ist die schulische Situation der Klägerin schwierig und von Ängsten sowie Mobbing geprägt. Diese Situation stellt sowohl für das Kind als auch für die betreuende Person eine Herausforderung dar. Ein massgeblich erhöhter ausserschulischer Betreuungsbedarf, der eine ermessensweise Abweichung von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung rechtfertigen würde, ist vorliegend jedoch nicht ersichtlich und auch nicht konkret dargetan.
Somit ist der Mutter der Klägerin ein Einkommen in der Grössenordnung eines 50-Prozent-Pensums anzurechnen.
Die Einräumung einer Übergangsfrist, wie dies bei einem sonstigen hypothetischen Einkommen die Regel ist, ist hier nicht erforderlich, da die Mutter der Klägerin keine Zeit braucht, um ihr Pensum zu erhöhen.
Kantonsgericht Luzern, Entscheid 3B 18 61 vom 28.5.2019
Mietrecht
Vermieter verhielt sich widersprüchlich: Kündigung ungültig
Die Kündigung einer Wohnung ist missbräuchlich, wenn die Ausübung des Kündigungsrechts offenkundig einer früheren Verhaltensweise zuwiderläuft und die Gegenpartei ein schutzwürdiges Interesse an der früheren Verhaltensweise hat.
Sachverhalt:
Eine Firma kaufte in Basel Ende 2016 ein Mehrfamilienhaus. Sie informierte die Bewohner in drei Schreiben, dass sie die Liegenschaft umfassend sanieren wolle und die Mieter während des Umbaus eine Mietzinsreduktion zugut hätten. Doch im Oktober 2017 kündigte sie allen Bewohnern. Eine Mieterin wehrte sich erfolgreich mit dem Argument, die Vermieterin habe mit den Schreiben den Eindruck erweckt, dass die Mieter in der Wohnung bleiben könnten.
Aus den Erwägungen:
2.1 Das Zivilgericht hat geprüft, ob die Kündigung des Mietverhältnisses vom 20. Oktober 2017 missbräuchlich sei. Nach einer Darlegung der Standpunkte der Parteien hat es ausgeführt, unter welchen Voraussetzungen eine Kündigung wegen umfassender Sanierung zulässig sei und unter welchen Voraussetzungen ein widersprüchliches Verhalten des Vermieters die Kündigung als missbräuchlich erscheinen lasse. Sodann hat es im vorliegenden Fall eine umfassende Sanierung und damit einen schutzwürdigen Kündigungsgrund grundsätzlich bejaht. Dagegen hat es das Verhalten der Vermieterin als widersprüchlich erachtet: Mit drei Schreiben habe sie den Anschein erweckt, dass die Renovationsarbeiten keiner grösseren Änderung bedürften und dass den Mietern bis zur Umbauvollendung eine Mietzinsreduktion zustehe. Dies – so das Zivilgericht – könne nicht anders verstanden werden, als dass die Mieter während der Renovation in der Mietwohnung bleiben könnten und ihnen nicht gekündigt werde. Die Vermieterin müsse sich bei ihrer Kommunikation behaften lassen. Die Kündigung vom 20. Oktober 2017 stelle ein widersprüchliches Verhalten dar, das keinen Schutz verdiene. Sie sei folglich als missbräuchlich aufzuheben.
3.3 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Zivilgericht zutreffend feststellte, dass die Vermieterin mit ihrem Verhalten den Anschein erweckt hat, dass den Mietern bis zum Abschluss der Renovationsarbeiten eine Mietzinsreduktion zustehe und sie während dieser Arbeiten in ihrer Wohnung bleiben könnten. Die nachfolgende Kündigung der Vermieterin vom 20. Oktober 2017 widerspreche offenkundig ihrem vorgängigen Verhalten.
4.1 Das Zivilgericht hat angenommen, dass die Kündigung vom 20. Oktober 2017 dem vorgängigen Verhalten der Vermieterin widerspreche. Die Kündigung stelle ein widersprüchliches Verhalten dar, das keinen Schutz verdiene. Für den Fall, dass ihr Verhalten in tatsächlicher Hinsicht als widersprüchlich erachtet würde, macht die Vermieterin in der Berufung geltend, dass dieses Verhalten unter gewissen Voraussetzungen dennoch zulässig sei; diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall erfüllt.
4.2 Die Geltendmachung eines Rechts ist missbräuchlich, wenn sie im Widerspruch zu einem früheren Verhalten steht und dadurch erweckte berechtigte Erwartungen enttäuscht. Widersprüchliches Verhalten kann ohne Enttäuschung berechtigter Erwartungen auch in einer gegenwärtigen, in sich völlig unvereinbaren und darum widersprüchlichen Verhaltensweise gesehen werden. Einen Grundsatz der Gebundenheit an das eigene Handeln gibt es nicht. Vielmehr ist in einem Widerspruch zu früherem Verhalten nur dann ein Verstoss gegen Treu und Glauben zu erblicken, wenn dieses ein schutzwürdiges Vertrauen begründet hat, das durch die neuen Handlungen enttäuscht wird (BGE 143 III 666, E. 4.2 S. 673 f. mit zahlreichen Hinweisen).
Im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Kündigung des Mietverhältnisses wegen widersprüchlichen Verhaltens gegen Treu und Glauben verstösst, wird namentlich auch die Fallkonstellation genannt, dass der Vermieter die Kündigung entgegen (auch konkludenten) Zusagen an den Mieter ausspricht. Der vorliegende Fall, in welchem die Vermieterin der Mieterin konkludent zugesagt hat, sie könne in ihrer Wohnung verbleiben, entspricht dieser Fallkonstellation einer Kündigung als widersprüchliches Verhalten.
4.3 Die Vermieterin wendet dagegen zunächst ein, dass nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nur dann vorliege, wenn das frühere Verhalten ein schutzwürdiges Vertrauen begründet habe, das durch die neue Handlung enttäuscht werde. Allein schon die zeitliche Abfolge zwischen den beiden Schreiben vom 16. und 19. Oktober 2017 sei derart kurz, dass schlicht kein schutzwürdiges Vertrauen der verbliebenen Mieter habe begründet werden können, in ihren Wohnungen bleiben zu können. Das Schreiben vom 7. Juni 2017 sei unbeachtlich, da darin keine für das vorliegende Verfahren relevanten Aussagen enthalten seien.
Diese Argumentation basiert auf einer unzutreffenden Sachverhaltsannahme: Entgegen der Auffassung der Vermieterin enthält bereits das erste Schreiben Aussagen, die für das vorliegende Verfahren relevant sind. Mit diesem Schreiben wurde den Mietern nämlich mitgeteilt, dass eine ihnen «zustehende Mietzinsreduktion» im Zusammenhang mit der eingeschränkten Nutzung der Mietwohnung vor Beginn der Renovationsarbeiten thematisiert werden würde (vgl. obige E. 3.2.3). Darüber hinaus drückte die Vermieterin in diesem Schreiben ihre «Hoffnung auf ein weiterhin angenehmes Mietverhältnis» aus.
Bereits mit diesem Schreiben hat also die Vermieterin – entgegen ihrer Auffassung – bei der Mieterin das Vertrauen erweckt, dass ihr während der Renovationsarbeiten eine Mietzinsreduktion zustehe und sie somit während dieser Arbeiten in der Mietwohnung bleiben könne.
4.5 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Zivilgericht zu Recht angenommen hat, dass die Kündigung des Mietverhältnisses vom 20. Oktober 2017 dem vorgängigen Verhalten der Vermieterin widerspricht und dass die Kündigung unter diesen Umständen ein widersprüchliches Verhalten darstellt, das keinen Schutz verdient.
5.1 Aufgrund dieser Erwägungen ist der angefochtene Zivilgerichtsentscheid zu bestätigen und die Berufung abzuweisen.
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Entscheid ZB.2019.9 vom 6.6.2019
Arbeitsrecht
Fristlose Kündigung: Lehrbetrieb haftet für Lohneinbusse
Der Schadenersatzanspruch eines Lehrlings bei ungerechtfertigter fristloser Entlassung stützt sich auf Artikel 97 Absatz 1 OR. Der Lehrbetrieb haftet für die Lohneinbusse aufgrund verlängerter Lehrzeit. Ein Selbstverschulden des Lehrlings führt allerdings zur anteilsmässigen Kürzung.
Sachverhalt:
Ein Kochlehrling aus St. Gallen schwänzte die Berufsschule. Das führte zu Problemen mit seinem Chef. Darauf blieb der Lehrling der Arbeit fern und teilte dem Betrieb per SMS mit, er habe keine Lust, gratis zu arbeiten. Bis zu einem Gespräch bleibe er zu Hause. Die Firma kündigte dem jungen Mann fristlos. Der Lehrling klagte dagegen erfolgreich vor dem Arbeitsgericht St. Gallen.
Aus den Erwägungen:
c/aa) Durch den Lehrvertrag verpflichten sich einerseits der Arbeitgeber, die lernende Person für eine bestimmte Berufstätigkeit fachgemäss zu bilden, und andererseits die lernende Person, zu diesem Zweck Arbeit im Dienst des Arbeitgebers zu leisten (Art. 344 OR). Die Arbeit dient nicht primär dem wirtschaftlichen Zweck des Unternehmens, sondern der beruflichen Ausbildung der lernenden Person (BGE 132 III 755 E. 2.1; BSK OR I-Portmann/Rudolph, 6. Aufl., Art. 344 N 12; Portmann/Stöckli, Schweizerisches Arbeitsrecht, 3. Aufl., N 838). Diese hat alles zu tun, um das Lehrziel zu erreichen (Art. 345 Abs. 1 OR). Der Besuch der Berufsfachschule ist obligatorisch (Art. 21 Abs. 3 BGG). Der Arbeitgeber muss sich für den bestmöglichen Lernerfolg des Lernenden einsetzen und diesen periodisch überprüfen (Art. 20 Abs. 1 BGG).
Entlässt der Arbeitgeber die lernende Person ohne wichtigen Grund, so hat diese nach Art. 337c Abs. 1 Anspruch auf Ersatz dessen, was sie verdient hätte, wenn das Vertragsverhältnis durch Ablauf der Lehrzeit beendigt worden wäre. Zu berücksichtigen sind dabei sämtliche Lohnbestandteile und Nebenleistungen des Arbeitgebers. Da beim Lehrvertrag die Ausbildung wesentlicher Teil der Arbeitgeberleistung ist, wird in der Lehre teilweise die Ansicht vertreten, neben dem Lehrlingslohn sei auch der kapitalisierte Ausbildungsbeitrag (Geldwert der Ausbildung) gestützt auf Art. 337c Abs. 1 OR zu ersetzen (ZK-Staehelin, Art. 346 OR N 10; Dufner, a.a.O, S. 179; vgl. auch Arbeitsgericht Zürich vom 28.02.1980, in: JAR 1981, S. 291 f.).
Weiter ist die Lehre spezifisch für den Lehrvertrag einhellig der Auffassung, der Arbeitgeber habe bei ungerechtfertigter fristloser Kündigung für den Schaden aufzukommen, den der Lehrling durch die Verlängerung der Lehrzeit erleidet und der in der Differenz zwischen dem Lehrlingslohn und dem Salär einer jungen Fachkraft besteht. Mit der Vorinstanz und der Mehrheit der Lehre ist jedoch davon auszugehen, dass eine solche Schadensposition nicht auf der Grundlage von Art. 337c Abs. 1 OR, sondern in Anwendung der allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts (Art. 41 ff. und Art. 97 ff. OR) zuzusprechen ist.
cc) Wie gezeigt, kann die lernende Person bei ungerechtfertigter fristloser Entlassung vom Arbeitgeber gestützt auf Art. 97 Abs. 1 OR Ersatz für den Schaden verlangen, den sie durch die Verlängerung der Lehrzeit erleidet, womit entgegen der Ansicht der Beklagten eine Anspruchsgrundlage für die klägerische Forderung besteht.
d/aa) Die Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruchs nach Art. 97 Abs. 1 OR sind das Vorliegen einer Vertragsverletzung, die Entstehung eines Schadens, ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und der Vertragsverletzung sowie der fehlende Nachweis, dass die Vertragsverletzung entschuldbar ist. Sowohl die nicht gehörige Erfüllung einer Hauptpflicht als auch die Schlechterfüllung von Nebenpflichten stellen eine Vertragsverletzung dar. Schaden ist die unfreiwillige Verminderung des Reinvermögens, die aus einer Verminderung der Aktiven, einer Vermehrung der Passiven oder aus entgangenem Gewinn bestehen kann.
Zwischen der Nichterfüllung bzw. der nicht gehörigen Erfüllung der vertraglich vereinbarten Leistung und dem Schaden muss sowohl ein natürlicher als auch ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Geht es um die Beurteilung einer vertragswidrigen Unterlassung, muss eine hypothetische Kausalität vorliegen. Eine solche ist jeweils dann gegeben, wenn bei rechtmässigem Handeln der eingetretene Schaden nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung hätte vermieden werden können.
Der adäquate Kausalzusammenhang kann durch Zufall, höhere Gewalt, grobes Verschulden des Geschädigten oder eines Dritten unterbrochen werden. Dabei muss eine dieser drei Ursachen eine derart grosse Intensität aufweisen, dass die an sich adäquate Ursache nach wertender Betrachtungsweise als rechtlich nicht mehr beachtlich erscheint.
bb) Der Kläger macht geltend, die Beklagte habe durch die ungerechtfertigte Auflösung des Lehrvertrages zusätzlich zur Persönlichkeitsverletzung (Art. 328 OR), die durch die Entschädigung nach Art. 337c Abs. 3 OR abgegolten sei, die Fürsorge- und Ausbildungspflicht gemäss Art. 344 OR verletzt. Die Vorinstanz führte dazu aus, die Beklagte habe mit ihrem Verhalten schuldhaft ihre Ausbildungs- sowie Fürsorgepflicht verletzt, und zwar nicht erst durch die ungerechtfertigte fristlose Kündigung im Januar 2016, sondern bereits früher. So habe sie nichts unternommen, obwohl der Lehrling den Schulbesuch schon während mehr als zwei Semestern vernachlässigt habe. Sie habe erst interveniert, als sich der Klassenlehrer direkt beim Lehrlingsbetreuer darüber beklagt habe. Auch mit ihrem danach gezeigten Verhalten habe sie ihre Ausbildungs- und Fürsorgepflicht in erheblicher Weise verletzt. So habe sie den Kläger an Schultagen arbeiten lassen und ihn sodann in seinem offensichtlichen Irrtum (über die Kündigung) belassen. Die Beklagte sei demnach ihrer Ausbildungs- und Fürsorgepflicht nicht genügend nachgekommen. Auf diese zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz kann verwiesen werden.
ff) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beklagte gestützt auf Art. 97 Abs. 1 OR im Grundsatz ersatzpflichtig ist für den vom Kläger infolge Verlängerung des Lehrverhältnisses erlittenen Schaden von 34 804 Franken.
e/aa) Erreicht das Selbstverschulden der geschädigten Person die für die Unterbrechung des Kausalzusammenhangs notwendige Intensität nicht, stellt es einen Herabsetzungsgrund i.S.v. Art. 44 Abs. 1 OR dar, wobei Art. 44 OR grundsätzlich auch auf die vertragliche Haftung anwendbar ist (Art. 99 Abs. 3 OR; BSK OR I-Kessler, Art. 44 N 1; CHK-Müller, Art. 44 OR N 3). Die Reduktion des Schadenersatzes hängt massgeblich von der Schwere des Selbstverschuldens ab. Bei der Verschuldenshaftung werden das Verschulden der haftpflichtigen und das Selbst- bzw. Mitverschulden der geschädigten Person in einer Gesamtbetrachtung verglichen und anschliessend anteilsmässig zugeteilt; dabei verfügt das Gericht über einen Ermessensspielraum.
bb) Wie soeben dargelegt, hat der Kläger mit seinem Verhalten dazu beigetragen, dass der Lehrvertrag vorzeitig aufgelöst wurde und sich somit sein Lehrabschluss verzögerte. So besuchte er die Berufsschule offenbar nur unregelmässig, zeigte sich anlässlich des Gesprächs vom 6. November 2015 uneinsichtig und konnte sich nicht überwinden, die Lehrlingsvereinbarung zu unterzeichnen. Schwer wiegt ausserdem, dass der Kläger die Arbeitsstelle am 9. November 2015 ohne Erlaubnis der Beklagten verliess und dieser dann per Kurznachricht mitteilte, er bleibe nun zu Hause, bis das Arbeitsverhältnis geklärt sei.
Insgesamt ist von einem deutlichen Mitverschulden des Klägers auszugehen, dem allerdings ein klar höheres Verschulden der Beklagten gegenübersteht. Obwohl der Kläger die Berufsschule schon während mehr als zwei Semestern nur sehr lückenhaft besuchte, unternahm sie nichts und reagierte offenbar auch auf entsprechende E-Mail-Nachrichten der Schule nicht. Nichts für sich ableiten kann die Beklagte aus der Tatsache, dass die Vorinstanz dem Kläger gestützt auf Art. 337c Abs. 3 OR lediglich einen von maximal sechs Monatslöhnen als Entschädigung zusprach, da diese Entschädigung nach freiem Ermessen des Gerichts unter Würdigung aller Umstände – und nicht nur eines allfälligen Selbstverschuldens – festzulegen ist und ausserdem nicht die Maximalentschädigung als Ausgangspunkt dient. Insgesamt erscheint ein Selbstverschuldensabzug von 30 Prozent als angemessen.
cc) Folglich ist der vorinstanzliche Entscheid zu bestätigen und hat die Beklagte dem Kläger Schadenersatz in der Höhe von Fr. 24 362.80 (70 Prozent von Fr. 34 804.00) netto zu bezahlen, zuzüglich 5 Prozent Zins ab dem 28. Februar 2017.
Kantonsgericht St. Gallen, Urteil BO.2018.41 vom 22.5.2019
Zivilprozessrecht
Gericht verletzte Fragepflicht bei Laienpartei
Das Gericht muss Laien auch für die Frage der unentgeltlichen Rechtspflege im Rahmen des Schlichtungsverfahrens persönlich anhören, wenn sie die schriftlichen Belehrungen des Gerichts offenkundig nicht verstehen.
Sachverhalt:
Eine Frau stellte bei einem Bezirksgericht im Kanton Zürich ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für ein Schlichtungsverfahren. Das Schlichtungsgesuch reichte die Frau aber nicht ein. Das Gericht leitete aufgrund der Akten ab, dass die Frau im Hauptverfahren die Vollstreckung einer Forderung gestützt auf ein Scheidungsurteil beantrage. Dafür sei nicht der Friedensrichter zuständig, sondern das Betreibungsamt. Die Hauptbegehren der Frau erklärte das Gericht somit als aussichtslos, und es wies das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ab. Die Frau wehrte sich erfolgreich vor Obergericht.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Entscheid über die teilweise oder vollständige Ablehnung der unentgeltlichen Rechtspflege ist mit Beschwerde anfechtbar (Art. 121 ZPO). Gemäss Art. 321 Abs. 1 ZPO ist die Beschwerde schriftlich und begründet einzureichen. Bei Laien wird in dieser Hinsicht sehr wenig verlangt. Als Antrag genügt eine Formulierung, aus der sich mit gutem Willen herauslesen lässt, wie das Obergericht entscheiden soll. Als Begründung reicht es aus, wenn auch nur ganz rudimentär zum Ausdruck kommt, weshalb der angefochtene Entscheid nach Auffassung der Partei unrichtig sein soll. Namentlich muss irgendeine Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Entscheid erfolgen in dem Sinn, dass dessen Entscheidgründe konkret kritisiert werden. Geltend gemacht werden können unrichtige Rechtsanwendung (Art. 320 lit. a ZPO) sowie offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts.
2.2. Die Beschwerdeführerin, bei der es sich um eine nicht vertretene juristische Laiin handelt, rügt zumindest sinngemäss den Schluss der Vorinstanz, ihr Rechtsbegehren in der Hauptsache sei aussichtslos, indem sie vor der Kammer nochmals auf das von ihr gestellte Rechtsbegehren in der Hauptsache sowie dessen Begründung hinweist und eine erneute Beurteilung verlangt.
3. Zur Frage der Aussichtslosigkeit des Hauptsachenrechtsbegehrens erwog die Vorinstanz, die Beschwerdeführerin mache geltend, sie wolle im Schlichtungsverfahren eine Regelung über die ausstehende Forderung finden. Die Beschwerdeführerin verweise auf einen Strafbefehl vom 18. August 2009 und auf einen Zahlungsbefehl vom 28. Januar 2009 mit der Betreibungsnummer xy. Das Schlichtungsgesuch der Beschwerdeführerin liege nicht vor, es sei nicht klar, welche Rechtsbegehren sie gestützt auf welche Anspruchsgrundlage stelle. Aus dem Strafbefehl ergebe sich aber, dass sich die gestellte Forderung aus einem Scheidungsurteil ergebe, weshalb ein definitiver Rechtsöffnungstitel vorliege; die Vollstreckung der im Scheidungsurteil vereinbarten Ausbildungs-, Unterhalts- und Wohnkosten habe auf dem Weg der Schuldbetreibung zu erfolgen und die angerufene Schlichtungsbehörde sei nicht zuständig.
Ein anderer Rechtsgrund sei aufgrund der eingereichten Unterlagen nicht ersichtlich. Ohnehin stünde einer erneuten zivilrechtlichen Beurteilung der Forderung – unabhängig von der Frage der Verjährung nach Art. 127 ff. OR – das Prozesshindernis der Res iudicata entgegen. Schliesslich wäre die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Ausbildungs- und Unterhaltskosten der volljährigen Söhne wohl ohnehin nicht aktivlegitimiert, da keine Vertretungsvollmacht vorliege.
4.1. Ist das Vorbringen einer Partei unklar, widersprüchlich, unbestimmt oder offensichtlich unvollständig, so gibt ihr das Gericht gestützt auf Art. 56 ZPO durch entsprechende Fragen Gelegenheit zur Klarstellung und Ergänzung. Leitgedanke dieser Bestimmung bildet die Suche nach der materiellen Wahrheit, welche nicht am Unvermögen einer Partei scheitern soll (Glasl, Dike-Komm-ZPO, 2. Aufl. 2016, Art. 56 N 1 m.w.H.). Eine wichtige Funktion der gerichtlichen Fragepflicht ist die Unterstützung von juristischen Laien (z.B. ZK ZPO-Sutter-Somm/Grieder, 3. Aufl. 2016, Art. 56 N 11 und N 38). Im Rahmen der Ausübung der richterlichen Fragepflicht (die mündlich oder schriftlich erfolgen kann) muss das Gericht die Mangelhaftigkeit des Parteivorbringens – also dessen Unklarheit, Unbestimmtheit, Widersprüchlichkeit oder offensichtliche Unvollständigkeit – klar und bestimmt aufzeigen. Der Partei muss namentlich klar werden, inwiefern ihr Vorbringen mangelhaft ist, und es muss ihr nötigenfalls erklärt werden, weshalb die Frage überhaupt gestellt wird (BK ZPO-Hurni, 2012, Art. 56 N 36 ff. m.w.H.).
4.2. Die Vorinstanz erachtete offenbar die Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Hauptsache als unklar, unbestimmt bzw. unvollständig, wie sich anhand der Erwägung zeigt, wonach «nicht gänzlich klar» sei, «welche Rechtsbegehren aufgrund welcher Anspruchsgrundlage die Gesuchstellerin stellt» und die Vorinstanz in der Folge gestützt auf die Einlegerakten herzuleiten versucht, was Grundlage für die Forderung bildet. Aus den vorinstanzlichen Akten ergibt sich, dass die Vorinstanz zwei Mal mit der Beschwerdeführerin in Kontakt trat. Es erfolgte eine telefonische Anfrage bei der Beschwerdeführerin und danach augenscheinlich auch eine Anfrage per E- Mail.
Die auf die E-Mail hin verfasste Antwort der Beschwerdeführerin enthält nochmals das Hauptsachenrechtsbegehren und die Begründung desselben. Dies erfolgte wörtlich deckungsgleich wie im ersten Ersuchen. Offenbar sah sich die Beschwerdeführerin aufgrund der E-Mail nicht veranlasst, diesbezüglich Weiteres auszuführen bzw. war ihr offenbar nicht klar, was genau der weiteren Erörterung bedurfte.
Die Vorinstanz begnügt sich in der Folge aber damit, selbst aus den Akten herzuleiten, was wohl Gegenstand des Hauptsachenverfahrens sei, und dies als aussichtslos zu bewerten. Sachverhaltsannahmen des Gerichts, welche dieses aus eingereichten Einlegerakten herleitet, taugen nicht als Ersatz für einen unklar gebliebenen Parteivortrag. Durch ein solches Vorgehen verletzt die Vorinstanz nicht nur die richterliche Fragepflicht, sondern letztlich auch das rechtliche Gehör der Partei (Art. 53 ZPO), indem sie ihrem Entscheid selbst getroffene Annahmen zugrunde legt, zu denen sich die Beschwerdeführerin nie äussern konnte.
In einem Fall wie dem vorliegenden, bei dem die telefonische Kommunikation aufgrund einer Hörbehinderung erschwert oder verunmöglicht ist und eine Anfrage per E-Mail offenbar nicht zum gewünschten Ergebnis führte, erscheint es angezeigt, die richterliche Fragepflicht mündlich auszuüben und hierzu die juristisch unbedarfte Beschwerdeführerin zu einem Termin vorzuladen. In diesem Rahmen können gezielt die offenen Fragen gestellt, deren Relevanz für das Verfahren gegenüber der Beschwerdeführerin dargetan und weiterhin bestehende Unklarheiten ausgeräumt werden.
4.3. Der Entscheid der Vorinstanz ist aufzuheben und die Sache zwecks Wahrung des Instanzenzugs zur Ausübung der richterlichen Fragepflicht, namentlich zur Durchführung einer mündlichen Anhörung der Beschwerdeführerin, an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird nach weiterer Durchführung des Verfahrens erneut zu entscheiden haben.
Beschluss RU190033-O/U des Obergerichts Zürich vom 9.7.2019
Behauptungen gehören in die Klageschrift
Behauptungen sind grundsätzlich in der Rechtsschrift aufzustellen. Ein blosser Verweis auf Beilagen ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn diese selbsterklärend sind.
Sachverhalt:
Ein Vermieter hat seinem Mieter gekündigt, weil dieser mit der Zahlung von Monatsrechnungen im Verzug war. Im Ausweisungsprozess reichte er keine Begründung ein, allerdings zahlreiche Dokumente. Für das Gericht war klar: Wenn wenige selbsterklärende Beilagen eingereicht werden, kann es überspitzt sein, deren Abschreiben in der Rechtsschrift zu fordern. Aus 51 weder chronologisch noch thematisch geordneten Beilagen das herauszusuchen, was das Rechtsbegehren stützen könnte, ist aber weder dem Gericht für die Entscheidfindung noch der Gegenpartei für die Beantwortung des Gesuches zumutbar.
Aus den Erwägungen:
V./2. Wie ausgeführt, gilt für den Rechtsschutz in klaren Fällen nicht die (soziale) Untersuchungsmaxime, sondern der Verhandlungsgrundsatz (allenfalls mit erhöhten Anforderungen an die Liquidität). Es obliegt deshalb entsprechend Art. 55 Abs. 1 ZPO dem Vermieter, die Tatsachen zu behaupten, auf die er sein Begehren stützt. Da die Mieter sich im Verfahren nicht äusserten, genügt es, ist aber auch erforderlich, dass der Vermieter alle notwendigen Tatsachen behauptet (sein Vortrag mithin schlüssig ist).
3. Die Tatsachenbehauptungen müssen im Prinzip in der Rechtsschrift selbst dargelegt werden (Art. 221 Abs. 1 lit. d ZPO; Killias, Berner Kommentar ZPO, Art. 221 N 23 Spiegelstrich 4). Tatsachen, die sich lediglich aus einer Beilage zu einer Rechtsschrift ergeben, sind vom Gericht – im Anwendungsbereich des Verhandlungsgrundsatzes (Art. 55 Abs. 1 ZPO) – nicht zu beachten. Selbst mit einem allgemeinen Verweis in der Rechtsschrift auf eine Beilage oder mit der allgemeinen Erklärung, dass die eingereichten Akten als integrierender Bestandteil der Rechtsschrift gelten, wird der Behauptungslast nicht Genüge getan (zum Ganzen Willisegger, Basler Kommentar ZPO, Art. 221 N 27).
4. Die Eingabe des Vermieters vom 20. Dezember 2018 lautet wie folgt: «In der Beilage erhalten Sie die Ausweisung für die Mieter inkl. alle dazugehörigen Unterlagen.» Weiter lautet die Eingabe, ebenso wie das ausgefüllte Formular «Gesuch um Ausweisung» (act. 1/2, S. 2, «Begründung»): «Wie Sie aus den Unterlagen entnehmen können, haben die Mieter nie auf unsere Mahnungen, Kündigungen und diversen Schreiben reagiert. Nachdem wir mit Schreiben vom 2.11.2018 den Mietern eine letzte Frist zur Wohnungsübergabe gegeben haben, sehen wir nun keinen anderen Ausweg mehr, als die Ausweisung zu vollstrecken, damit wir die Wohnung nun weitervermieten können.» Aus den Rechtsschriften ergeben sich damit kaum (konkrete) Tatsachenbehauptungen.
5. Alle am Verfahren beteiligten Personen haben nach Treu und Glauben zu handeln (Art. 52 ZPO). In diesem Sinne ist auch Art. 221 Abs. 1 lit. d ZPO auszulegen (systematische Auslegung). Das rechtskundige Gericht muss selber wissen, auf welche Tatsachen es ankommt (vgl. Art. 57 ZPO [«iura novit curia»]), es kann und muss die Beilagen deshalb mit Rücksicht darauf betrachten. Und die Gegenpartei weiss regelmässig schon vor dem Gerichtsverfahren, worum der Streit sich dreht (was hier auch aktenkundig ist), und muss dieses «Vorwissen» nach Treu und Glauben beim Studium des Gesuchs und der Beilagen heranziehen.
Sowohl für das Gericht wie für die Gegenpartei kann also je nach Umständen des Einzelfalls auch eine sich lediglich aus den Beilagen ergebende Behauptung genügen. Das setzt aber voraus, dass die Beilagen «selbsterklärend» sind, was wiederum voraussetzt, dass jede von ihnen ohne grosse Mühen einer Tatsache bzw. Tatsachenbehauptung zugeordnet werden kann.
6. Eine Kündigung wegen Zahlungsrückstands (Art. 257d OR) setzt grundsätzlich voraus: einen Rückstand mit der Zahlung von Mietzinsen oder Nebenkosten; das schriftliche Ansetzen einer Zahlungsfrist von dreissig Tagen samt Androhung, dass bei unbenütztem Ablauf der Frist das Mietverhältnis gekündigt werde; den unbenützten Ablauf der Frist, also das Nichtbezahlen der ausstehenden Mietzinse oder Nebenkosten innert dieser Frist («Säumnis»). Zu diesen Tatbestandsmerkmalen von Art. 257d OR muss der Gesuchsteller Behauptungen aufstellen. Es ist also zu prüfen, ob sich die Behauptung dieser Tatsachen aus den Beilagen des Vermieters ergibt.
7. Aufgrund der ausgeführten Tatbestandsmerkmale wären folgende Belege nötig: ein Mietvertrag; die Ansetzung einer Zahlungsfrist mit Kündigungsandrohung samt Zustellnachweis (allenfalls je für jeden Mieter, vgl. Art. 266n OR); eine Aufstellung über die ausstehenden Mietzinse (die sich wiederum aus der Ansetzung einer Zahlungsfrist ergeben kann); eine Kündigung samt Zustellnachweis (allenfalls je für jeden Mieter, vgl. ebenfalls Art. 266n OR). Der Vermieter reichte hingegen 51 Beilagen ins Recht. Ein grosser Teil der Beilagen sind nicht oder nicht unmittelbar relevant (zum Beispiel act. 2/7–10, 2/23–26, 2/29–31, 2/35–36, weiter der Arbeitsvertrag mit Lohnabrechnungen [act. 2/42–51]) oder nicht ohne Weiteres verständlich (zum Beispiel der «Kontoauszug» in act. 2/2). Von den Beilagen, die im Grundsatz die erwähnten Tatsachen betreffen, liegen teilweise mehrere Versionen vor (zum Beispiel diverse Mahnungen als act. 2/27–28, 2/33–34 und 2/37–41 und mehrere Kündigungen als act. 2/5–6 und 2/17–20).
8. Die Belege sind weiter auch nicht in einer ersichtlichen chronologischen oder sonstigen sachlichen Reihenfolge eingereicht worden (auch wenn die Nummerierung der Akten wohl durch die Vorinstanz vorgenommen wurde, darf angenommen werden, dass diese so erfolgte, wie die Akten eingereicht wurden). Es wurde – entgegen Art. 221 Abs. 2 lit. d ZPO – auch kein Beilagenverzeichnis mitgereicht, das diesbezüglich mehr Übersicht hätte schaffen können.
9. Es ist weder Aufgabe des Gerichts noch den rechtsunkundigen und soweit ersichtlich fremdsprachigen Mietern zumutbar, aus dieser Vielzahl von Belegen die herauszusuchen, die überhaupt rechtserhebliche Tatsachen betreffen, und dann aus diesen diejenigen, die konkret den hier geltend gemachten Rückgabeanspruch des Vermieters begründen sollen. Damit kommt der Vermieter auch einer für Laien allenfalls reduzierten Behauptungslast bei Weitem nicht nach. Das (weitgehend) kommentarlose Einreichen einer Unzahl von (teilweise irrelevanten) Belegen genügte nämlich nicht einmal unter Geltung der (sozialen) Untersuchungsmaxime (BGer 5C.134/2004 E. 2.2, BGer 4A_84/2007 E. 2.1.2 am Ende, und dazu Hauck, Schulthess-Kommentar ZPO, Art. 247 N 34). Umso weniger kann dies unter dem hier geltenden Verhandlungsgrundsatz genügen.
10. Sind Tatsachen wie hier nicht (rechtsgenügend) behauptet, muss das Gericht in Anwendung von Art. 8 ZGB davon ausgehen, dass diese Tatsachen sich nicht verwirklicht haben.
Damit gilt der Tatbestand von Art. 257d OR als nicht erfüllt. Es ist also weder anzunehmen, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zahlungsrückstandskündigung vorlagen, noch, dass der Vermieter das Mietverhältnis gekündigt hat. Deshalb ist – als «prozessuale Wahrheit» – davon auszugehen, dass die Mieter weiterhin über einen Rechtstitel zum Verbleib in der Liegenschaft verfügen und der Rückgabeanspruch des Vermieters nicht entstanden ist.
11. Ist der Tatbestand eines Anspruchs – hier des Anspruchs auf Rückgabe der Mietsache – nicht erfüllt, ist die Klage abzuweisen. Im Rechtsschutz in klaren Fällen hingegen ist auf ein Begehren auch in solchen Fällen nicht einzutreten (BGE 140 III 315). Der Entscheid der Vorinstanz, auf das Begehren nicht einzutreten, ist deshalb im Ergebnis nicht zu beanstanden, die Beschwerde deshalb im Sinne der Erwägungen abzuweisen.
Obergericht Zürich, Urteil PF190021-O/U vom 8.8.2019
Betreibungsrecht
Kein Rechtsstillstand bei untauglichem Vertreter
Wird ein Verhafteter betrieben, setzt ihm das Betreibungsamt eine Frist zur Bestellung eines Vertreters. In dieser Frist besteht Rechtsstillstand. Benennt der Inhaftierte einen untauglichen Vertreter, nimmt die Betreibung ohne weitere Fristansetzung ihren Lauf. Betreibungsurkunden dürfen dem Schuldner direkt ins Gefängnis zugestellt werden.
Sachverhalt:
Ein Gläubiger betreibt einen inhaftierten Schuldner für eine Forderung von gut 10000 Franken. Der entsprechende Zahlungsbefehl konnte weder per Post noch durch einen Betreibungsangestellten zugestellt werden. Nach diversen Abklärungen stellte sich heraus, dass der Schuldner im Regionalgefängnis Thun inhaftiert war. Am 22. Oktober 2018 wurde dem Schuldner Frist nach Art. 60 SchKG zur Bestellung eines Vertreters angesetzt. Der Schuldner bezeichnete Fürsprecher D. aus Bern als seinen Vertreter.
Die Zustellung an den Fürsprecher scheiterte jedoch, weil dieser die Annahme verweigerte mit der Begründung, er habe kein Zustellmandat für Zahlungsbefehle. Schliesslich konnte der Zahlungsbefehl dem Schuldner am 21. Februar 2019 im Regionalgefängnis Thun zugestellt werden. Der Schuldner rügt eine nicht ordnungsgemässe Fristansetzung gemäss Art. 60 SchKG. Er vertritt die Ansicht, dem Schuldner hätte anlässlich der Zustellung vom 21. Februar 2019 nochmals Frist nach Art. 60 SchKG angesetzt werden müssen.
Aus den Erwägungen:
5. Zunächst ist zu prüfen, ob dem Schuldner im Gefängnis der Zahlungsbefehl zugestellt werden durfte. Nach Art. 60 SchKG geniesst ein verhafteter Schuldner einen Rechtsstillstand, damit er Zeit hat, sich zur Wahrung seiner Interessen einen vertraglichen Vertreter zu bestellen. Hierzu setzt das Betreibungsamt dem nicht vertretenen Schuldner eine Frist an. Der Rechtsstillstand gilt bis zum Ablauf dieser Frist. Erst wenn der Verhaftete diese Frist ungenutzt verstreichen lässt, kann die Betreibung ihren Lauf nehmen und dürfen Betreibungsurkunden direkt dem sich in Haft befindlichen Schuldner zugestellt werden (Bauer, Basler Kommentar zum SchKG, 2010, N 1 und 6 zu Art. 60 SchKG).
6. Aus den von der Dienststelle Oberland Ost eingereichten Unterlagen geht hervor, dass dem Schuldner mit Schreiben vom 22. Oktober 2018 korrekt Frist gemäss Art. 60 SchKG angesetzt wurde. Der Schuldner teilte dem Amt daraufhin einen Vertreter mit, der die Entgegennahme jedoch ablehnte.
7. Die Bevollmächtigung an sich ist zwar ein einseitiges Rechtsgeschäft. Abgesehen von Fällen der gesetzlichen Vertretung richtet sich das interne Verhältnis zwischen Vertreter und Vertretenem indes nach einem obligationenrechtlichen Vertrag (Auftrag etc.). Dieses Veranlassungsgeschäft regelt die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Parteien, namentlich die Verpflichtung des Vertreters, im Interesse des Vertretenen rechtsgeschäftlich tätig zu werden (vgl. Guhl, OR, 9. Auflage, § 18 N 12). Ein solches Veranlassungsgeschäft ist hier nicht ersichtlich. Es wird auch nicht dargelegt, warum der als Vertreter bezeichnete Rechtsanwalt aus Gesetz oder Vertrag verpflichtet gewesen wäre, vermögensrechtliche Interessen des sich in Untersuchungshaft befindlichen Schuldners zu wahren. Der Fürsprecher war daher nicht verpflichtet, als Vertreter des Schuldners tätig zu werden.
8. Aus diesem Grund ist nicht zu beanstanden, dass die Dienststelle Oberland Ost nach Ablauf der Frist gemäss Art. 60 SchKG den Zahlungsbefehl direkt dem Schuldner zustellte. Dieser hat vielmehr selbst zu verantworten, dass er keinen tauglichen Vertreter ernannte.
9. Entgegen dem, was in der Beschwerde suggeriert wird, muss dem Schuldner auch nicht wiederholt Frist angesetzt werden. Aus Art. 60 SchKG ergibt sich kein Anspruch auf mehrmalige Fristansetzung. Die in der Beschwerde zitierte Kommentarstelle betrifft einen anderen Fall. Die Ausführungen beziehen sich auf Ersatzzustellungen (Art. 64 SchKG) an Drittpersonen ohne vorgängige Vertreteranfrage und ohne Wissen um die Inhaftierung des Schuldners.
10. Eine Verletzung von Art. 60 SchKG kann folglich ausgeschlossen werden, weshalb die Zustellung des Zahlungsbefehles am 21. Februar 2019 rechtsgültig erfolgte.
Der Rechtsvorschlag – der eingeräumtermassen erst am 11. April 2019 erhoben wurde – erweist sich demnach als verspätet. Folglich ist die angefochtene Verfügung vom 2. Mai 2019 nicht zu beanstanden, was zur Abweisung der Beschwerde führt.
Obergericht Bern, Entscheid ABS 19 171 vom 13.6.2019
Baurecht
Stockwerkeigentum: Baueinsprache nur nach Anfechtung
Ein einzelner Stockwerkeigentümer ist im Baubewilligungsverfahren über ein Vorhaben seiner Eigentümergemeinschaft nur dann einsprache-berechtigt, wenn er den Beschluss der Stockwerkeigentümergemeinschaft zuvor vor dem Zivilrichter angefochten hat.
Sachverhalt:
Die Stockwerkeigentümergemeinschaft A in der Gemeinde Z beschloss, an zwei Wohnhäusern Balkone anzubauen, und reichte für dieses Vorhaben ein Baugesuch ein. Dagegen erhob B, ein Mitglied der Stockwerkeigentümergemeinschaft, eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde, nachdem der Gemeinderat Z seine Einsprache abgewiesen hatte. Das Kantonsgericht Luzern äusserte sich zur Einsprache- bzw. Beschwerdelegitimation des Stockwerkeigentümers.
Aus den Erwägungen:
2.3.2 Stockwerkeigentum ist der Miteigentumsanteil an einem Grundstück, der dem Miteigentümer das Sonderrecht gibt, bestimmte Teile eines Gebäudes ausschliesslich zu benutzen und innen auszubauen. Die Sonderrechte werden in Art. 712a und 712b Abs. 1 ZGB umschrieben. Nicht Sonderrecht können sein: Der Boden der Liegenschaft, die konstruktiv zentralen Bauteile sowie die Anlagen und Einrichtungen, die auch den anderen Stockwerkeigentümern für die Benutzung ihrer Räume dienen. Diese Teile können nicht zu Sonderrecht ausgeschieden werden; sie bilden die sog. gemeinschaftlichen Bauteile (Art. 712b Abs. 2 ZGB).Wenn es um den Beschluss und die Ausführung von baulichen Massnahmen geht, gelten im Stockwerkeigentumsrecht die Bestimmungen über das Miteigentum (Art. 712g Abs. 1 ZGB). Das Miteigentum kennt drei Arten von baulichen Massnahmen: die notwendigen (Art. 647c ZGB), die nützlichen (Art. 647d ZGB) und die der Verschönerung und Bequemlichkeit dienenden, die sog. luxuriösen (Art. 647e ZGB).
2.3.3 Das Konzept der Balkonvergrösserung wurde an der ordentlichen Versammlung der Stockwerkeigentümergemeinschaft vom 26. September 2017 vorgestellt. Unter Traktandum 6 wurde beschlossen, über das Projekt an einer ausserordentlichen Versammlung im Frühjahr 2018 definitiv zu befinden.
Die Verwaltung äusserte sich zur Rechtslage und hielt fest, dass gemäss Gesetz und auch nach der gleichen Regelung im Stockwerkeigentümerreglement drei Arten von baulichen Massnahmen zu unterscheiden seien. Beim Bau/Ausbau der Balkone gehe es um eine nützliche Massnahme, um ein Bauvorhaben, das den Wert und die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Wohnung verbessere. Dies bedürfe nach Art. 647d ZGB und Art. 22 des Stockwerkeigentümerreglements eines qualifizierten Mehrs.
An der ausserordentlichen Versammlung der Stockwerkeigentümergemeinschaft vom 16. Januar 2018 beschlossen die anwesenden und vertretenen Eigentümer mit neun Ja-Stimmen bei einer Enthaltung, dass die Vergrösserung der Balkone ausgeführt werden soll. Damit wurde laut Protokoll das qualifizierte Mehr gemäss Reglement mit 9/12 Einheiten und einem Anteil von 811/1000 der Wertquoten erreicht.
Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, für das Bauvorhaben wäre eine einstimmige Zustimmung erforderlich gewesen, hilft ihm dieser Standpunkt im Baubewilligungsverfahren nicht. Zwar gibt es eine Praxis des Bundesgerichts, wonach bauliche Massnahmen, die im ausschliesslichen Interesse eines oder weniger Stockwerkeigentümer liegen, als luxuriös anzusehen sind, was grundsätzlich das Einverständnis aller Stockwerkeigentümer voraussetze. Vorliegend kann aber nach Aktenlage nicht gesagt werden, es handle sich um Partikularinteressen eines einzigen oder einiger weniger Stockwerkeigentümer.
2.3.4 Das Baugesuch wurde von den dazu befugten Personen namens der Stockwerkeigentümerschaft und unter Berufung auf die erwähnten Beschlüsse dem Gemeinderat eingereicht. Damit liegt eine gültige Willenserklärung der Stockwerkeigentümergemeinschaft vor, nämlich das Gesuch um eine Erteilung der Baubewilligung.
Bei einer solchen Sachlage ist fragwürdig, ob – wie hier – ein einzelner Stockwerkeigentümer sich im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Baubewilligungsverfahrens als Einsprecher und später als Beschwerdeführer konstituieren kann. Jeder Stockwerkeigentümer hat Miteigentum am gesamten Grundstück (BGE 116 II 275 ff.). Die Stockwerkeigentümer bilden in ihrer Gesamtheit die Stockwerkeigentümergemeinschaft (Art. 712 l ZGB). Ihr kommt eine beschränkte Vermögens- und Handlungsfähigkeit zu (Art. 712l Abs. 2 ZGB).
Zur sachenrechtlichen Grundlage (besonders ausgestaltetes Miteigentumsrecht) kommt eine körperschaftliche Komponente hinzu. Der einzelne Stockwerkeigentümer ist so gesehen von Gesetzes wegen und zwangsweise Mitglied der Stockwerkeigentümergemeinschaft.
Unter diesem Gesichtspunkt ist nicht auszumachen, weshalb ein einzelner Stockwerkeigentümer gegen einen gültig zustande gekommenen Baubeschluss, der gemeinschaftliche Teile betrifft, auf öffentlich-rechtlichem Weg sollte vorgehen können. Denn damit findet ein Auseinanderbrechen der Bauherrschaft in dem Sinn statt, dass auf der einen Seite die Bauherrschaft eine Baubewilligung erstreiten will und auf der anderen Seite ein Teil dieser Gemeinschaft die Erteilung der Baubewilligung zu unterlaufen sucht. Damit wird die Bauherrschaft zugleich Gesuchstellerin und Einsprecherin.
2.4 Handelt es sich – wie vorliegend – um ein Baugesuch, das gemeinschaftliche Teile betrifft, muss sich ein einzelner Stockwerkeigentümer dem Beschluss der Gemeinschaft beugen. Ficht er die seiner Ansicht nach rechtswidrigen Beschlüsse auf dem Zivilweg nicht an oder werden seine Rechtsbegehren vom Zivilgericht abgewiesen, bleibt dem einzelnen Stockwerkeigentümer der Verwaltungsweg gesamthaft verwehrt. Das gilt ausdrücklich auch für öffentlich-rechtliche Rügen bezüglich der Anwendung von Bau- und Planungsrecht.
Denn entscheidend ist, dass die Stockwerkeigentümergemeinschaft als Bauherrin auftreten kann und ein einzelner Stockwerkeigentümer, der zwangsweise Mitglied dieser Gemeinschaft und Miteigentümer an den gemeinschaftlichen Teilen ist, kein eigenständiges rechtliches Interesse geltend machen kann. Eine Bauherrschaft lässt sich in einem Baubewilligungsverfahren nicht in einen aktiven, das Bauvorhaben bejahenden Teil und einen passiven, das Bauvorhaben verneinenden Teil «entzweien». Der Gemeinderat hätte folglich mangels schutzwürdigen Interesses insgesamt auf die Einsprache des Stockwerkeigentümers nicht eintreten und namentlich auch die Einwendungen gestützt auf das öffentliche kantonale und kommunale Baurecht nicht prüfen dürfen.
Kantonsgericht Luzern, Entscheid 7H 18 256 vom 23.7.2019
Sozialversicherungen
Nach Anwaltsprüfung Anspruch auf Arbeitslosengeld
Wer nach einem Misserfolg bei der Anwaltsprüfung arbeitslos wird, hat Anspruch auf Stempelgeld. Während der Vorbereitung auf die Anwaltsprüfung sind die Kandidaten von der Erfüllung der Beitragszeit befreit. 13,5 Monate Vorbereitung sind nicht unverhältnismässig lang.
Sachverhalt:
Ein Jurist lernte 13,5 Monate für des Anwaltsexamen. In dieser Zeit hatte er kein Einkommen. Er fiel bei der Prüfung durch, meldete sich zur Arbeitsvermittlung an und erhob Anspruch auf Arbeitslosengelder. Die Öffentliche Arbeitslosenkasse Baselland verneinte einen Anspruch wegen Nichterfüllens der Beitragszeit. Vor dem Kantonsgericht Basel-Landschaft machte er geltend, dass er für die Dauer von mindestens einem Jahr von der Beitragspflicht befreit gewesen sei und Anspruch auf Taggelder habe.
Aus den Erwägungen:
2.1 Nach Art. 8 Abs. 1 lit. e des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIG) vom 25. Juni 1982 hat Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wer die Beitragszeit erfüllt hat oder von der Erfüllung der Beitragszeit befreit ist (Art. 13 und 14 AVIG).
4.1 Es stellt sich vorliegend die Frage, ob und gegebenenfalls wie lange der Beschwerdeführer wegen des angestrebten Erwerbs des Anwaltspatents an der Ausübung einer beitragspflichtigen Beschäftigung verhindert war. Diese Frage ist nach objektiven Kriterien zu beantworten.
4.2 Der Beschwerdeführer führt aus, dass er infolge der Teilnahme an den Anwaltsexamen an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zwischen dem Beginn des Herbstexamens am 21. August 2017 und der Mitteilung des Nichtbestehens der Wiederholungsprüfung am 12. April 2018 an der Ausübung einer Tätigkeit verhindert gewesen sei. Dieser Zeitraum könne nicht als zwei separate Prüfungsperioden angesehen werden. Beabsichtige ein Kandidat, die Prüfung zu wiederholen, so werde er sich in jedem Fall auf die Vorbereitung der kommenden Prüfungen konzentrieren und könne keiner Arbeit nachgehen.
Ansonsten dürfte im Umkehrschluss einem Kandidaten, der beim Herbstexamen die Hausarbeit im August sowie die schriftlichen Klausuren im September bestehe und an der mündlichen Prüfung im Dezember durchfalle, die Prüfungszeit der Wiederholungsprüfung auch nicht vollumfänglich angerechnet werden. Die Wiederholung der mündlichen Prüfung fände erst im Juni statt. Dennoch würde nach der Praxis der Beschwerdegegnerin der gesamte Zeitraum ab Januar als Prüfungszeit und nicht als Vorbereitungszeit angerechnet. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, müsse auf die Mitteilung des Nichtbestehens der Wiederholungsprüfung vom 12. April 2018 als Ende der Prüfungszeit abgestellt werden. Ihm seien daher acht Monate als Folge der Teilnahme am Anwaltsexamen sowie der Wiederholungsprüfung anzurechnen.
In Bezug auf die Vorbereitungszeit auf das Anwaltsexamen sei es so, dass diese einen Hinderungsgrund für die Erfüllung der Beitragspflicht darstelle. Er habe sich während sieben Monaten auf die Prüfungen vorbereitet, da er keinerlei Volontariate bei einer Anwaltskanzlei oder einem Gericht absolviert habe. Daher sei der Bedarf an Vorbereitungszeit etwas länger gewesen. Davon seien ihm mindestens sechs Monate als von der Beitragspflicht befreite Vorbereitungszeit anzurechnen.
Folge man seiner Argumentation, so ergebe sich, dass er innerhalb der zweijährigen Frist für die Dauer von 14 Monaten von der Beitragspflicht befreit gewesen sei. Die Beschwerdegegnerin anerkenne eine Prüfungs- und Vorbereitungszeit von insgesamt 13,5 Monaten. Sie lehne aber eine Beitragsbefreiung pauschal mit dem Argument ab, dass der Zeitbedarf zur Vorbereitung im Verhältnis zur Prüfungszeit übermässig hoch und die gesamte Dauer letztlich unverhältnismässig gewesen sei. Die Begründung dafür fehle aber.
5.1 Im Urteil vom 22. August 2007 (715 07 24/214) hielt das Kantonsgericht fest, dass das Selbststudium im Zusammenhang mit der Absolvierung des Anwaltsexamens, das heisst die Vorbereitungs- und die Prüfungszeit, als ein überprüfbarer Lehrgang zu betrachten sei. Dies wird auch von der Beschwerdegegnerin nicht in Frage gestellt.
5.4 Die Beschwerdegegnerin anerkennt zudem eine Vorbereitungszeit von sechs Monaten für den ersten Examensversuch. Sie stützt sich dabei auf das bereits erwähnte Urteil des Kantonsgerichts. Darin hielt das Kantonsgericht in Erwägung 3.2 fest, dass eine Vorbereitungszeit von im Durchschnitt sechs Monaten für das Anwaltsexamen im Kanton Basel-Landschaft als verhältnismässig erscheine. Diese zeitliche Einschätzung, die sich auf die Anwaltsexamen im Kanton Basel-Landschaft bezieht, kann ohne weiteres auf den Kanton Basel-Stadt übertragen werden, da sich die beiden Anwaltsexamen in Bezug auf den Ablauf und den Prüfungsstoff decken.
6.1 Damit ist gestützt auf die vorstehenden Erwägungen zum Schluss zu kommen, dass der Beschwerdeführer aufgrund des Anwaltsexamens während insgesamt 13,5 Monaten (sechs Monate Vorbereitungszeit für den ersten Versuch, drei Monate Vorbereitungszeit für den zweiten Versuch sowie viereinhalb Monate reine Prüfungszeit) an der Ausübung einer beitragspflichtigen Beschäftigung verhindert war. Die Vorbereitungs- und Prüfungszeiten sind nicht unverhältnismässig lang, weshalb auch die Zumutbarkeit zu verneinen ist, während dieser Zeit zumindest einer Teilerwerbstätigkeit nachzugehen. Dies bedeutet, dass es dem Beschwerdeführer nicht möglich war, innerhalb der Beitragsrahmenfrist eine zwölfmonatige beitragspflichtige Beschäftigung auszuüben. Der Tatbestand von Art. 14 Abs. 1 lit. a AVIG ist erfüllt.
6.2 Der Einspracheentscheid vom 3. Oktober 2018 ist aufzuheben, und es ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer innerhalb der Rahmenfrist für die Beitragszeit vom 13. April 2016 bis 12. April 2018 von der Erfüllung der Beitragszeit befreit war. Die Beschwerdegegnerin wird folglich nach Prüfung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 8 ff. AVIG über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Arbeitslosentaggelder neu zu befinden haben. Die Beschwerde ist in dem Sinne gutzuheissen.
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Entscheid 715 18 364/43 vom 14. Februar 2019