Zivilprozessrecht
Höhere Schwelle bei vorsorglichen Massnahmen
Bei vorsorglichen Massnahmen, die eine Vollstreckung des Hauptanspruchs vorwegnehmen, sind höhere Anforderungen an das Glaubhaftmachen zu stellen: Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen zeigen, dass der Anspruch aussichtsreich ist – also nicht nur «nicht aussichtslos».
Sachverhalt:
Zwei Parteien lagen im Streit wegen des Gebrauchs ihrer Marken und schlossen schliesslich eine Abgrenzungsvereinbarung ab. Die Gesuchgegnerin kündigte sie jedoch mehrfach aufgrund angeblicher Verstösse gegen die Abmachungen. Die Gültigkeit der Kündigungen ist Gegenstand eines hängigen ordentlichen Verfahrens vor dem Handelsgericht des Kantons Bern.
Im vorliegenden Verfahren um Erlass vorsorglicher Massnahmen hat die Gesuchstellerin Leistungsansprüche geltend gemacht, die sie auf die Abgrenzungsvereinbarung stützte. Zu prüfen war deshalb primär, ob die Abgrenzungsvereinbarung nach wie vor galt (wie es die Gesuchstellerin behauptete) oder ob sie rechtsgültig gekündigt worden war (wie es die Gesuchgegnerin behauptete).
Erwägungen:
2. Das Gericht trifft die notwendigen vorsorglichen Massnahmen, wenn die gesuchstellende Partei glaubhaft macht, dass (a.) ein ihr zustehender Anspruch verletzt ist oder eine Verletzung zu befürchten ist; und (b.) ihr aus der Verletzung ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht (Art. 261 ZPO).
Demnach hat die Gesuchstellerin insgesamt vier Voraussetzungen glaubhaft zu machen (vgl. Lucius Huber, in: Sutter-Somm et al. [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], 2010, Art. 261 N. 25):
- das Bestehen eines materiellen Anspruchs zivilrechtlicher Natur;
- dessen Gefährdung oder Verletzung;
- einen drohenden, nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteil;
- zeitliche Dringlichkeit.
Die Last des Glaubhaftmachens entspricht der Beweislast im ordentlichen Verfahren. Hat die Gesuchstellerin die oben genannten vier anspruchsbegründenden Tatsachen glaubhaft gemacht, obliegt es im Gegenzug der Gesuchgegnerin, die anspruchshindernden Tatsachen glaubhaft zu machen (vgl. Thomas Sprecher, in: Spühler et al. [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, Art. 261, N. 58 und N. 71).
3. Die rechtsrelevanten Tatsachen sind nicht strikt zu beweisen, sondern lediglich glaubhaft zu machen. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn für deren Vorhandensein eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, selbst wenn das Gericht noch mit der Möglichkeit rechnet, dass sie sich nicht verwirklicht haben könnte. Glaubhaftmachen bedeutet also mehr als behaupten, aber weniger als beweisen.
Es ist nicht erforderlich, das Gericht von der Richtigkeit der aufgestellten tatsächlichen Behauptung zu überzeugen, sondern es genügt, ihm aufgrund objektiver Anhaltspunkte den Eindruck einer gewissen Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins der in Frage stehenden Tatsachen zu vermitteln (vgl. Andreas Güngerich, in: Hausheer / Walter [Hrsg.], Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Band I, 2012, Art. 261, N. 18 f.).
An das Glaubhaftmachen der anspruchsbegründenden Tatsachen sind erhöhte Anforderungen zu stellen, wenn die in Frage stehenden vorsorglichen Massnahmen besonders einschneidend sind. Erhöhte Anforderungen gelten auch dann, wenn die auf ein Tun gerichtete Leistungsmassnahme einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Rechtsstellung der Gegenpartei darstellt. Leistungsmassnahmen, welche die Vollstreckung des Hauptanspruchs vorwegnehmen, sind nur zurückhaltend anzuordnen. Die dafür genannten Voraussetzungen sind aus diesem Grund besonders streng zu handhaben (vgl. Sprecher, a.a.O., Art. 261, N. 65 mit weiteren Hinweisen und Art. 262, N. 8; vgl. auch Huber, a.a.O., Art. 262, N. 15).
Vorliegend verlangt die Gesuchstellerin inhaltlich die Unterlassung des Erhebens von Widerspruch gegen ein Markeneintragungsgesuch (negative Leistung) und den Rückzug eines Widerspruchs gegen ein Markeneintragungsgesuch (positive Leistung) von der Gesuchgegnerin. Die von ihr anbegehrten vorsorglichen Massnahmen beinhalten somit Leistungsmassnahmen.
Würden diese gutgeheissen, käme dies einem schwereren Eingriff in die Rechte der Gesuchgegnerin gleich: Die Gesuchgegnerin könnte ihre Rechte nicht mehr im Einspracheverfahren geltend machen, sondern wäre dafür auf den ordentlichen Prozessweg verwiesen. Damit entstünden ihr grösserer zusätzlicher Aufwand, zusätzliche Kosten und sie hätte mit einer längeren Dauer für die Geltendmachung ihrer Rechte zu rechnen. Bereits deswegen sind erhöhte Anforderungen an das Glaubhaftmachen zu stellen.
Darüber hinaus beschlagen die verlangten Leistungsmassnahmen faktisch eine Vollstreckung der Hauptsache, nämlich die Erfüllung der umstrittenen Abgrenzungsvereinbarung. Die von der Gesuchstellerin glaubhaft zu machenden Voraussetzungen sind deswegen besonders streng zu handhaben.
4. Basis jeder vorsorglichen Massnahme ist das Bestehen eines materiellen Anspruchs zivilrechtlicher Natur (Verfügungsanspruch). Vorliegend hat die Gesuchstellerin glaubhaft gemacht, dass die Parteien eine markenrechtliche Abgrenzungsvereinbarung abgeschlossen haben, wonach die Gesuchstellerin mit dem Gebrauch und der Registrierung der Marke gemäss vereinbartem Abbild einverstanden ist (vgl. Ziff. 6 der Abgrenzungsvereinbarung). Die Gesuchstellerin hat diese anspruchsbegründende Tatsache somit glaubhaft gemacht. Vorliegend hat aber auch die Gesuchgegnerin glaubhaft gemacht, dass sie die Abgrenzungsvereinbarung mehrfach gekündigt hat. Die Gesuchgegnerin hat diese anspruchshindernde Tatsache somit glaubhaft gemacht.
5. Ob sich aufgrund dieser als glaubhaft erscheinenden Tatsachenbehauptungen der geltend gemachte Verfügungsanspruch der Gesuchstellerin ergibt, kann nicht unter dem Blickwinkel blosser Glaubhaftmachung geprüft werden, sondern es hat eine Rechtsprüfung zu erfolgen (vgl. Sprecher, a.a.O., Art. 261, N. 80): Ob eine der Kündigungen der Abgrenzungsvereinbarung durch die Gesuchgegnerin gültig ist oder ob die Abgrenzungsvereinbarung nach wie vor Geltung hat, ist eine Rechtsfrage.
Das Gericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 57 ZPO). Mit der Senkung des Beweismasses – dem Glaubhaftmachen – aber korrespondiert (um möglichst rasch vorläufigen Rechtsschutz gewähren zu können) eine Erleichterung bei der materiellrechtlichen Prüfung des Verfügungsanspruchs. Das Gericht hat nur eine summarische Prüfung vorzunehmen (vgl. Sabine Kofmel Ehrenzeller, in: Paul Oberhammer [Hrsg.], Kurzkommentar ZPO, 2010, Art. 261, N. 6; Sprecher, a.a.O., Art. 261, N. 83 mit weiteren Hinweisen).
Zusätzlich korrespondieren bei Leistungsmassnahmen, welche die Vollstreckung des Hauptanspruchs vorwegnehmen, die erhöhten Anforderungen an das Glaubhaftmachen auf tatbestandlicher Ebene mit erhöhten Anforderungen an die rechtliche Begründetheit des Anspruchs (vgl. Kofmel Ehrenzeller, a.a.O., Art. 261, N. 6 und N. 9): Während in der Regel summarisch zu prüfen ist, ob der Anspruch nicht aussichtslos erscheint (vgl. Sprecher, a.a.O., Art. 261, N. 83), erscheint hier angezeigt, zu prüfen, ob der Anspruch aussichtsreich erscheint. Eine blosse Nicht-Aussichtslosigkeit vermag die Vorwegnahme der Vollstreckung des Hauptanspruchs nicht zu rechtfertigen.
6. Zu prüfen ist vorliegend, ob es aussichtsreich ist, dass die Abgrenzungsvereinbarung trotz der Kündigungen durch die Gesuchgegnerin nach wie vor Geltung hat.
Eine Abgrenzungsvereinbarung ist ein synallagmatischer Innominatkontrakt, der durch eine starke vergleichs- und verzichtsähnliche Struktur charakterisiert ist. Er ist auf eine endgültige und dauerhafte Beilegung eines bestehenden oder zumindest nicht auszuschliessenden Konflikts ausgerichtet und muss, um diesen Zweck zu erfüllen, grundsätzlich unkündbar sein. Auf die Abgrenzungsvereinbarung sind deshalb die allgemeinen Regeln über die Auflösung von Dauerschuldverhältnissen anzuwenden, mithin auch die Regeln über die Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses aus wichtigem Grund (vgl. Urteil des Bundesgerichts 4A_589/2011 vom 5.4.2012, E. 6).
Dauerschuldverhältnisse können von einer Partei bei Vorliegen von wichtigen Gründen vorzeitig gekündigt werden. Ein wichtiger Grund zur Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses liegt vor, wenn die Bindung an den Vertrag für die Partei wegen veränderter Umstände ganz allgemein unzumutbar geworden ist, also nicht nur unter wirtschaftlichen, sondern auch unter anderen die Persönlichkeit berührenden Gesichtspunkten. Bei besonders schweren Vertragsverletzungen ist ein wichtiger Grund regelmässig zu bejahen. Auch weniger gravierende Vertragsverletzungen können aber eine Fortsetzung des Vertrags für die Gegenpartei unzumutbar machen, wenn sie trotz Verwarnung oder Abmahnung immer wieder vorgekommen sind, sodass nicht zu erwarten ist, weitere Verwarnungen würden den Vertragspartner von neuen Vertragsverletzungen abhalten (vgl. Urteil des Bundesgerichts 4A_589/2011 vom 5. 4. 2012 E. 7).
Vorliegend erscheint dem Gericht der von der Gesuchstellerin geltend gemachte Anspruch zwar nicht aussichtslos. Die Gesuchgegnerin hat jedoch viele und unterschiedliche Tatsachen glaubhaft gemacht, welche das Handelsgericht aufgrund einer summarischen Prüfung nicht nur als relevant für die Frage der Gültigkeit der Kündigung erachtet, sondern die in ihrer Vielzahl auch durchaus geeignet erscheinen, um eine weitere Bindung der Gesuchgegnerin an die Abgrenzungsvereinbarung unzumutbar zu machen, was eine gültige Kündigung begründen könnte.
Dass die Abgrenzungsvereinbarung nach wie vor Geltung hat, erscheint dem Handelsgericht nach dem Dargelegten in summarischer Prüfung nicht ohne Weiteres aussichtsreich im Sinne der erhöhten Anforderungen, welche im vorliegenden Verfahren verlangt werden (vgl. vorne E. IV./5.).
7. Insgesamt kann im vorliegenden Verfahren somit nicht vom Bestehen eines materiellen Anspruchs zivilrechtlicher Natur (Verfügungsanspruch) ausgegangen werden. Es fehlt der Gesuchstellerin mithin an einem Verfügungsanspruch für die verlangten vorsorglichen Massnahmen gemäss Rechtsbegehren Ziff. 1, 3 und 4 (Teil 1). Die weiteren Voraussetzungen der Gefährdung oder der Verletzung ohne Rechtfertigungsgrund, des nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteils (Verfügungsgrund) und der zeitlichen Dringlichkeit sind deswegen nicht zu prüfen.
Das Gesuch ist demzufolge vollumfänglich abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Entscheid Nr. HG 13 67 des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 11.6.2013
Von Laien keine Rechtskenntnisse verlangt
Einer Partei darf aus einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung grundsätzlich kein Nachteil erwachsen. Das gilt für Parteien, die sich nach Treu und Glauben auf die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung verlassen durften. Das Bundesgericht hat ein Urteil des Zürcher Obergerichts aufgehoben, das auf eine verpätete Beschwerde eines Laien nicht eingetreten war. Einer anwaltlich nicht vertretenen Partei seien nicht die Rechtskenntnisse eines Anwalts zuzurechnen.
Sachverhalt:
Im Zivilprozess zwischen Y. (Kläger, Beschwerdegegner) und der X. AG (Beklagte, Beschwerdeführerin) ging es um eine verspätete Beschwerde gegen die Abweisung von Anträgen auf Erhöhung des Kostenvorschusses für Gerichtskosten und auf Neuansetzung einer Frist zur Erstattung der Klageantwort durch das Bezirksgericht Zürich. Das Obergericht Zürich war auf die verspätete Beschwerde der nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin nicht eingetreten. Sie hatte die zehntägige Beschwerdefrist nach Art. 321 Abs. 2 ZPO zur Anfechtung prozessleitender Verfügungen verpasst.
Beim Bundesgericht beantragt die Beschwerdeführerin mit Beschwerde in Zivilsachen und subsidiärer Verfassungsbeschwerde, das Urteil des Obergerichts vom 11. Juli 2013 sei aufzuheben und ihr eine neue Frist zur Einreichung der Klageantwort und zur Stellungnahme zu den Eingaben des Klägers anzusetzen.
Erwägungen:
Aus dem Prinzip von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV) leitet die Rechtsprechung ein Recht auf Vertrauensschutz ab. Daraus ergibt sich, dass den Parteien aus einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung grundsätzlich keine Nachteile erwachsen dürfen. Den erwähnten Schutz kann eine Prozesspartei nur beanspruchen, wenn sie sich nach Treu und Glauben auf die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung verlassen durfte. Dies trifft auf die Partei nicht zu, welche die Unrichtigkeit erkannte oder bei gebührender Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen. Allerdings vermag nur eine grobe prozessuale Unsorgfalt der betroffenen Partei oder ihres Anwalts eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung aufzuwiegen (BGE 138 I 49, E. 8.3, S. 53 f.; 135 III 374, E. 1.2.2.1, S. 376 f. mit Hinweisen).
Wann der Prozesspartei eine als grob zu wertende Unsorgfalt vorzuwerfen ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen und nach ihren Rechtskenntnissen, wobei bei Anwälten naturgemäss ein strengerer Massstab anzulegen ist. Von ihnen wird jedenfalls eine «Grobkontrolle» der Rechtsmittelbelehrung durch Konsultierung der anwendbaren Verfahrensbestimmungen erwartet (BGE 138 I 49, E. 8.3.2, S. 53 f. mit Hinweisen).
Dagegen wird nicht verlangt, dass neben den Gesetzestexten auch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachgeschlagen wird (BGE 134 I 199, E. 1.3.1, S. 203 mit Hinweisen).
Die Beschwerdeführerin ist nicht anwaltlich vertreten. Auch wenn sie juristisches Vokabular benutzt, können ihr nicht einfach Kenntnisse wie die eines Rechtsanwalts zugerechnet werden. Der Gesetzeswortlaut ist auch nicht selbsterklärend. Anfechtungsobjekt der Beschwerde sind u.a. Zwischenentscheide (Art. 319 Abs. 1 lit. a ZPO) sowie «andere erstinstanzliche Entscheide» und «prozessleitende Verfügungen» (Art. 319 Abs. 1 lit. b ZPO). Bereits die Abgrenzung zu Zwischenentscheiden dürfte für den Laien nicht klar sein. Die Abgrenzung zwischen «prozessleitenden» und «anderen» Entscheiden ist massgeblich für die Rechtsmittelfrist gemäss Art. 321 Abs. 2 ZPO, wobei letztere Bestimmung in der Lehre als «Stolperfalle» (Ivo W. Hungerbühler, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Brunner und andere [Hrsg.], 2011, N. 9 zu Art. 321 ZPO) bezeichnet wird.
Auch Art. 124 Abs. 1 ZPO hilft nur bedingt, die prozessleitenden Verfügungen abzugrenzen, weil in der französischen Version in Art. 124 ZPO von «décisions d’instruction» die Rede ist, während Art. 321 Abs. 2 ZPO von «ordonnances d’instruction» spricht, sodass in der Lehre hinsichtlich der Abgrenzung von einer «confusion» die Rede ist (vgl. Nicolas Jeandin, in: Code de procédure civile commenté, Bohnet und andere [Hrsg.], 2011, N. 13 zu Art. 319 ZPO i.V.m. N. 10 zu Art. 321 ZPO). Überdies lassen sich aus Art. 124 Abs. 1 ZPO lediglich weitere Anhaltspunkte gewinnen, wenn die Kommentierungen dieses Artikels beigezogen werden, wozu die Beschwerdeführerin nicht verpflichtet war.
Für die Vorinstanz war, wie dargelegt, massgeblich, dass bereits die präsidiale Kautionsverfügung vom 25. September 2012 eine zehntägige Rechtsmittelfrist enthalten hatte. Auch wenn es sowohl bei jener Verfügung wie bei der hier angefochtenen um Kaution ging, musste die Beschwerdeführerin angesichts der unterschiedlichen äusseren Form des Entscheids – vorerst präsidial und dann kollegial – nicht ableiten, dass das Bezirksgericht bei der Rechtsmittelbelehrung hätte zwischen den einzelnen Dispositivziffern unterscheiden müssen. Von einer groben prozessualen Unsorgfalt kann nicht die Rede sein.
Die Vorinstanz ist somit zu Unrecht nicht auf die Beschwerde eingetreten.
Urteil Nr. 4A_355/2013 der I. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes vom 22.10.2013
Eheliche Pflicht geht unentgeltlicher Rechtspflege vor
Im Eheschutzverfahren kann der leistungsfähige Ehegatte aufgrund der gegenseitigen Beistandspflicht im Endentscheid verpflichtet werden, dem beistandsbedürftigen Partner einen Beitrag an die Prozesskosten zu leisten. Das führt zum rückwirkenden Widerruf beziehungsweise Entzug einer unentgeltlichen Rechtspflege.
Sachverhalt:
Im Rahmen ihres zweiten Parteivortrags vor dem Bezirksgericht stellte die Beklagte im Rahmen des Eheschutzverfahrens das Begehren, der Kläger sei zu verpflichten, ihr einen weiteren und angemessenen Prozesskostenvorschuss von Fr. 8000.– zu leisten. Sie hatte bereits Fr. 5000.– erhalten. Sie verlangte dabei ausdrücklich nach einer vorsorglichen Massnahme. Das Obergericht ist der Ansicht, dass auf dieses Begehren richtigerweise nicht einzutreten gewesen wäre, und heisst die Berufung des Klägers insofern gut. Im vorliegenden Entscheid gibt das Obergericht der Vorinstanz Anweisungen, wie sie das Eventualgesuch der Beklagten um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung zu prüfen hat.
Erwägungen:
4. Nach der Praxis der erkennenden Kammer können im Eheschutzverfahren mangels gesetzlicher Grundlage keine vorsorglichen Geldzahlungen angeordnet werden (OGer ZH LE110069 vom 8.2.2012, E. 2.4.2). Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob eine Partei im Eheschutzverfahren überhaupt noch verpflichtet werden kann, der anderen die Mittel zur Führung des Prozesses zur Verfügung zu stellen.
Die Kammer hat sich jüngst mit dieser Problematik befasst und festgehalten, dass die gerichtliche Anordnung eines Prozesskostenbeitrags im Eheschutzverfahren – anders als die Anordnung eines Prozesskostenvorschusses in einem Scheidungsverfahren – keine vorsorgliche Massnahme darstelle.
Durch das Inkrafttreten der eidgenössischen Zivilprozessordnung (ZPO) habe sich nichts daran geändert, dass im Rahmen eines Eheschutzverfahrens der leistungsfähige Ehegatte aufgrund der gegenseitigen Beistandspflicht im Endentscheid verpflichtet werden könne, dem beistandsbedürftigen Partner einen Beitrag an die entstandenen Prozesskosten zu leisten. Dies sei ein Gebot des Rechtsschutzes und diene der Waffengleichheit unter den Ehegatten (OGer ZH RE130016 vom 17.9.2013, E. II/3.c).
Um nicht in überspitzten Formalismus zu verfallen, ist ein Antrag einen Prozesskostenvorschuss im Eheschutzverfahren im Zweifelsfalle als Antrag auf Leistung eines Prozesskostenbeitrags im Endentscheid aufzufassen. Wird ein entsprechender Antrag aber ausdrücklich als Massnahmeantrag bezeichnet und ist die antragstellende Partei ausserdem auch noch anwaltlich vertreten, so ist auf einen derartigen Antrag nicht einzutreten (so bereits OGer ZH LE130035 vom 24.5.2013, E. 5).
5. Die Vorinstanz wird nun das Eventualgesuch der Beklagten um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung zu prüfen haben. Dabei wird sie zunächst zu berücksichtigen haben, dass der Kläger der Beklagten bereits einen Vorschuss für die Anwaltskosten von Fr. 5000.– leistete. Ist dieser Vorschuss noch nicht aufgebraucht, ist die Beklagte auch nicht mittellos. Zudem kommt die Gewährung des prozessualen Armenrechts nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. BGE 127 I 206, E. 3d) nur in Frage, wenn die Gegenpartei nicht gestützt auf die eheliche Beistandspflicht zur Übernahme der (weiteren) Prozesskosten verpflichtet werden kann.
Die Beklagte behauptete in ihren Ausführungen selbst, dass der Kläger über beträchtliche Ersparnisse verfüge. Die unentgeltliche Rechtspflege wird ihr daher nur unter der Bedingung gewährt werden können, dass sie einen Antrag auf Leistung eines Prozesskostenbeitrags durch den Kläger stellt. Kann dieser im Endentscheid zur Übernahme der Prozesskosten verpflichtet werden, so hat dies zu einem rückwirkenden Widerruf (d.h. Entzug) der unentgeltlichen Rechtspflege (mit Wirkung ex tunc) zu führen (vgl. Bühler, «Die Prozessarmut», in: Schöbi, Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, Bern 2001, S. 145).
Urteil Nr. LE130048 der I. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 21. Oktober 2013
Strafprozessrecht
Abwesenheit heisst nicht Desinteresse
Allein aus dem unentschuldigten Fernbleiben von einer Verhandlung darf nicht geschlossen werden, dass eine beklagte Person kein Interesse am weiteren Gang eines Strafverfahrens hat.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin erhob gegen einen Strafbefehl fristgerecht Einsprache. Am ersten Termin der Hauptverhandlung erschien sie persönlich und stellte ein Ausstandsgesuch gegen die vorsitzende Gerichtspräsidentin. Am zweiten Termin der Hauptverhandlung erschien sie unentschuldigt nicht.
Erwägungen:
4.1 Das Strafbefehlsverfahren ist mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) bzw. dem konventionsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu einem Gericht mit voller Überprüfungskompetenz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) vereinbar, weil es vom Willen des Betroffenen abhängt, ob er den Strafbefehl akzeptiert oder mit blosser Einsprache von dem ihm zustehenden Recht auf gerichtliche Beurteilung Gebrauch machen will. Die Rechtsstaatlichkeit des Strafbefehlsverfahrens lässt sich nur damit begründen, dass auf die Einsprache hin ein Gericht mit voller Kognition und unter Beachtung der für das Strafverfahren geltenden Mindestrechte über den erhobenen Vorwurf entscheidet (BGer 6B_152/2013 vom 27.5.2013, E. 3.1).
4.2 Die Einsprache erhebende Person trifft im Einspracheverfahren jedoch eine Mitwirkungspflicht. Bleibt sie der Hauptverhandlung unentschuldigt fern und lässt sie sich auch nicht vertreten, so gilt ihre Einsprache gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO als zurückgezogen. Im Gegensatz zum ordentlichen Verfahren führt das unentschuldigte Fernbleiben an der Hauptverhandlung im Einspracheverfahren somit zu einem vollständigen Rechtsverlust (BGer 6B_152/2013 vom 27.5.2013, E. 3.3; vgl. auch Riklin, in: Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2011, Art. 355, N 2, der dies als «Ausdruck einer sachlich ungerechtfertigten Benachteiligung» bezeichnet). Eine gerichtliche Beurteilung der im summarischen Strafbefehlsverfahren erhobenen Vorwürfe findet nicht mehr statt. Die in Art. 356 Abs. 4 StPO stipulierte Rückzugsfiktion stellt damit eine Ausnahme vom verfassungs- und konventionsrechtlich garantierten Anspruch auf gerichtliche Beurteilung dar. Diese Bestimmung ist – unter Beachtung der verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben – eng auszulegen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die gesetzliche Rückzugsfiktion deshalb nur zum Tragen kommen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (BGer 6B_152/2013 vom 27.5.2013, E. 4.5.4).
4.3 Die Beschwerdeführerin hat vorliegend gegen den Strafbefehl fristgerecht Einsprache erhoben. Sie erschien persönlich an der Hauptverhandlung vom 21.3.2013 und stellte an dieser ein Ausstandsgesuch gegen die dort vorsitzende Gerichtspräsidentin. Damit hat die Beschwerdeführerin ihr Interesse am Fortgang des Verfahrens ausreichend kundgetan.
Bei dieser Sachlage kann allein aus dem Umstand, dass sie am zweiten Termin der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, nicht darauf geschlossen werden, dass sie auf ihren Anspruch auf gerichtliche Beurteilung (konkludent) verzichtet hat. Die Vorinstanz hat die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO somit zu Unrecht angewendet.
Beschluss Nr. BK 2013 192 der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Bern vom 20.8.2013
Schuldbetreibungsrecht
Abgrenzung zwischen Gericht und Betreibungsamt
Die Einrede, kein neues Vermögen zu haben, ist bei einer Anschlusspfändung eine materiellrechtliche und keine prozessuale Frage. Darüber muss ein Richter entscheiden. Das Betreibungsamt hat die Voraussetzungen für den Pfändungsanschluss zu prüfen.
Sachverhalt:
Vorliegend war streitig, ob ein privilegierter Pfändungsanschluss nach Art. 111 SchKG gestützt auf einen Konkursverlustschein (Art. 265 SchKG) zulässig ist. Das Begehren der Beschwerdeführerin um privilegierten Pfändungsanschluss wurde vom Betreibungsamt mit der Begründung abgewiesen, eine privilegierte Anschlusspfändung gestützt auf einen Konkursverlustschein sei nicht zulässig, da der Schuldner nicht die Möglichkeit habe, die Einrede fehlenden neuen Vermögens (Art. 265a Abs. 1 SchKG) – welche mittels Rechtsvorschlag zu erheben sei – geltend zu machen. Dem Schuldner werde zwar eine Frist zur Bestreitung des Anschlusses angesetzt, aber im Anschlussprozess werde nur über die Forderung und das Anschlussprivileg entschieden, nicht aber über die Frage, ob der Schuldner seit dem Konkurs zu neuem Vermögen gelangt ist.
Die Einwohnergemeinde X. als Beschwerdeführerin vertritt demgegenüber die Ansicht, die Einrede, nicht zu neuem Vermögen gekommen zu sein, könnte auch im Rahmen von Art. 111 Abs. 4 und 5 SchKG sinngemäss geltend gemacht werden.
Erwägungen:
11. Gemäss Art. 111 Abs. 1 Ziff. 2 SchKG können die Kinder des Schuldners für Forderungen aus dem elterlichen Verhältnis an der Pfändung ohne vorgängige Betreibung innert 40 Tagen nach ihrem Vollzug teilnehmen. Ferner ist auch das Gemeinwesen nach Art. 289 Abs. 2 ZGB berechtigt, den privilegierten Anspruch an die Pfändung zu verlangen (BGE 138 III 145, E. 3, S. 146 ff.). Das Betreibungsamt gibt dem Schuldner und den Gläubigern von einem solchen Anspruch Kenntnis und setzt ihnen eine Frist von zehn Tagen zur Bestreitung (Art. 111 Abs. 4 SchKG). Wird der Anspruch bestritten, so findet die Teilnahme nur mit dem Recht einer provisorischen Pfändung statt, und der Ansprecher muss innert 20 Tagen beim Gericht des Betreibungsortes klagen; nutzt er die Frist nicht, so fällt seine Teilnahme dahin (Art. 111 Abs. 5 SchKG).
12. Für den Schuldner ersetzt die Bestreitungsmöglichkeit nach Art. 111 Abs. 4 SchKG den Rechtsvorschlag des Einleitungsverfahrens (Ingrid Jent-Sørensen, in: Staehelin / Bauer / Staehelin [Hrsg.], Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs I, 2. Aufl., 2010, N. 35 zu Art. 111 SchKG). Gegenstand der Bestreitung kann sein, dass die Forderung grundsätzlich und bezüglich deren Höhe bestritten wird, dass sie qualitativ nicht den behaupteten Charakter hat oder der Anschluss deshalb nicht zulässig ist, weil er nicht nach einer Pfändung während der Frist von Art. 111 Abs. 2 SchKG erfolgt (Daniel Hunkeler, Kurzkommentar SchKG, 2009, N. 14 zu Art. 111 SchKG).
13. Nach Eingang des Anschlussbegehrens erfolgt die Prüfung desselben durch das Betreibungsamt, insbesondere, ob es frist- und formgerecht erfolgte (Jent-Sørensen, a.a.O., N. 33 zu Art. 111 SchKG). Weiter hat das Betreibungsamt die Legitimation des Gläubigers zur Stellung des Anschlussbegehrens zu prüfen (BGE 138 III 145, E. 3.1, S.146 f.). Die Betreibungsämter und die Aufsichtsbehörden sind zuständig zum Entscheid darüber, ob der Anschluss rechtzeitig und am richtigen Ort erklärt wurde und ob eine Pfändung vorliegt, an die ein Anschluss überhaupt möglich ist. Alle anderen Einwendungen gegen die Anschlusspfändung sind dem richterlichen Verfahren vorbehalten (Jaeger / Walder / Kull, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Art. 89–158, 5. Aufl., 2006, N. 23 zu Art. 111 SchKG).
14. Gemäss Art. 265 Abs. 2 SchKG kann die Konkursverlustscheinforderung nur vollstreckt werden, wenn der Schuldner tatsächlich zu neuem Vermögen gekommen ist (Ueli Huber, in: Staehelin / Bauer / Staehelin [Hrsg.], a.a.O., N. 13 zu Art. 265 SchKG). Will der Schuldner in einer neuen Betreibung für die Verlustscheinforderung die Einrede mangelnden neuen Vermögens erheben, so muss er das mit Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl tun (Art. 75 Abs. 2 SchKG; Amonn / Walther, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 2008, N. 36 zu § 48). In der Lehre und Rechtsprechung war bislang umstritten gewesen, ob die Einrede mangels neuen Vermögens eine rein prozessuale ist und daher nur im Rahmen eines Betreibungsverfahrens erhoben werden kann oder ob sie materiellrechtlicher Natur ist (Huber, a.a.O., N. 13 zu Art. 265a SchKG). Das Bundesgericht hat nunmehr die Frage in BGE 133 III 620 entschieden und sich für die Zulassung der Einrede fehlenden neuen Vermögens auch ausserhalb des Zwangsvollstreckungsverfahrens ausgesprochen (vgl. insbesondere E. 4.4 des Entscheides).
15. Erhebt der Schuldner Rechtsvorschlag mit der Begründung, er sei nicht zu neuem Vermögen gekommen, so legt das Betreibungsamt den Rechtsvorschlag dem Richter des Betreibungsortes vor. Dieser hört die Parteien an und entscheidet. Der Richter bewilligt den Rechtsvorschlag, wenn der Schuldner seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse darlegt und glaubhaft macht, dass er nicht zu neuem Vermögen gekommen ist (Art. 265a Abs. 2 SchKG). Bewilligt der Richter den Rechtsvorschlag nicht, so stellt er den Umfang des neuen Vermögens fest (Art. 265a Abs. 3 SchKG).
Der Schuldner und der Gläubiger können innert 20 Tagen nach der Eröffnung des Entscheides über den Rechtsvorschlag beim Richter des Betreibungsortes Klage auf Bestreitung oder Feststellung des neuen Vermögens einreichen (Art. 265a Abs. 4 SchKG).
16. Das Betreibungsamt hat nach dem Gesagten – gleichermassen wie die Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen – nur die betreibungsrechtlichen Voraussetzungen für den Pfändungsanschluss zu prüfen (Frist, Form, richtiger Ort der Einreichung, Legitimation). Soweit diese Voraussetzungen erfüllt sind, muss das Betreibungsamt dem Schuldner und den Gläubigern vom Anschlussbegehren Kenntnis geben und ihnen eine Frist zur Bestreitung setzen (Art. 111 Abs. 4 SchKG). Nicht Gegenstand der Prüfung durch das Betreibungsamt bilden die materiellrechtlichen Ansprüche (Cometta / Möckli, in: Staehelin / Bauer / Staehelin [Hrsg.], a.a.O., N. 11 zu Art. 17 SchKG; BlSchK 2011, S. 215 ff., 1999, S. 1 ff., 1991, S. 103 ff., 1985, S. 176 ff.).
Vorliegend bestehen keine Anhaltspunkte, dass die betreibungsrechtlichen Voraussetzungen für die privilegierte Anschlusspfändung nicht erfüllt sein könnten (vgl. vielmehr Ziff. 3 der Vernehmlassung der Dienststelle, wonach die nötigen Voraussetzungen, welche für einen Anschluss nach Art. 111 SchKG zwingend notwendig seien, erfüllt seien). Die Beschwerdeführerin hat ihre Anschlussbegehren zwar bereits einige Tage vor der eigentlichen Pfändung erklärt, indes hat das Betreibungsamt darauf hingewiesen, dass zwischen dem Eingang des privilegierten Anschlusses und dem Vollzug der Hauptpfändung noch rechtliche Fragen zu klären gewesen seien.
Es sollte der Beschwerdeführerin deshalb nicht zu ihrem Nachteil gereichen, dass sie nicht erneut nach der Pfändung ein Begehren gestellt hat. Die Einrede des fehlenden neuen Vermögens stellt demgegenüber einen materiellrechtlichen Einwand dar (BGE 133 III 620). Darüber hat das Gericht und nicht das Betreibungsamt zu befinden. Folglich hätte das Betreibungsamt das Anschlussbegehren der Beschwerdeführerin nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, es müsse dem Schuldner die Einrede des fehlenden neuen Vermögens gewährt werden. Diese Einrede zu überprüfen wird gerade Sache des Richters sein.
Entscheid Nr. ABS 13 117 der Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen des Kantons Bern vom 5.7.2013
Ohne Zustellung kein Prozessrechtsverhältnis
Krankenkassen dürfen einen Rechtsvorschlag selbst aufheben. Können sie aber nicht nachweisen, dass der Schuldner die Sendung mit der entsprechenden Verfügung erhalten hat, gilt der Rechtsvorschlag nicht als rechtskräftig aufgehoben.
Sachverhalt:
Die Krankenkasse X. AG betrieb den Schuldner M. für unbezahlt gebliebene Prämien der obligatorischen Krankenversicherung von Fr. 1520.– (inklusive Mahnspesen) zuzüglich fünf Prozent Zins und Kosten. Den vom Schuldner erhobenen Rechtsvorschlag beseitigte die X. AG mit Verfügung vom 9.4.2013, die sie am 11.4.2013 mit eingeschriebener Post versandte. Da der Schuldner die Sendung auf der Post nicht abholte, ging die Sendung an die X. AG zurück. Diese bescheinigte am 14.6.2013, dass die Rechtskraft der Verfügung am 19.5.2013 eingetreten sei, und stellte gleichentags das Fortsetzungsbegehren. Das Betreibungsamt Schaffhausen wies das Fortsetzungsbegehren mit Verfügung vom 18.6.2013 ab, da der Schuldner die Verfügung betreffend Aufhebung des Rechtsvorschlags nicht erhalten bzw. nicht abgeholt habe. Die dagegen erhobene Beschwerde der X. AG wies das Obergericht als Aufsichtsbehörde über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen ab.
Erwägungen:
2.a) Nach der Rechtsprechung kann ein Gläubiger, der ohne vorgängigen Rechtsöffnungstitel die Betreibung eingeleitet und danach auf Rechtsvorschlag hin nach Massgabe des Art. 79 SchKG auf dem Wege des ordentlichen Prozesses einen definitiven Rechtsöffnungstitel erlangt hat, direkt die Fortsetzung der Betreibung verlangen, ohne dass er das Rechtsöffnungsverfahren nach Art. 80 SchKG (SR 281.1) zu durchlaufen hätte. Gleiches gilt, wenn ein Entscheid im Sinne von Art. 79 SchKG von einer Behörde oder einem Verwaltungsgericht des Bundes oder eines Kantons stammt. Betrifft die Betreibung eine im öffentlichen Recht begründete Forderung, über die eine Verwaltungsbehörde zu befinden hat, so ist unter dem Beschreiten des ordentlichen Prozesswegs gemäss Art. 79 SchKG die Geltendmachung der Forderung vor dieser Behörde zu verstehen.
Auf dem Gebiete der Sozialversicherung ist dabei die erstinstanzlich verfügende Verwaltungsbehörde, die kantonale Rechtsmittelbehörde bzw. das Bundesgericht ordentlicher Richter im Sinne von Art. 79 SchKG, der zum materiellen Entscheid über die Aufhebung des Rechtsvorschlags zuständig ist (BGE 119 V 329, S. 331, E. 2b m.H.; BGE 128 III 39, S. 41 ff., Pra 2002, S. 640 ff.; BGer K 144/99 vom 28.3.2001, E. 3a.).
Aus dem Gesagten ergibt sich für Krankenkassen, dass sie für ihre Geldforderungen gemäss allgemeinem betreibungsrechtlichem Grundsatz auch ohne rechtskräftigen Rechtsöffnungstitel die Betreibung einleiten, im Falle des Rechtsvorschlags nachträglich eine formelle Verfügung erlassen und nach Eintritt der Rechtskraft derselben die Betreibung fortsetzen können. Voraussetzung für eine direkte Fortsetzung der Betreibung ohne Durchlaufen des Rechtsöffnungsverfahrens nach Art. 80 SchKG ist allerdings, dass das Dispositiv der Verwaltungsverfügung mit Bestimmtheit auf die hängige Betreibung Bezug nimmt und den Rechtsvorschlag ausdrücklich als aufgehoben erklärt, sei es vollumfänglich oder in einer bestimmten Höhe.
Die Verwaltungsbehörde hat demnach in ihrer Verfügung nicht bloss einen sozialversicherungsrechtlichen Sachentscheid über die Verpflichtung des Versicherten zu einer Geldzahlung zu fällen, sondern gleichzeitig auch als Rechtsöffnungsinstanz über die Aufhebung des Rechtsvorschlags zu befinden (BGE 119 V 329, S. 331 f., E. 2b. m.H.; Daniel Staehelin, Basler Kommentar, SchKG I, 2. Auflage, Basel 2010, Art. 79, N. 14 ff., S. 605 f. und Art. 80, N. 101, S. 657, je m.w.H.).
Eine Verwaltungsbehörde kann den Rechtsvorschlag nur beseitigen, wenn sie sich auf eine klare gesetzliche Grundlage stützen kann. Krankenkassen können nur im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung und der Taggeldversicherung den Rechtsvorschlag beseitigen (Art. 54 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 KVG), nicht hingegen bei den Zusatzversicherungen, welche dem Privatrecht unterstehen (Staehelin, Art. 79, N. 15, S. 606, m.w.H.). Voraussetzung für die Beseitigung des Rechtsvorschlags durch die Verwaltungsbehörde ist, dass die materielle Verfügung über den in Betreibung gesetzten Anspruch erst nach erhobenem Rechtsvorschlag und zusammen mit dessen Beseitigung erlassen wird. Hat die Verwaltungsbehörde bereits vor Einleitung der Betreibung eine Verfügung erlassen, so kann sie nicht nachträglich den Rechtsvorschlag beseitigen, sondern muss das Verfahren der definitiven Rechtsöffnung nach Art. 80 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG einleiten (BGE 134 III 115, S. 120, E. 4.1.1; Staehelin, Art. 79, N. 16, S. 606, m.w.H.).
Da die Schweiz seit dem Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung und der entsprechenden Revision des SchKG einen einheitlichen Vollstreckungsraum bildet, sind nach Art. 80 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG Verfügungen ausserkantonaler Verwaltungsbehörden in gleicher Weise vollstreckbar wie innerkantonale und solche von Bundesbehörden. Damit können nunmehr auch ausserkantonale Behörden den Rechtsvorschlag gemäss Art. 79 SchKG beseitigen, was früher nicht möglich war (Staehelin, Art. 79, N. 18, S. 607, und Art. 80, N. 102, S. 657).
b) Die X. AG war demnach berechtigt, in ihrer Verfügung vom 9.4.2013 den vom Beschwerdeführer gegen den Zahlungsbefehl erhobenen Rechtsvorschlag zu beseitigen. Nach unbenutztem Ablauf der 30-tägigen Einsprachefrist tritt die Rechtskraft ein.
Umstritten ist jedoch, ob die Verfügung vom 9.4.2013 betreffend Aufhebung des Rechtsvorschlags rechtskräftig geworden ist, da der Schuldner die Sendung auf der Post nachweislich nicht abgeholt hatte. Das Betreibungsamt Schaffhausen wies das Fortsetzungsbegehren deshalb zurück, weil die Beschwerdeführerin nicht habe nachweisen können, dass der Schuldner die Verfügung erhalten habe und damit die Aufhebung des Rechtsvorschlags rechtskräftig geworden sei.
3. Die Beschwerdeführerin macht in ihrer Beschwerdeschrift geltend, ihr Vorgehen gegenüber Schuldnern, welche eingeschriebene Sendungen nicht abholen würden, sei immer dasselbe. Sie sende dem Schuldner, welcher Rechtsvorschlag erhoben habe, vor der Verfügung einen Brief mit A-Post zu, worin sie ihn darüber informiere, dass seine Forderung bisher unbezahlt geblieben sei und er nach einer Woche eine Verfügung mit eingeschriebener Post erhalten werde. Wenn der Schuldner dann die eingeschriebene Verfügung «Aufhebung des Rechtsvorschlags» nicht abhole, leite sie das Fortsetzungsbegehren ein, unter Beilage des vorgängigen Info-Briefes und des Sendungsverfolgungsnachweises «nicht abgeholt». In diesem Sinne sei sie auch vorliegend vorgegangen. In sämtlichen Betreibungsämtern der Schweiz funktioniere diese Methode, ausser im Betreibungsamt Schaffhausen.
Das Betreibungsamt weist darauf hin, dass die Verfügung betreffend Aufhebung des Rechtsvorschlags gemäss dem Track&Trace-Auszug der Post nicht abgeholt worden sei. Das Fortsetzungsbegehren habe es zurückgewiesen, da nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Zustellungsfiktion in solchen Fällen nicht gelte.
a) Die Zustellung von Verfügungen und Entscheiden erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung. Wenn eine eingeschriebene Postsendung nicht abgeholt worden ist, gilt die Zustellung am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 138 Abs. 1 und Abs. 3 lit. a ZPO). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Zustellungsfiktion wurde mit Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung in Art. 138 Abs. 3 ZPO kodifiziert. Diese Bestimmung ist sinngemäss auch auf das Rechtsöffnungsverfahren vor Verwaltungsbehörden anwendbar.
Nach der Rechtsprechung muss die Zustellung eines behördlichen Aktes mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden, damit die Zustellungsfiktion eintreten kann. Indessen entsteht erst mit der Rechtshängigkeit ein Prozessrechtsverhältnis, welches die Parteien verpflichtet, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, d.h. unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen Entscheide, welche das Verfahren betreffen, zugestellt werden können.
Diese Pflicht entsteht als prozessuale Pflicht mit der Begründung eines Verfahrensverhältnisses und gilt insoweit, als während des hängigen Verfahrens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit der Zustellung eines behördlichen Aktes gerechnet werden muss (BGE 130 III 396, S. 399, E. 1.2.3). Der Rechtsvorschlag bewirkt die Einstellung der Betreibung. Damit wird dem Gläubiger der Betreibungsweg verschlossen.
Die Betreibung steht still und droht dahinzufallen, wenn sie nicht binnen nützlicher Frist wieder in Gang gebracht wird. Dazu dient die Rechtsöffnung. Die Betreibung kann nur nach Aufhebung des Rechtsvorschlags durch den Richter im Rechtsöffnungsverfahren (Art. 80 bis 84 SchKG) oder auf dem ordentlichen Prozessweg (Art. 79, 153 Abs. 3 und 186 SchKG) fortgesetzt werden (BGE 130 III 396, S. 399 f., E. 1.2.3).
Wenn eine Krankenkasse den Rechtsvorschlag als Rechtsöffnungsinstanz selbst beseitigt, wird damit ein neues Verfahren eröffnet. Die Zustellfiktion kann nur für das hängige bzw. laufende Verfahren gelten. Die Zustellung des Rechtsöffnungsentscheids kann damit nicht fingiert werden und die Betreibung kann nicht fortgesetzt werden (BGE 130 III 396, S. 400, E. 1.2.3 m.w.H.).
b) Es ist unbestritten, dass der Schuldner den Rechtsöffnungsentscheid der Krankenkasse vom 9.4.2013 auf der Post nicht abgeholt hatte. Der Zustellungsnachweis ist damit nicht erbracht. Daran vermag auch ein mit A-Post versandtes vorgängiges Informationsschreiben nichts zu ändern, da damit die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses ebenso wenig nachgewiesen ist. Nach der klaren bundesgerichtlichen Rechtsprechung war das Betreibungsamt damit verpflichtet, das Fortsetzungsbegehren zurückzuweisen. Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.
4. Der Beschwerdegegner hat den Rechtsvorschlag im vorliegenden Beschwerdeverfahren am 16.8.2013 zurückgezogen. Diese neue Tatsache ist im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen, da Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens das Verhalten des Amtes auf das Fortsetzungsbegehren der Beschwerdeführerin vom 14.6.2013 ist. Es steht der Beschwerdeführerin jedoch frei, aufgrund des erfolgten Rückzugs des Rechtsvorschlags ein erneutes Fortsetzungsbegehren zu stellen, soweit die Forderung inzwischen noch nicht beglichen ist.
Urteil Nr. 93/2013/13/A des Obergerichts Schaffhausen vom 20.9.2013
Verwaltungsrecht
Grosse Freiheit bei Bewertung von Anwaltsprüfungen
Beurteilt das Verwaltungsgericht eine Anwaltsprüfung, darf es sein Ermessen nicht an die Stelle der Prüfungsbehörde setzen. Es hat erst einzuschreiten, wenn die Bewertung nicht nachvollziehbar ist, offensichtliche Mängel hat oder auf sachfremden Kriterien beruht.
Sachverhalt:
Nach einem erfolglosen ersten Versuch legte der Jurist A. am 4.2.2013 ein zweites Mal die schriftliche Anwaltsprüfung ab, bestand diese aber nicht. Er erhielt jedoch die Möglichkeit, innert sechs bis zwölf Monaten die schriftliche Prüfung ein drittes Mal abzulegen.
Dagegen erhob A. Beschwerde beim Verwaltungsgericht und verlangte, seine zweite schriftliche Prüfungsarbeit sei mit «genügend» bzw. als bestanden zu bewerten und er sei an die mündliche Prüfung zuzulassen.
Erwägungen:
2.1 Die Kognition des Verwaltungsgerichts bestimmt sich nach Massgabe von § 50 Abs. 1 in Verbindung mit § 20 Abs. 1 lit. a und b VRG. Grundsätzlich können nur Rechtsverletzungen sowie eine unrichtige oder ungenügende Sachverhaltsfeststellung geltend gemacht werden. Damit ist insbesondere die Rüge der Unangemessenheit – von hier nicht relevanten Ausnahmen abgesehen – ausgeschlossen (vgl. § 50 Abs. 2 VRG).
2.3 Die Erteilung des Anwaltspatents entspricht der Erteilung einer Polizeierlaubnis (BGE 130 II 87; BGer 2A.110/200, 29.1.2004, 3, E. 3; vgl. Ulrich Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. A., Zürich / St. Gallen 2010, Rz. 2531; Tomas Poledna, «Anwaltsmonopol und Zulassung zum Anwaltsberuf – Streiflichter in vier Thesen», in: Schweizerisches Anwaltsrecht, Festschrift Schweizerischer Anwaltsverband 1998, Bern 1998, S. 89 ff.). Für die Polizeierlaubnis ist charakteristisch, dass die darum ersuchende Person einen Rechtsanspruch auf Erteilung besitzt, wenn sie die gesetzlich festgelegten Voraussetzungen erfüllt. Somit liegt die Entscheidung darüber, ob die Erlaubnis erteilt wird, in der Regel nicht im Ermessen der Bewilligungsbehörde (vgl. Häfelin / Müller / Uhlmann, Rz. 2534). Entsprechend gewähren auch § 2 AnwG sowie Art. 7 Abs. 1 lit. b BGFA einen Rechtsanspruch auf Erteilen des Anwaltspatents, sofern (unter anderem) die Prüfung bestanden wurde bzw. der Bewerber oder die Bewerberin die zur Berufsausübung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt.
2.4 Letztere Voraussetzung wurde durch den Gesetzgeber allerdings nicht näher konkretisiert. Es fehlen genaue Angaben, ab welchem Kenntnisstand es möglich sein soll, den Anwaltsberuf auszuüben. Die Verordnung des Obergerichts über die Fähigkeitsprüfung für den Anwaltsberuf vom 21.6.2006 (AnwaltsprüfV, LS 215.11) regelt die Durchführung und die Bewertung der Anwaltsprüfungen nur rudimentär (§§ 10 ff. AnwaltsprüfV).
Diese Offenheit bezweckt, der Behörde einen gewissen Handlungsspielraum zu gewähren, weil einerseits Sachverhaltsmomente zu beachten sind, welche der Gesetzgeber nicht überblicken kann, andererseits aber auch die spezialisierte Behörde Gegebenheiten zu berücksichtigen hat, bezüglich welcher sie sich aufgrund ihrer weiten Vergleichsbasis und ihres grösseren Gesamtüberblicks genauer auskennt als die Gerichte, welchen naturgemäss nur einzelne Fälle zum Entscheid vorgelegt werden (vgl. BGE 119 Ib 33 E. 3a).
2.5 Bei der Festlegung der Anforderungen für das Bestehen einer Anwaltsprüfung kommt den kantonalen Behörden ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Prüfungsanforderungen haben jedoch den zu schützenden polizeilichen Rechtsgütern zu dienen. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes müssen sie geeignet sein, den mit der Prüfung verfolgten Zweck zu erreichen. Die Prüfungsordnung darf nicht unnötige oder übertriebene Erfordernisse aufstellen, muss anderseits aber den Schutzbedürfnissen des rechtsuchenden Publikums ausreichend Rechnung tragen (BGE 113 Ia 286, E. 4a, 112 Ia 322 E. 4a f.). Zum Schutz des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Qualität der anwaltlichen Tätigkeit ist es gerechtfertigt, hohe Anforderungen an die Fachkenntnisse eines Anwalts zu stellen (BGE 122 I 130, E. 3c, 113 Ia 286, E. 4c; vgl. Michael Pfeifer: Der Rechtsanwalt in der heutigen Gesellschaft, ZSR 115/1996 II 252 ff., 356; Kaspar Schiller, Schweizerisches Anwaltsrecht, Zürich etc. 2009, Rz. 175).
2.6 Es gehört zur Hauptaufgabe der Beschwerdegegnerin zu unterscheiden, bei welchen Bewerbern die erforderlichen Kenntnisse vorhanden sind und bei welchen nicht. Entsprechend hat sich das Gericht bei der Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse und des Entscheids der Beschwerdegegnerin Zurückhaltung aufzuerlegen.
Demnach kann und muss das Verwaltungsgericht – unabhängig von der allgemeinen Kognitionsbeschränkung – in Prüfungssachen darauf verzichten, sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Prüfungsbehörde zu setzen. Zudem entspricht es der allgemeinen schweizerischen Praxis, dass die Rechtsmittelinstanzen bei der materiellen Beurteilung von Examen ihre Kognition analog der bundesgerichtlichen Praxis beschränken (BGer 2P.44/2007, E. 2.2, 2.8.2007).
Dies muss auch in Fällen wie dem vorliegenden gelten, wo die Rechtsmittelinstanz in der entsprechenden Prüfungsmaterie selbst über Fachkompetenz verfügt (BGE 136 I 229, E. 6.2). Das Bundesgericht übt Zurückhaltung nicht nur gegenüber der Notengebung, sondern bei der gesamten materiellen Beurteilung eines Examens, also auch gegenüber allfälliger Kritik an der Aufgabenstellung oder dem Vergleich mit der materiellen Bewertung der Leistungen anderer Kandidaten (BGer 2P.44/2007, E. 2.2, 2.8.2007).
2.7 Als Ermessensfrage gilt namentlich die Benotung oder Bewertung einer Aufgabe durch die examinierende Person. Sie kann festlegen, welche Argumente und Varianten sie werten und wie sie diese bewerten will. Die Wertungen müssen sachlich nachvollziehbar bleiben und für alle zu prüfenden Personen in gleicher Weise gelten. Eine erfolgreiche Rüge, ein Kandidat oder eine Kandidatin hätte bei einer Aufgabe mehr Punkte erhalten sollen, setzt daher eine qualifizierte Unangemessenheit voraus (vgl. Stephan Hördegen, «Aktuelle Aspekte des gerichtlichen Rechtsschutzes im Volksschulrecht», in: Thomas Gächter / Tobias Jaag, Das neue Zürcher Volksschulrecht, Zürich / St. Gallen 2007, S. 76 ff.; Alfred Kölz / Jürg Bosshart / Martin Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. A., Zürich 1999, § 50 N. 73 und 80).
Das Verwaltungsgericht hat somit erst einzuschreiten, wenn die Bewertung nicht nachvollziehbar ist, offensichtliche Mängel aufweist oder auf sachfremden Kriterien beruht (vgl. VGer, 19.3.2008, VB.2007.00510, E. 2.1; BGer 2P.252/2003, E. 5.4, 3.11.2003, und 3.7.2006, 2P.93/2006, E. 2.1; BGE 131 I 467, E. 3.1, 121 I 225, E. 4b; Martin Aubert, Bildungsrechtliche Leistungsbeurteilungen im Verwaltungsprozess, Bern etc. 1997, S. 114 ff.). Frei überprüft werden aber Rügen im Zusammenhang mit Verfahrensmängeln, welche den äusseren Ablauf des Examens oder der Bewertung betreffen (BGE 106 Ia 1, E. 3c). In solchen Fällen hat das Verwaltungsgericht eine uneingeschränkte Prüfungsbefugnis und muss diese auch tatsächlich ausschöpfen (VGer VB.2006.00030, E. 2.3, 31.5.2006, mit Hinweisen; BGer 2P.44/2007, E. 2.1 am Ende, 2.8.2007 und BGer 2P.137/2004, E. 2 vom 19.10.2004).
3.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, dass sich aus dem Sachverhalt der Prüfung (der sich im Wesentlichen um ein Ehepaar dreht, welches ein Mehrfamilienhaus in der Stadt Zürich hat, an welchem ein grösserer Umbau durchgeführt wird) nicht ergebe, ob eine Bau AG mit dem Ehepaar oder mit dem beteiligten Architekten einen Vertrag abgeschlossen habe. Er habe den Prüfungsexperten danach gefragt, worauf dieser geantwortet habe, dass er diese Frage bewusst nicht beantwortet habe und nicht beantworten werde. Diese Antwort habe nur bedeuten können, dass vertragliche Ansprüche nicht zu prüfen seien, sondern nur das von vertraglichen Ansprüchen unabhängige Bauhandwerkerpfandrecht.
Er habe die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts geprüft, und der erste Prüfungsexperte habe die Beantwortung dieser Frage mit genügend bis gut bewertet. Im Gegensatz zum ersten Prüfungsexperten hätten der zweite und vierte Prüfungsexperte bemängelt, dass er vertragliche Ansprüche und deren Durchsetzung nicht geprüft habe. Damit sei die Bewertung des Sachverhalts I, Frage A, ins Ungenügende «gekippt». Die Bewertung seiner Prüfungsleistung sei damit offensichtlich mangelhaft. Als Folge davon sei der Sachverhalt I, Teil A, wie vom ersten Prüfungsexperten ursprünglich beantragt, mit genügend bis gut zu bewerten. Das habe wiederum die Folge, dass die gesamte Prüfung mit genügend beziehungsweise mit bestanden zu bewerten sei.
3.2 Zu Recht weist die Beschwerdegegnerin darauf hin, dass ein offener Sachverhalt und dessen rechtliche Würdigung zum Kern einer Anwaltsprüfung gehöre und aus dieser Aussage nicht geschlossen werden könne, dass vertragliche Ansprüche nicht behandelt werden müssten.
3.3 Unabhängig davon ergibt sich aus den Bewertungen der Prüfung durch die Experten Folgendes:
3.3.1 Der Referent bewertete den Sachverhalt I, Teil A, der Prüfung des Beschwerdeführers mit «genügend bis gut», den Sachverhalt I, Teil B, der Prüfung mit klar «ungenügend», den Sachverhalt II, Teil A, mit «genügend bis gut» und den Sachverhalt II, Teil B, mit «höchstens ganz knapp genügend». Entsprechend empfahl er die Arbeit zur «eher knappen» Abnahme.
3.3.2 Der zweite Prüfungsexperte bewertete den Sachverhalt I, Teil A, der Prüfung hingegen (nur) als «genügend». Er bemängelte zwar – wie schon der Referent –, dass die Möglichkeit einer Arrestlegung nicht erkannt wurde; er begründete seine Bewertung aber im Wesentlichen damit, dass der prozessuale Umgang mit dem «im Vordergrund stehende[n]» Bauhandwerkerpfandrecht an «klaren Schwächen leide». Namentlich nannte der Experte die fehlende Differenzierung der Rechtsmittel bei der Anfechtung vorsorglicher und definitiver Eintragungsentscheide, die unzureichende Begründung der Anwendbarkeit von Art. 22 Abs. 1 des Lugano-Übereinkommens vom 30.10.2007 (SR 0.275.12) sowie begriffliche bzw. terminologische Unzulänglichkeiten. In Bezug auf den Sachverhalt I, Teil B, und den Sachverhalt II, Teil A, schloss sich der zweite Experte der Bewertung des Referenten an. Schliesslich bemängelte er bezüglich des Sachverhalts II, Teil B, dass die sachverhaltsbezogene Problemlösung falsch bzw. zu oberflächlich ausgefallen sei, weshalb er zu einer Bewertung mit ungenügend gelangte.
Die Beurteilung der Prüfungsleistung ist nachvollziehbar und beruht nicht auf sachfremden Kriterien. Dass der zweite Prüfungsexperte zu einer etwas anderen Bewertung gelangte als der erste Experte, spricht ebenfalls nicht für einen Bewertungsmangel. Die Bewertung der Arbeiten durch mehrere Examinatoren bezweckt eben gerade eine diesbezügliche Objektivierung.
Zwei Teilbereiche der Arbeit wurden somit als «ungenügend» bewertet. Dass der zweite Experte in der Gesamtbeurteilung von einem Überwiegen der ungenügenden Teilbereiche der Arbeit ausging, weshalb er einen Gegenantrag auf deren Nichtabnahme stellte, ist somit nicht rechtsverletzend – und wäre es im Übrigen selbst dann nicht, wenn der Sachverhalt I, Teil A, als «genügend bis gut» bewertet worden wäre. Denn der Referent ging in der Gesamtbewertung der Arbeit ursprünglich von zwei «genügend bis guten» Teilbereichen, einem «ungenügenden» und einem höchstens ganz knapp «genügenden» Teilbereich aus, weshalb er die Arbeit zur eher knappen Abnahme empfahl. Die Bewertung der Arbeit «kippte» damit schon durch die schlechtere Bewertung des Sachverhalts II, Teil B, ins Ungenügende.
3.3.3 Die weiteren Experten schlossen sich dem Gegenantrag des zweiten Prüfungsexperten an, teilweise mit dem Hinweis auf weitere Mängel der Arbeit. Inwiefern sie hierzu noch weitere Ausführungen hätten machen sollen, ist nicht ersichtlich. Aus dem Verweis auf die Argumentation des zweiten Experten wird klar, weshalb sie zur gleichen Bewertung wie dieser gelangten.
4. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Beurteilung der Prüfungsleistung durch die Beschwerdegegnerin weder offensichtlich mit Mängeln behaftet noch nicht nachvollziehbar ist und sodann nicht auf sachfremden Kriterien beruht. Auch liegt kein offensichtlicher Mangel des Bewertungsverfahrens vor, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist.
Urteil Nr. VB.2013.00368 der 4. Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 6.11.2013