Arbeitsrecht
Anwaltssubstitutin muss Forderung auf Provision begründen
Angestellte haben bei Provisionsforderungen eine Mitwirkungspflicht, sofern der Arbeitgeber sie entsprechend instruiert hat. Sie müssen die von ihnen akquirierten Mandate im Sinne einer Vorleistung auflisten, damit der Arbeitgeber anschliessend eine entsprechende Abrechnung vornehmen kann.
Sachverhalt:
Eine Anwaltssubstitutin klagte vor dem Zürcher Arbeitsgericht gegen die Kanzlei, bei der sie angestellt war. Sie forderte den Lohn von drei Monaten und in einer Stufenklage eine Auflistung sämtlicher von ihr akquirierten Mandate und Provisionsforderungen. Das Arbeitsgericht Zürich verpflichtete die Kanzlei in einem Teilurteil, der Angestellten eine Liste aller von ihr akquirierten Mandate herauszugeben. Das Obergericht war im Berufungsverfahren anderer Meinung.
Aus den Erwägungen:
3.1 Mit Bezug auf die eingeklagte Provisionsforderung ist zwischen den Parteien unter anderem strittig, wer die Akquisitionen der Klägerin zu bezeichnen und die Forderung zu substanziieren hat. Die Beklagte vertritt die Ansicht, nicht sie, sondern die Klägerin habe weisungsgemäss die Pflicht gehabt, über ihre Akquisitionen Buch zu führen und den Anspruch einzufordern, was sie jedoch nicht getan habe. Die Klägerin macht demgegenüber geltend, die Aufstellung der Provisionsabrechnung sei Aufgabe der Beklagten gewesen. Diese Frage ist Gegenstand des Berufungsverfahrens.
3.6 Gemäss Art. 322c Abs. 1 OR hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer auf jeden Fälligkeitstermin eine schriftliche Abrechnung, unter Angabe der provisionspflichtigen Geschäfte, zu übergeben, sofern nicht der Arbeitnehmer vertraglich zur Aufstellung der Provisionsabrechnung verpflichtet ist. Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer die nötigen Aufschlüsse zu geben und Einsicht in die für die Abrechnung massgebenden Bücher und Belege zu gewähren, soweit dies zur Nachprüfung erforderlich ist.
3.6.1 Die Vorschrift des Art. 322c OR dient dem Schutz der Interessen des Arbeitnehmers und ist deshalb relativ zwingend. Es kann somit nicht zuungunsten des Arbeitnehmers von ihr abgewichen werden (Art. 362 Abs. 1 OR). Der Arbeitnehmer kann mithin nur durch vertragliche Abrede, nicht auch durch einseitige Weisung des Arbeitgebers verpflichtet werden, die Provisionsabrechnung selber zu erstellen. Eine abweichende Abrede bedarf zwar keiner Schriftform. Behauptet der Arbeitgeber, dass der Arbeitnehmer die Provisionsabrechnung aufzustellen habe, ist er für eine entsprechende Vereinbarung aber beweispflichtig Das Recht auf Aushändigung einer vollständigen Abrechnung besteht auch nach dem Verlassen der Arbeitsstelle. Die Abrechnung hat die provisionspflichtigen Geschäfte (Kundenname, Art, Umfang und Datum des Geschäftsabschlusses) sowie die Höhe und Fälligkeit der Provision zu enthalten. Sie muss überdies schriftlich und rechnerisch nachvollziehbar sein.
3.6.2 Der von den Parteien geschlossene Arbeitsvertrag sieht vor: «Die Arbeitnehmerin hat Anspruch auf 10 Prozent des eingehenden Honorars (exkl. Spesen) von den durch die Arbeitnehmerin nachweislich akquirierten Klienten.» Wie die Vorinstanz zutreffend festhielt, lässt eine objektivierte Auslegung keine vertragliche Pflicht der Arbeitnehmerin zur Erstellung einer Provisionsabrechnung erkennen. Die Vorschrift beschränkt sich vielmehr darauf, den Provisionsanspruch als solchen zu begründen und dessen Höhe festzulegen.
Zur Frage, wer die Abrechnung zu erstellen hat (Arbeitgeberin oder Arbeitnehmerin), äussert sie sich nicht. Insbesondere statuiert sie nach dem Sinn, den ihr ein vernünftiger und korrekter Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben beimessen darf, keine dahingehende Verpflichtung der Arbeitnehmerin. Daran ändert auch das Wort «nachweislich» nichts. Es stellt lediglich klar, dass nur das Honorar von Klienten zur Provision berechtigt, deren Akquisition durch die Arbeitnehmerin beweismässig liquid ist, d.h. bei denen der für den Provisionsanspruch notwendige Kausalzusammenhang zwischen Vermittlung durch die Arbeitnehmerin und Geschäftsabschluss durch die Arbeitgeberin feststeht (und nicht auch das Honorar von Klienten, bei denen Unsicherheiten darüber bestehen, wer sie akquiriert hat). Das Wort «nachweislich» betrifft somit – wie die Klägerin zutreffend ausführt – die Akquisition als solche, nicht aber die Pflicht zur Erstellung der Provisionsabrechnung.
3.7 Damit allein ist für die Klägerin aber noch nichts gewonnen und der eingeklagte Informationsanspruch noch nicht ausgewiesen. Von der in Art. 322c Abs. 1 OR statuierten Pflicht zur Erstellung der Provisionsabrechnung als solche zu unterscheiden ist nämlich die für die materielle Beurteilung des eingeklagten präparatorischen Informationsanspruchs ebenso bedeutsame Frage, wer die provisionspflichtigen Mandate zu bezeichnen hat, welche Voraussetzung und Grundlage der eigentlichen Provisionsabrechnung bilden. Die Pflicht zur Auflistung der abzurechnenden Mandate muss dabei nicht zwingend der Pflicht zur Abrechnung (Art. 322c Abs. 1 OR) folgen.
3.7.2 Die Beklagte behauptete vor Vorinstanz, als juristische Mitarbeiterin sei die Klägerin durch eine allgemeine, mehrfach kommunizierte Weisung verpflichtet gewesen, über ihre Akquisitionen Buch zu führen und den Provisionsanspruch vierteljährlich geltend zu machen, was sie indessen nicht getan habe Zum Beweis dieser Weisung offerierte sie mehrere Personalbeweise (Parteibefragungen/Beweisaussagen und Zeugnis) sowie eine noch nachzureichende E-Mail. Die Klägerin bestritt die Existenz einer derartigen Weisung. Da die behauptete Weisung durchaus entscheidrelevant ist, hätte über deren Existenz und Inhalt Beweis erhoben werden müssen (Art. 150 Abs. 1 ZPO), zumal weder ersichtlich ist noch von der Klägerin geltend gemacht wurde (und wird), dass die Weisung widerrechtlich, unsittlich oder sachwidrig sei und deshalb ohnehin nicht hätte befolgt werden müssen. Indem die Vorinstanz diesbezüglich keine Beweise abnahm, verletzte sie das Recht der Beklagten auf Beweis (Art. 8 ZGB, Art. 150 Abs. 1 ZPO). Die Berufung ist insoweit begründet und das angefochtene Teilurteil aufzuheben.
3.8.4 Damit steht fest, dass die Klägerin aufgrund einer durch Weisung im Sinne von Art. 321d OR begründeten Mitwirkungspflicht gehalten war, der Beklagten die akquirierten Mandate zu melden. Sodann blieb die beklagtische Behauptung, die Klägerin sei dieser Pflicht nicht nachgekommen, vor Vorinstanz unbestritten. Wenn die Klägerin erstmals in der Berufungsantwort vorbringt und mit neu eingereichten Belegen zu beweisen versucht, dass sie sich an diese Weisung gehalten und der Beklagten neue Kunden jeweils gemeldet habe, ist diese neue Bestreitung resp. Sachdarstellung verspätet und daher unbeachtlich. Die Klägerin kann aber keine Abrechnung verlangen, solange sie ihrer hierfür unabdingbaren Vorleistungspflicht nicht nachgekommen ist. Mit Bezug auf die Abrechnungen für die Zeit ab 3. September 2015 befindet sie sich im Gläubiger- resp. Mitwirkungsverzug und die Beklagte darf ihre Leistung (Erstellung der Provisionsabrechnung) für diese Zeit verweigern.
3.9 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die anbegehrte Herausgabe einer Auflistung sämtlicher von ihr akquirierten Mandate (inkl. aller entsprechenden Rechnungen) durch die Beklagte hat. Einerseits hat sie kein berechtigtes Informationsinteresse an einer solchen Auflistung. Für Klienten, die sie ab dem 3. September 2015 vermittelte, scheitert der eingeklagte Anspruch zudem an der Nichterfüllung ihrer weisungsgemässen Mitwirkungspflicht bei der Erfassung der provisionsberechtigten Mandate.
Obergericht Zürich, Urteil LA190035 vom 15.1.2020
Strafprozessrecht
Zu Unrecht Rückzug der Einsprache angenommen
Wird eine Vorladung nicht zur Kenntnis genommen, darf aus einer versäumten Einvernahme grundsätzlich nicht auf Rückzug der Einsprache und Verzicht auf gerichtliche Überprüfung des Strafbefehls geschlossen werden.
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft verurteilte X. mit Strafbefehl zu einer Busse von 300 Franken wegen Verletzung der Verkehrsregeln. X. erhob dagegen Einsprache. Die Staatsanwaltschaft forderte ihn auf, als Beschuldigter persönlich bei ihr zu einer Einvernahme zu erscheinen. Zu diesem Termin erschien X. nicht. Die Staatsanwaltschaft stellte daher fest, der Strafbefehl gegen X. sei infolge Rückzugs der Einsprache in Rechtskraft erwachsen. Das Obergericht Schaffhausen hiess eine dagegen gerichtete Beschwerde von X. gut.
Aus den Erwägungen:
3.1 Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten. Wer verhindert ist, hat dies der vorladenden Behörde unverzüglich mitzuteilen; er hat die Verhinderung zu begründen und soweit möglich zu belegen. Eine Vorladung kann aus wichtigen Gründen widerrufen werden. Der Widerruf wird erst dann wirksam, wenn er der vorgeladenen Person mitgeteilt worden ist (Art. 205 Abs. 1 bis 3 StPO). Gemäss Art. 85 Abs. 1 StPO bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung (Art. 85 Abs. 2 StPO). Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO).
3.2 Der Strafbefehl ist ein Vorschlag zur aussergerichtlichen Erledigung der Strafsache. Einziger Rechtsbehelf ist die Einsprache. Sie ist kein Rechtsmittel, sondern löst das gerichtliche Verfahren aus, in dem über die Berechtigung der im Strafbefehl enthaltenen Deliktsvorwürfe entschieden wird. Wird Einsprache erhoben, liegt die Sache zunächst wieder bei der Staatsanwaltschaft. Sie trägt damit die Verantwortung für die Einhaltung der «Grundsätze des Strafverfahrensrechts» bei der Fortsetzung des Verfahrens. Die Einsprache erhebende Person darf und muss auf ein rechtsstaatliches Verfahren vertrauen können. Nach Art. 355 Abs. 2 StPO gilt die Einsprache als zurückgezogen, wenn die Einsprache erhebende Person trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fernbleibt. Gemäss Art. 354 Abs. 3 StPO wird der Strafbefehl ohne gültige Einsprache zum rechtskräftigen Urteil. Indes kann auf den gerichtlichen Rechtsschutz nur der informierte Beschuldigte wirksam verzichten (BGE 140 IV 82, E. 2.6, S. 86). Trotz Vorladung unentschuldigt fernbleiben kann somit nach den allgemein anerkannten Grundsätzen der Verfahrensfairness und der Justizförmigkeit nur, wer von der Vorladung und den Rechtsfolgen einer Säumnis überhaupt Kenntnis erhält. Die gesetzliche Zustellfiktion von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO bezüglich der Vorladung gelangt daher nur zur Anwendung, wenn der Einsprecher tatsächlich Kenntnis von der Vorladung und damit auch von den Säumnisfolgen hatte oder wenn die fehlende Kenntnisnahme auf rechtsmissbräuchliches Verhalten zurückzuführen ist (BGE 140 IV 82, E. 2.7, S. 86).
4.1 Die Staatsanwaltschaft begründete die angefochtene Verfügung damit, dass der Beschwerdeführer schriftlich zur Einvernahme vorgeladen worden sei. Gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO gelte eine eingeschriebene Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung habe rechnen müssen. Der Strafbefehl beziehungsweise die darin enthaltenen Erläuterungen hielten in Ziffer 5 ausdrücklich fest, dass im Falle einer Einsprache die Staatsanwaltschaft, die zur Beurteilung der Einsprache notwendigen Beweise abnehme, weshalb jederzeit mit einer Vorladung zu rechnen sei. Weiter werde ausdrücklich auf die Säumnisfolgen bei unentschuldigtem Fernbleiben an einer Einvernahme trotz Vorladung aufmerksam gemacht.
4.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe nach seiner Einsprache nichts mehr von der Staatsanwaltschaft gehört. Eine Vorladung für die staatsanwaltschaftliche Einvernahme habe er nie bekommen. Als er aus den Ferien gekommen sei, habe er einen Abholschein im Briefkasten vorgefunden. Die Post habe ihm aber nicht mehr mitteilen können, wer der Absender gewesen sei.
4.3 Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer die Vorladung nicht zur Kenntnis genommen hat und in der Folge zur Einvernahme nicht erschienen ist. Die Vorladung wurde der Staatsanwaltschaft retourniert, nachdem sie vom Beschwerdeführer auf der Post nicht innerhalb der siebentägigen Frist abgeholt wurde. Aufgrund der im Strafbefehl enthaltenen Rechtsbelehrung und seiner Einsprache gegen den Strafbefehl musste der Beschwerdeführer zwar jederzeit mit Zustellung einer Vorladung rechnen (vgl. Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO).
Indes darf aufgrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aus der versäumten Einvernahme mangels effektiver Kenntnisnahme von der Vorladung nicht auf Rückzug der Einsprache und demnach Verzicht auf gerichtliche Überprüfung des Strafbefehls geschlossen werden, zumal sich aus dem Verhalten des Beschwerdeführers auch keine Hinweise auf ein Desinteresse am Fortgang des Strafverfahrens ergeben. Die Staatsanwaltschaft wusste aufgrund der Retournierung der Vorladung, dass der Beschwerdeführer nicht informiert war. In dieser Situation wäre sie gehalten gewesen, den Vorladungsversuch zu wiederholen und damit das rechtliche Gehör zu gewährleisten. Da zumindest fraglich ist, ob mit einer formularmässigen Belehrung der rechtsstaatlichen Aufklärungs- und Fürsorgepflicht nachgekommen werden kann (BGE 140 IV 82, E. 2.5, S. 85), vermag auch nichts zu ändern, dass die Säumnisfolgen bei Nichterscheinen zur Einvernahme bereits im Strafbefehl enthalten waren. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Beschwerdeführers wird von der Staatsanwaltschaft nicht geltend gemacht.
4.4 Unter diesen Umständen darf aus der Säumnis des Beschwerdeführers mangels effektiver Kenntnisnahme von der Vorladung nicht geschlossen werden, er habe seine Einsprache zurückgezogen und damit auf die gerichtliche Überprüfung des Strafbefehls verzichtet. Die Beschwerde erweist sich damit als begründet, die angefochtene Verfügung ist aufzuheben, und die Staatsanwaltschaft ist anzuweisen, die Einsprache materiell zu behandeln.
Obergericht Schaffhausen, Urteil OGE 51/2019/35 vom 17.4.2020
Neue ärztliche Diagnose kann Revision begründen
Neue medizinische Erkenntnisse im Verlauf der Therapie eines Verurteilten sind bei der Prüfung eines Revisionsgesuchs zu berücksichtigen, wenn das Tatsachenfundament des angefochtenen Urteils dadurch in Frage gestellt wird.
Sachverhalt:
Ein Beschuldigter wurde vom Bezirksgericht Zürich wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung verurteilt. Er ersuchte vor Obergericht um Revision, weil ein neues Gutachten zeige, dass die Diagnose des alten Gutachtens falsch war. Doch das Obergericht meinte dazu: Nach der Rechtsprechung genüge die von einem früheren Gutachten abweichende Diagnose oder Meinung eines Sachverständigen nicht, um ein rechtskräftiges Strafurteil zu revidieren. Das Bundesgericht sah es anders und gab dem Mann recht.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Beschwerdeführer führt aus, das bezirksgerichtliche Straf- und Massnahmeurteil vom 20. Juni 2017 beruhe wesentlich auf einem psychiatrischen Gutachten, was die Schuldfähigkeit und die medizinischen Grundlagen der Massnahme angehe. Der Sachverständige habe eine schwere kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, emotional instabilen, histrionischen und paranoiden Zügen diagnostiziert. Laut seinem Gutachten sei die Schuldfähigkeit nicht aufgehoben: Die Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht der Tat sei vollständig gegeben und die Fähigkeit, gemäss dieser Einsicht zu handeln, lediglich knapp mittelschwer vermindert. Nun habe sich herausgestellt, dass die im Gutachten gestellte Diagnose grundlegend falsch sei.
Gemäss einem Bericht vom 23. April 2019 der Psychiatrischen Universitätsklinik, wo die Behandlung im Rahmen der Massnahme stattfinde, leide er nicht an einer schweren kombinierten Persönlichkeitsstörung, sondern unter anderem an einer schizophrenen Erkrankung. Der Beschwerdeführer macht geltend, die in der Klinik diagnostizierten Leiden führten regelmässig zu einer Aufhebung der Schuldfähigkeit, mindestens aber zu deren starken Einschränkung. Die Berichte der Klinik böten denn auch gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass er bei den Taten schuldunfähig gewesen sei. Treffe dies zu, so erweise sich das frühere Gutachten als grundlegend fehlerhaft im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Das bezirksgerichtliche Urteil beruhe auf falschen Tatsachen. Dies wirke sich zwangsläufig auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit – und damit auf den Bestand des Schuldspruchs oder zumindest auf das Strafmass – aus. Die Freiheitsstrafe sei im Sinne von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO zu revidieren.
2.2 Die Vorinstanz erwägt, nach der Rechtsprechung genüge die von einem früheren Gutachten abweichende Diagnose oder Meinung eines Sachverständigen nicht, um ein rechtskräftiges Strafurteil zu revidieren. Die therapierenden Ärzte hätten die psychischen Auffälligkeiten anders gewichtet. Dies lasse das im Strafverfahren erstellte Gutachten aber nicht automatisch als grundlegend fehlerhaft dastehen. Die Einschätzung der behandelnden Ärzte ersetze lediglich diejenige des früheren Gutachters. Das erschüttere die tatsächlichen Grundlagen des bezirksgerichtlichen Urteils vom 20. Juni 2017 nicht.
2.3 Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist gerechtfertigt, wenn neue medizinische Dokumente zeigen, dass das Strafurteil wahrscheinlich auf ungenauen, unvollständigen oder falschen tatsächlichen Annahmen beruht. Dies trifft einmal dann zu, wenn eine neue Expertise klare Fehler der früheren gutachterlichen Einschätzung zutage fördert, und diese Hinweise geeignet sind, die Beweisgrundlage des Urteils zu erschüttern (Urteil 6B_413/2016 vom 2. August 2016 E. 1.3.1 mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur). Ein Revisionsgrund kann auch vorliegen, wenn ein medizinischer Bericht neu entdeckte, aber vorbestehende Tatsachen dokumentiert, aufgrund derer es wahrscheinlich erscheint, dass die entsprechenden Aussagen der früheren Expertise in einer sachgerichtlichen Abwägung der Beweise nicht mehr Bestand haben werden.
Der Umstand allein, dass eine Expertenmeinung von derjenigen des früheren Gutachters abweicht, bildet jedoch keinen Revisionsgrund. So ist es revisionsrechtlich unerheblich, dass eine neue Evaluation der Psychopathie zu einer anderen Diagnose oder Prognose führt, wenn im Wesentlichen die gleichen medizinischen Befunde dahinterstehen (vgl. BGE 144 IV 321, E. 3.2, S. 331). Solange die neue medizinische Stellungnahme einen gesundheitlichen Zustand bloss anders interpretiert und sich die frühere gutachterliche Festlegung auch im Licht der neuen Erkenntnisse im Rahmen des vertretbaren medizinischen Ermessens hält, ist regelmässig keine neue Tatsache im Sinne von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO gegeben. In der Psychiatrie kann ein und dieselbe Störung je nach zugrunde gelegtem psychiatrischem Konzept diagnostisch unterschiedlich erfassbar sein. Nicht die neue Etikette einer veränderten Diagnose begründet einen Revisionsgrund, sondern das dahinterstehende abweichende medizinische Substrat, das beispielsweise eine neue Beurteilung der Schuldfähigkeit erfordert.
2.6 Das mit Revisionsgesuch angefochtene erstinstanzliche Urteil vom 20. Juni 2017 geht von einer knapp mittelschwer verminderten Schuldfähigkeit aus; dies wurde im Rahmen der Strafzumessung bei der subjektiven Tatschwere berücksichtigt. Das Gericht stützte sich auf die Erkenntnisse des psychiatrischen Gutachtens von Dr. B., Winterthur, vom Januar 2017. Danach liege eine schwere kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, emotional instabilen, histrionischen und paranoiden Zügen vor.
2.7 Die seit Februar 2018 mit der stationären therapeutischen Behandlung des Beschwerdeführers befassten Fachpersonen der Psychiatrischen Universitätsklinik diagnostizierten zunächst eine schizotype Störung, allenfalls (differenzialdiagnostisch) eine undifferenzierte Schizophrenie resp. eine wahnhafte Störung, zusätzlich psychische und Verhaltensstörungen durch Suchtmittel. Die früher gestellte Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung werde nicht geteilt.
Im Verlauf der Therapie hätten sich zunehmend Hinweise auf eine – seit längerer Zeit bestehende – manifest schizophrene Symptomatik ergeben. Die psychiatrische Grunderkrankung (unter anderem mit Bedrohungserleben) und die Substanzabhängigkeitsstörung (mit impulsiv-aggressivem Verhalten) beeinflussten sich gegenseitig ungünstig. Laut einem Behandlungsplan der Psychiatrischen Universitätsklinik von Ende Mai 2019 ersetzten die für die Therapie Verantwortlichen die genannten provisorischen Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis, nach mittlerweile über 15-monatiger klinischer Verlaufsbeobachtung, durch eine paranoide Schizophrenie mit manifest wahnhafter Symptomatik und Hinweisen auf halluzinantes Erleben.
2.8 Die Diagnosen der Psychiatrischen Universitätsklinik dokumentieren ein tatrelevantes Krankheitsgeschehen, das sich tiefgreifend von jenem unterscheidet, das für den früheren Gutachter massgebend war: Schizophrene Erkrankungen bringen grundlegende und charakteristische Störungen des Denkens, Wahnwahrnehmungen sowie inadäquate oder verflachte Affektivität mit sich. Freilich kommen auch bei Persönlichkeitsstörungen weitgehend abnorme Verhaltensmuster vor, u.a. was die Funktionen Affektivität, Impulskontrolle und Wahrnehmung angeht. Die Symptome einer schizophrenen Erkrankung heben sich indessen deutlich davon ab: Zu den Beeinträchtigungen psychotischer Natur (Realitätsverlust, [Verfolgungs-]Wahn, Halluzinationen akustischer und anderer Art etc.) kommen (verschiedene Lebensbereiche übergreifende) Defizite in grundlegenden emotionalen Vorgängen und Verhaltensweisen (sog. Negativsymptome wie z.B. abgestumpfter Affekt) oder auch kognitive Beeinträchtigungen wie Denkstörungen, die rationale Kontrollmechanismen ausser Kraft setzen können. Das Delinquenzrisiko vor allem für Gewalttaten ist erhöht.
2.9 Der Bericht der Psychiatrischen Universitätsklinik enthält als neues Beweismittel im Sinn von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO Tatsachen, die anscheinend schon zum Tatzeitpunkt bestanden, sich dem früheren Sachverständigen aber nicht erschlossen haben. Wenn bereits dieser Experte der Persönlichkeitsstörung eine paranoide Komponente zugeschrieben hat, so bedeutet dies nicht, dass es nun allein um eine Neubewertung oder andere Gewichtung von gesundheitlichen Tatsachen im Rahmen des ärztlichen Ermessens ginge.
Sofern sich die im Verlauf der Therapie gewonnenen neuen Erkenntnisse bestätigen, werden die (als solche aus damaliger Sicht durchaus gut nachvollziehbaren, schlüssigen) Einschätzungen im früheren Gutachten gegenstandslos. Damit sind wesentliche Teile des Tatsachenfundaments für die Beurteilung der Strafbarkeit resp. des Strafmasses ernsthaft infrage gestellt. Die Abweichungen des neu erkannten medizinischen Substrats erfordern eine neue Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt.
Damit ist der geltend gemachte Revisionsgrund gegeben. Ob und wie weit sich die neu gestellten Diagnosen effektiv durchsetzen und, gegebenenfalls, welche Auswirkungen dies auf Schuld und Strafe hat, wird Gegenstand der Beweiswürdigung resp. der rechtlichen Beurteilung im neuen Verfahren sein.
Bundesgericht, Urteil 6B_1451/2019 vom 11.6.2020
Verwaltungsrecht
Einstellung der Sozialhilfe nur per Verfügung
Das Sozialamt muss einem Sozialhilfeempfänger die Einstellung der Leistungen schriftlich, begründet und mit einer Rechtsmittelbelehrung eröffnen.
Sachverhalt:
Der Kläger wurde vom Sozialamt Derendingen SO seit 2017 mit wirtschaftlicher Sozialhilfe unterstützt. Das Amt stellte die Unterstützung von Mitte 2018 bis Anfang 2019 ohne formelle Verfügung ein. Der Kläger wehrte sich dagegen erfolglos vor dem Departement des Inneren. Erst der Weiterzug ans Verwaltungsgericht brachte die Wende: Das Sozialamt muss ihm die Sozialhilfe nachträglich auszahlen.
Aus den Erwägungen:
2.3 Die Sozialhilfe bezweckt die Existenzsicherung. Sie fördert die wirtschaftliche und persönliche Selbständigkeit und unterstützt die berufliche und gesellschaftliche Integration (§ 147 Abs. 2 SG). Sozialhilfe wird auf der Basis einer individuellen Zielvereinbarung (Hilfeplan) gewährt und berücksichtigt angemessen die persönlichen Verhältnisse (§ 148 Abs. 1 SG). Sie setzt aktive Mitwirkung der hilfesuchenden Person voraus und beruht auf dem Prinzip der Gegenleistung.
Die Bemessung der Sozialhilfeleistungen richtet sich gemäss § 152 Abs. 1 SG grundsätzlich nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für öffentliche Sozialhilfe (Skos-Richtlinien). Eine Dienstleistung oder Sozialleistung kann befristet verweigert, gekürzt oder in schweren Fällen eingestellt werden, wenn die Verpflichtungen nach § 17 in unentschuldbarer Weise missachtet werden. Die betroffene Person muss vorher schriftlich auf die Rechtsfolgen hingewiesen werden (§ 165 SG).
2.5 Das Sozialamt hat die Ausrichtung von Sozialhilfeleistungen an den Beschwerdeführer für die Monate September 2018 bis und mit Januar 2019 eingestellt. Die Einstellung der Zahlungen hat Verfügungscharakter, wurde hiermit doch das Rechtsverhältnis mit dem Beschwerdeführer gemäss der Dauerverfügung vom 1. März 2017, wonach dem Beschwerdeführer wirtschaftliche Sozialhilfe in Höhe von monatlich 2036 Franken (inkl. Mietzins) zusteht, einseitig abgeändert. Daran ändert nichts, dass die Verfügung bloss konkludent ergangen ist.
Entsprechend hätte das Sozialamt dem Beschwerdeführer diese Anordnung schriftlich, begründet und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen eröffnen müssen (§ 21 Abs. 1 VRG). Zudem wäre vor Erlass der Verfügung ein Verwaltungsverfahren durchzuführen gewesen, in dessen Rahmen sich der Beschwerdeführer zur geplanten Einstellung der Zahlungen hätte äussern können (§ 23 Abs. 1 VRG). Wie die Vorinstanz richtig festgestellt hat, wurden die Zahlungen ohne Rechtstitel de facto eingestellt. Dies geschah in Missachtung grundlegender Verfahrensvorschriften und damit rechtswidrig. Entsprechend hätte das Sozialamt die Ausrichtung der Sozialhilfe nicht einstellen dürfen.
2.6 Der Anspruch des Beschwerdeführers auf Sozialhilfe gemäss der Verfügung vom 1. März 2017 blieb auch im Zeitraum vom September 2018 bis Januar 2019 vollumfänglich bestehen. Vor diesem Hintergrund blieb kein Raum für eine retrospektive Beurteilung des sozialhilferechtlichen Bedarfs. Es ist offensichtlich, dass ein Sozialhilfebezüger zur Deckung seines Bedarfs neue Geldquellen erschliessen muss, wenn ihm die Sozialhilfe einfach nicht mehr ausbezahlt wird.
Entsprechend kann dem Beschwerdeführer nicht entgegengehalten werden, dass er seinen Bedarf deckende Geldeingänge auf seinem Bankkonto hatte. Daran ändert auch das in der Sozialhilfe zu beachtende Subsidiaritätsprinzip nichts. Sofern beim Beschwerdeführer die Voraussetzungen für die Ausrichtung von Sozialhilfe nicht mehr erfüllt gewesen wären, wäre entsprechend ein Verfahren auf Überprüfung der Einkommenssituation einzuleiten gewesen. Das ist nicht passiert. Dem Beschwerdeführer wird denn auch seit Februar 2019 wieder unverändert Sozialhilfe gemäss der Verfügung vom 1. März 2017 ausbezahlt. Folglich hätte das Sozialamt die rückwirkende Ausrichtung der Sozialhilfe für den Zeitraum Oktober 2018 bis und mit Januar 2019 nicht verweigern dürfen.
Verwaltungsgericht Solothurn, Urteil VWBES.2019.435 vom 16.6.2020
Baupolizei darf Fertigstellung von Häusern anordnen
Ist eine bewilligte Überbauung im Rohbau bereits realisiert, allerdings wegen eines länger andauernden Unterbruchs der Bauarbeiten nicht vollendet, kann die Baupolizeibehörde mit einer Verfügung eine Frist ansetzen, um die Bauarbeiten zu vollenden, bevor die Baubewilligung verfällt.
Sachverhalt:
Am 3. Februar 2016 erteilte die Baubewilligungsbehörde der A GmbH die Baubewilligung für 15 Mehrfamilienhäuser und vier Einstellhallen mit Zufahrt. In der Folge wurde die Überbauung im Rohbau realisiert. Daraufhin ruhten die Bauarbeiten. Im Oktober 2019 gewährte der Gemeinderat der A GmbH in das rechtliche Gehör, als er im Sinn eines «Vorbescheids» den Entwurf für eine Fristansetzung zur Fertigstellung von Bauten zustellte. Darin stellte er in Aussicht, der A GmbH werde er Frist zur Fertigstellung der unvollendeten Gebäude innerhalb eines Jahres ansetzen. Die A GmbH liess sich nicht vernehmen. Daraufhin verfügte der Gemeinderat in materieller Hinsicht zur Hauptsache, dass die A GmbH das bewilligte Bauvorhaben samt Bauabnahme innerhalb eines Jahres zu Ende zu führen habe. In Ziffer 3 der Verfügung ergänzte die Behörde ihre Baubewilligung vom 3. Februar 2016 dahingehend, dass die Baufreigabe für weitere Etappen erst erteilt werde, wenn die Bauherrschaft ihr einen Finanzierungsnachweis vorlege. Dagegen liess die A GmbH Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen.
Das Kantonsgericht hiess die Beschwerde in Bezug auf den in Ziffer 3 der Verfügung verankerten Finanzierungsnachweis gut, im Übrigen aber ab.
Aus den Erwägungen:
3.5.1 Im vorliegenden Fall ist von der glaubhaft dargestellten Feststellung der Vorinstanz auszugehen, dass die Bauarbeiten auf dem streitbezogenen Gelände seit längerer Zeit ruhen. Die Vorinstanz spricht von einer Dauer von über zwei Jahren. Dies betrifft insbesondere die Bauarbeiten auf den interessierenden Grundstücken. Diese vorinstanzliche Sachdarstellung in der Vernehmlassung blieb seitens der Beschwerdeführerin unwidersprochen.
3.5.2 Als erstellt gelten kann ebenso die Feststellung, dass die drei Mehrfamilienhäuser auf den erwähnten Grundstücken erst im Rohbau stehen.
3.6.1 In Ziff. 1 des Rechtsspruchs der angefochtenen Verfügung vom 27. November 2019 hat die Vorinstanz die Beschwerdeführerin aufgefordert, das Bauvorhaben der Etappe 1, beinhaltend die Häuser Nr. 6, 7 und 15, auf den erwähnten Grundstücken innerhalb eines Jahres, spätestens jedoch bis 31. März 2021, zu vollenden.
3.6.2 Fraglich ist, ob die Vorinstanz mit Ziff. 1 des Rechtsspruchs verpflichten wollte («aufgefordert»), im Sinn eines Bauzwangs bzw. einer positiven Baupflicht die drei Rohbauten «zu Ende zu führen» (vgl. vorne E. 3.2). Zudem fällt auf, dass die Folge eines Verstosses gegen die Aufforderung nicht in Ziff. 1 genannt wird, sondern diese – zusammen mit weiteren möglichen und angedrohten Rechtsfolgen – in Ziff. 2 erwähnt wird. Aber für einen solchen Bauzwang im Sinn einer behördlichen Befugnis, die Fertigstellung von Baumassnahmen befehlen zu können, kennt das kantonale Recht keine Grundlage. Folge der Fristversäumnis gemäss § 201 Abs. 1 lit. b PBG ist einzig das Erlöschen der Baubewilligung, für den Fall, dass innert der angesetzten Frist die Bauarbeiten nicht vollendet werden. Eine eigentliche Baupflicht ist in dieser Bestimmung nicht enthalten; vielmehr ist der Inhaberin einer Baubewilligung die Möglichkeit einzuräumen, innerhalb einer Frist die unterbrochenen Bauarbeiten zu vollenden. Nutzt sie die Frist nicht und vollendet die unterbrochenen Arbeiten nicht, erlischt die Baubewilligung
3.6.3 Gegen einen solchen Bauzwang spricht jedoch, dass der angefochtene Entscheid mit «Fristansetzung zur Fertigstellung von Bauten» überschrieben ist. Dies und der Umstand, dass sich die Vorinstanz ausdrücklich auf § 201 Abs. 1 lit. b PBG berief, lassen den Schluss zu, dass sie einzig im Sinn dieser Bestimmung eine entsprechende Frist (von einem Jahr, bis spätestens 31.3.2021) zur Vollendung der unterbrochenen Bauarbeiten festsetzen wollte. Diese Ansicht untermauert die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung. Davon ging im Ergebnis auch die Beschwerdeführerin aus, welche die Anwendung dieser Bestimmung aus anderen Gründen ablehnt.
3.7 In Anbetracht der vorangegangenen Erwägungen ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen für ein Vorgehen nach § 201 Abs. 1 lit. b PBG erfüllt sind. Deshalb ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz der Beschwerdeführerin eine Frist gesetzt hat, innert welcher sie die bewilligten Gebäude zu vollenden habe, um so der im Gesetz verankerten Rechtsfolge, namentlich dem Erlöschen der Baubewilligung, zu entgehen.
Kantonsgericht Luzern, Urteil 7H 19 305 vom 9.04.2020
Zivilprozessrecht
Anwältin wegen Nichterscheinens gebüsst
Eine Ordnungsbusse ist gerechtfertigt, wenn eine Anwältin nach bewilligtem Verschiebungsgesuch am Vortag der Schlichtungsverhandlung ohne Angabe eines Entschuldigungsgrunds ausrichten lässt,
sie werde nicht teilnehmen.
Sachverhalt:
Eine Rechtsanwältin blieb einer Schlichtungsverhandlung fern. Die Abmeldung erfolgt einen Tag zuvor telefonisch über ihre Mitarbeiterin. Ein solches Vorgehen kann laut Kantonsgericht nicht als entschuldigtes Nichterscheinen gewertet werden. Eine Ordnungsbusse von 300 Franken sei somit gerechtfertigt.
Aus den Erwägungen:
3. Die Befugnis, das Verhalten einer Partei im Prozess disziplinarisch zu ahnden, steht nicht nur dem «Gericht» (vgl. Art. 128 Abs. 1 und 2 der Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO; SR 272]), sondern auch der Schlichtungsbehörde zu (BGE 141 III 265, E. 3.2; Schrank, Das Schlichtungsverfahren nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Basel 2015, S. 144 Rz 243).
5.1 Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Säumnis einer Partei an der Schlichtungsverhandlung (Art. 206 ZPO) disziplinarisch geahndet werden kann, wird in der Lehre kontrovers diskutiert (vgl. dazu die Übersicht der diversen Meinungen und Begründungen bei Schrank, a.a.O., S. 145 ff. Rz 245–249).
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist – angesichts der Bedeutung der persönlichen Anwesenheit der Parteien (bzw. im Falle von Art. 204 Abs. 3 ZPO ihrer Vertretung) für die Durchführung einer wirksamen Schlichtung (vgl. dazu BGE 140 III 70, E. 4.3) – nicht von vorherein ausgeschlossen, dass die Schlichtungsbehörde eine Partei, die der Schlichtungsverhandlung ohne Grund fernbleibt und damit nicht nur prozessual säumig ist, sondern gleichzeitig ihre Pflicht zum persönlichen Erscheinen (Art. 204 Abs. 1 ZPO) verletzt, gemäss Art. 128 Abs. 1 oder 3 ZPO bestraft. Dies gilt namentlich für die beklagte Partei, die ansonsten durch ihr Nichterscheinen den gesetzgeberischen Willen, dass ein Einigungsversuch stattfinden soll, sanktionslos vereiteln könnte.
Eine disziplinarische Ahndung mit Ordnungsbusse setzt aber immerhin voraus, dass das Nichterscheinen zur Schlichtungsverhandlung eine Störung des Geschäftsgangs gemäss Art. 128 Abs. 1 ZPO respektive eine bös- oder mutwillige Prozessführung nach Art. 128 Abs. 3 ZPO darstellt (BGE 141 III 265, E. 4.3 und 5.1; BGer-Urteil 4A_416/2019, E. 3.3 vom 5.2.2020). Sodann darf gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung das Fernbleiben von der Schlichtungsverhandlung nur ausnahmsweise und nicht systematisch mit einer Ordnungsbusse geahndet werden; es müssen qualifizierende Umstände vorliegen (BGE 141 III 265 E. 5.4; BGer-Urteil 4A_500/2016 vom 9.12.2016, E. 2 f.).
5.2 Die Säumnis einer oder sogar beider Parteien führt für sich allein genommen nicht zu einer Störung des Geschäftsgangs (Art. 128 Abs. 1 ZPO) im Sinne einer Verlängerung oder Komplizierung des Verfahrens. Der Umstand, dass ein unnötiger Aufwand (Vorbereitung der Schlichtungsverhandlung) verursacht wurde, kann als solcher noch nicht als Störung des Geschäftsgangs erachtet werden (ausführlich dazu BGer 4A_500/2016 vom 9.12.2016, E. 3).
5.3 Nach Art. 128 Abs. 3 ZPO kann eine Ordnungsbusse bei bös- oder mutwilliger Prozessführung verhängt werden. Mut- oder böswillige Prozessführung ist zurückhaltend anzunehmen. Sie ist zu bejahen, wenn neben dem unentschuldigten Fernbleiben als solchem zusätzlich ein vorsätzliches, sachlich nicht leicht zu rechtfertigendes prozessuales Fehlverhalten einer Partei vorliegt (vgl. Urteil Obergericht Zürich RU120066 vom 3.12.2012, E. 2.2, in: ZR 2012 Nr. 91). Als mutwilliges Verhalten kann etwa gewertet werden, wenn eine Partei einen Verhandlungstermin verschieben lässt und dann gleichwohl unentschuldigt nicht erscheint (vgl. BGE 141 III 265, E. 5.1), wenn eine Partei trotz Einverständnis zu einem von zwei vorgeschlagenen Terminen erst am Verhandlungstag erklärt, sie werde aus grundsätzlichen Überlegungen weder jetzt noch später an einer Schlichtungsverhandlung teilnehmen (vgl. Urteil Kantonsgericht St. Gallen BE.2014.27 vom 29.8.2014, E. 3c), oder wenn eine Partei, welcher die Vorladung auf Wunsch zweimal zugestellt wurde, trotz Kenntnis des Verhandlungstermins ohne sachliche Gründe der Verhandlung fernbleibt (vgl. Urteil Obergericht Zürich RU120066 vom 3.12.2012, E. 2.2, in: ZR 2012 Nr. 91).
5.4 Dem Schlichtungsverfahren kommt im schweizerischen Zivilprozess eine wichtige Bedeutung zu. Dies gilt allgemein, ganz besonders aber bei Streitigkeiten aus Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen, für welche paritätische Schlichtungsbehörden vorgesehen sind (Art. 200 Abs. 1 ZPO). Zwar traf die Beklagte aufgrund ihres ausserkantonalen Wohnsitzes keine persönliche Erscheinungspflicht an der Schlichtungsverhandlung, jedoch hätte sie sich gemäss dem klaren Wortlaut des Gesetzes an der Verhandlung (von ihrer Rechtsanwältin) vertreten lassen müssen (vgl. Art. 204 Abs. 3 lit. a ZPO). Für die Vertretung gilt in Bezug auf Erscheinungspflicht, Säumnis etc. in solchen Fällen dasselbe wie für die Partei (vgl. Gozzi, Basler Komm., 3. Aufl. 2017, Art. 147 ZPO N 8).
Nicht als entschuldigt gelten kann, wer sein Fernbleiben ohne Angabe eines hinreichenden Entschuldigungsgrundes (wie etwa Unfall oder plötzliche Erkrankung) ankündigt. Dies deshalb nicht, weil die Teilnahme an der Schlichtungsverhandlung weder fakultativ noch optional ist; sie steht nicht im Belieben der Parteien. Es geht deshalb nicht an, sich einfach selber zu «entschuldigen», d.h. sich selber von der Verhandlung zu dispensieren bzw. sich «abzumelden», wie dies vorliegend die Rechtsvertreterin der Beklagten tat. Ein solches Vorgehen lässt sich auch nicht mit dem Umstand begründen oder gar rechtfertigen, eine gütliche Einigung habe ihr mehr als unwahrscheinlich geschienen, da bereits vor Einreichung des Schlichtungsgesuchs versucht worden sei, eine gütliche Einigung herbeizuführen, da die Differenzen zu gross seien und da auch in anderen Verfahren keine gütliche Einigung erzielt worden sei. Die Ansicht, eine Einigung mit der Gegenpartei sei unwahrscheinlich oder unmöglich, entbindet nicht von der Erscheinungspflicht.
Wenn eine Rechtsanwältin nach einem bewilligten Verschiebungsgesuch am Vortag der Schlichtungsverhandlung ohne Angabe eines hinreichenden Entschuldigungsgrundes ausrichten lässt, sie werde an der Verhandlung nicht teilnehmen, liegen qualifizierte Umstände im Sinne der Rechtsprechung vor, welche das Aussprechen einer Ordnungsbusse gestützt auf Art. 128 Abs. 1 und 3 ZPO rechtfertigen (vgl. oben E. 5.3; vgl. auch Koller, Die mietrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2015, in ZBJV 2016, S. 812–814).
5.5 Eine wesentliche Voraussetzung für das Ausfällen einer Ordnungsbusse ist nach den auch im Zivilverfahren geltenden Grundsätzen der Verhältnismässigkeit und des Handelns nach Treu und Glauben sowie mit Blick auf das rechtliche Gehör der Parteien deren vorgängige Androhung (vgl. BGE 141 III 265, E. 5.2).
Vorliegend wurde die Beklagte bzw. deren Vertreterin bereits mit der Vorladung vom 9. August 2019 ausdrücklich auf die Möglichkeit der Ausfällung einer Ordnungsbusse bis zu 500 Franken bei unentschuldigtem oder ungenügend entschuldigtem Ausbleiben der Parteien oder bei mutwilliger Prozessführung hingewiesen. Damit ist den oben erwähnten Grundsätzen sowie, entgegen der Auffassung der Beklagten, auch dem rechtlichen Gehör Genüge getan (vgl. BGE 141 III 265, E. 5.3 f.; Koller, a.a.O., S. 814). Der Anwältin der Beklagten musste klar sein, dass das «Abmelden» von der Schlichtungsverhandlung, wie sie es am Vortag der Verhandlung durch eine Mitarbeiterin telefonisch ausrichten liess, nicht als entschuldigtes Nichterscheinen gewertet werden kann (ausführlich dazu oben E. 5.4).
5.6 Zusammenfassend ist die vorliegend ausgefällte Ordnungsbusse von 300 Franken nicht zu beanstanden.
Kantonsgericht Luzern, Urteil 1C 19 28 vom 6.3.2020