Familienrecht
Verfügung gültig bis zur Änderung durch Scheidungsgericht
Eheschutzmassnahmen behalten ihre Wirkung, bis sie vom Scheidungsgericht abgeändert werden. Dies gilt auch dann, wenn der Eheschutzentscheid erst nach der Anhängigmachung einer Scheidung ergeht. Das Scheidungsgericht ist nur bei rechtskräftig entschiedenen Eheschutzmassnahmen für die Abänderung zuständig.
Sachverhalt:
Ein Ehepaar aus dem Kanton Luzern stritt im Eheschutzverfahren um Alimente. Der Mann reichte eine Scheidungsklage ein und machte vorsorglich Anträge zum Unterhalt. Das Scheidungsgericht trat darauf allerdings nicht ein.
Aus den Erwägungen:
3.3 Für die Zeit vor Einreichung eines Scheidungsbegehrens ist grundsätzlich das Eheschutzgericht zuständig, für die Zeit danach das Scheidungsgericht. Diese Regel wurde gelegentlich so ausgelegt, dass ein Eheschutzentscheid nur dann fortwirke, wenn er vor Beginn des Scheidungsverfahrens getroffen worden sei und wenn danach kein Massnahmegesuch gestellt werde (Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 5A_139/2010 vom 13. Juli 2010, E. 2.3). Diese Auffassung ist nun aber berichtigt worden: Eheschutzmassnahmen behalten ihre Wirkung, bis sie vom Scheidungsgericht abgeändert werden. Das trifft auch dann zu, wenn der Eheschutzentscheid erst ergeht, nachdem die Scheidung anhängig gemacht wurde.
Vorausgesetzt wird freilich, dass kein Kompetenzkonflikt entsteht (BGE 138 III 646, E. 3.3.2). Ein solcher Konflikt könnte sich schon ergeben, wenn die vom Eheschutzgericht zu regelnden Punkte in einem Massnahmeverfahren erneut aufgegriffen werden. Damit fällt aber die Kompetenz des Eheschutzgerichts noch nicht dahin. Weil es zuerst angerufen wurde, bleibt es zuständig. Das bei ihm eingereichte Gesuch entfaltet eine Sperrwirkung: Ein identisches Anliegen auf Regelung des Getrenntlebens kann nicht mehr anderweitig vorgebracht werden (Art. 64 der Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO; SR 272]; Vetterli, in: FamKomm Scheidung [Hrsg. Schwenzer/Fankhauser], 3. Aufl. 2017, Vorbemerkungen zu Art. 175–179 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs [ZGB; SR 210] N 8).
Zu beachten ist zudem, dass das Scheidungsgericht Unterhaltszahlungen als vorsorgliche Massnahmen nach Art. 276 ZPO auch rückwirkend für das dem Gesuch um Anordnung vorsorglicher Unterhaltszahlungen vorangehende Jahr anordnen kann. Das ist indessen nur möglich, wenn nicht bereits ein Eheschutzverfahren durchgeführt oder noch hängig ist (Leuenberger, in: FamKomm Scheidung [Hrsg. Schwenzer/Fankhauser], 3. Aufl. 2017, Art. 276 ZPO N 6 mit weiteren Hinweisen).
In seinem Urteil vom 5. März 2019 bestätigte das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung, wonach ein Eheschutzverfahren durch die Einleitung der Scheidung nicht hinfällig wird. Das Eheschutzgericht bleibt zuständig für Massnahmen bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidung, selbst wenn es darüber erst nach diesem Zeitpunkt entscheidet. Das Bundesgericht konkretisierte, die Eheschutzmassnahmen wirkten über den Entscheid – und damit auch über die Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens – hinaus, bis der Scheidungsrichter etwas anderes verfüge.
Mangels im Scheidungsverfahren gestellter Massnahmebegehren würden die zu treffenden Entscheide über die Einleitung des Scheidungsverfahrens hinaus Geltung haben, bis der Scheidungsrichter andere Anordnungen treffe (Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 5A_316/2018 vom 5. März 2019, E. 3). Die neuste bundesgerichtliche Rechtsprechung ist jedoch nicht so zu verstehen, dass das Eheschutzgericht lediglich bis und mit dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Scheidung entscheiden darf, sofern die vom Eheschutzgericht zu regelnden Punkte auch im Massnahmeverfahren geltend gemacht werden. Identische Begehren können vor dem Scheidungsrichter wegen der Sperrwirkung des Eheschutzverfahrens nicht geltend gemacht werden. Eine andere Auslegung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung würde nicht nur gegen Art. 64 ZPO verstossen, sondern auch im Widerspruch zur Untersuchungsmaxime stehen.
Sowohl auf das Eheschutzverfahren wie auch auf das Massnahmeverfahren ist das summarische Verfahren anwendbar (Art. 271 lit. a und Art. 276 i.V.m. Art. 248 lit. d ZPO), womit in beiden Verfahren der Untersuchungsgrundsatz gilt (Art. 272 ZPO). Die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweiserhebung hat somit von Amtes wegen zu erfolgen (Art. 55 Abs. 2 ZPO) und das Gericht hat neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung zu berücksichtigen (Art. 229 Abs. 3 ZPO). Die Untersuchungsmaxime müsste vom Eheschutzgericht aber unberücksichtigt bleiben, wenn es – bei einem erst nach Einleitung der Scheidung ergehenden Eheschutzentscheid – Eheschutzmassnahmen lediglich bis und mit dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Scheidung anordnen und deshalb auch nur die bis zu diesem Zeitpunkt vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel berücksichtigen könnte.
Von daher ist festzuhalten, dass das Eheschutzgericht auch bei Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens über die Eheschutzmassnahmen nach Art. 176 ZGB zu entscheiden hat, selbst wenn ein Begehren um vorsorgliche Massnahmen gestellt wurde. Dabei hat es neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Entscheidfindung zu berücksichtigen. Das Scheidungsgericht ist für den Erlass von vorsorglichen Massnahmen nach Art. 276 ZPO nur zuständig für die Abänderung der rechtskräftig entschiedenen Eheschutzmassnahmen oder für den Erlass von Massnahmen, welche nicht Gegenstand des Eheschutzverfahrens waren.
3.4 Mit Entscheid vom 4. Februar 2019 hat die Einzelrichterin des Bezirksgerichts Eheschutzmassnahmen erlassen und den Gesuchsteller zur Bezahlung eines Unterhaltsbeitrages an die Gesuchsgegnerin verpflichtet. Über die gegen diesen Entscheid erhobene Berufung des Gesuchstellers hat das Kantonsgericht noch nicht entschieden.
Mit seiner Scheidungsklage hat der Gesuchsteller eine vorsorgliche Massnahme bezüglich Unterhalt beantragt und somit vor dem Scheidungsgericht ein identisches Anliegen vorgebracht. Nachdem das Eheschutzgericht aber zuerst angerufen wurde und das bei ihm eingereichte Gesuch eine Sperrwirkung entfaltet hat, bleibt das Eheschutzgericht nach dem unter Erwägung 3.3 vorstehend Gesagten zuständig. Das Vorbringen des Gesuchstellers, das Bezirksgericht beziehungsweise das Scheidungsgericht habe die Trennungsfolgen für die Dauer des Scheidungsverfahrens zu bestimmen, geht somit fehl.
Die Berufung ist somit abzuweisen. Dem Gesuchsteller steht es aber offen, für die vom Eheschutzrichter angeordneten Massnahmen zu gegebener Zeit bei veränderten Verhältnissen beim Massnahmerichter ein Gesuch um Abänderung zu stellen.
Kantonsgericht, Luzern, Entscheid 3B 19 24 vom 23.7.2019
Besuchsrecht notfalls mit Hilfe der Polizei
Verhindert eine Mutter konsequent Kontakte zwischen dem Kind und seinem Vater, kann das Gericht die Polizei ermächtigen, das Kind abzuholen und zum Vater zu bringen.
Sachverhalt:
Der knapp 11-jährige G lebt bei seiner Mutter. Seit über zweieinhalb Jahren haben er und sein Vater keinen Kontakt mehr, obwohl der Vater das möchte. Grund dafür ist einzig die ablehnende Haltung der Mutter.
Aus den Erwägungen:
2.4.3.2 Der Bezirksrat hat für das laufende Jahr zwei Erinnerungskontakte angeordnet. Der Rechtsvertreter des Vaters beantragt demgegenüber wenigstens vier Kontakte pro Jahr; die Kindesvertreterin hält dagegen zwei jährliche Erinnerungskontakte für angebracht, während der Rechtsvertreter der Mutter sich dazu nicht konkret äusserte, sondern die Frage der Realexekution in den Vordergrund stellte. Die Kindesvertreterin betonte wiederholt die Wichtigkeit der Erinnerungskontakte als Instrument des Erhalts der psychischen Gesundheit von G und hob gleichzeitig hervor, dass diese nicht dem Beziehungsaufbau geschuldet seien.
Dies mag für den Vater enttäuschend sein und ihn in seiner Meinung, er sei quasi das Opfer der Mutter, bestärken. Allerdings muss auch ihm klar sein, dass in der gegenwärtigen Situation ein Kontaktaufbau im Hinblick auf eine Wiederaufnahme einer persönlichen Beziehung unrealistisch ist; notwendig ist zum Wohl von G, dass er erfahren und erleben kann, dass seine Ängste vor dem Vater unbegründet sind.
Wie mancher Erinnerungskontakt nötig sein wird, damit G sein heutiges Bild vom Vater mit der Realität überprüft haben wird, lässt sich nicht vorhersagen. Es sind daher für das laufende Jahr zwei und für das kommende Jahr vier Erinnerungskontakte anzuordnen. Diese dienen wie ausgeführt nicht primär dem vom Vater gewünschten Beziehungsaufbau. Dass ein solcher für die Zukunft aber sehr wohl erwünscht wäre, steht ausser Frage, ändert am Zweck des Kontakts aber nichts.
2.4.4.1 Der Bezirksrat hat der Mutter die Weisung erteilt, dafür besorgt zu sein, dass G. an allen im Zusammenhang mit den Erinnerungskontakten stehenden Terminen teilnimmt, unter Androhung von Strafe gemäss Art. 292 StGB sowie der Realvollstreckung.
Die Mutter will diese Weisung aufgehoben haben, jedenfalls was die Strafandrohung nach Art. 292 StGB und die Realvollstreckung angeht. Der Rechtsvertreter des Vaters bezweifelt, dass die Mutter Hand zur Durchführung der Erinnerungskontakte bieten wird, und beantragt die Ausweitung der Kompetenzen der Beiständin.
Die Kindesvertreterin erklärte dazu, es sei ihr nicht gelungen, G den Sinn und Zweck der Erinnerungsbesuche deutlich zu machen, was aber angesichts seines Alters und seiner Situation verständlich sei. Von der Mutter als erwachsener und vernünftiger Person wäre hingegen diese Einsicht zu verlangen. Wie bereits mehrfach ausgeführt ist die Mutter aber nicht gewillt, G auch nur zu Erinnerungskontakten zu motivieren. Sie lehnt dies mit dem Hinweis auf die Weigerungshaltung von G ab. Bei diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Mutter das Wesen und den Sinn der angeordneten Erinnerungskontakte G ohne äusseren Druck oder Zwang zu erklären und ihn dazu zu motivieren versuchen wird. Die vom Bezirksrat erlassene Weisung verbunden mit der Strafandrohung von Art. 292 StGB ist daher zu bestätigen.
2.4.4.2 Der Rechtsvertreter des Vaters beantragt wie erwähnt zur Durchführung der Erinnerungskontakte den Ausbau der Kompetenzen der Beiständin. Nach Art. 236 Abs. 3 ZPO i.V.m. Art. 337 Abs. 1 ZPO kann das Gericht auf Antrag der obsiegenden Partei – in Kinderbelangen auch von Amtes wegen (Art. 296 Abs. 3 ZPO) – Vollstreckungsmassnahmen anordnen.
Aufgrund der von der Mutter eingenommenen Weigerungshaltung kann nicht angenommen werden, dass sie G. nur schon zu einem Erstgespräch mit Frau Dr. F bringen wird, welche die Erinnerungskontakte durchzuführen sich bereit erklärt hat und welche auch bereit ist, das Erstgespräch mit G in den Räumlichkeiten der Kesb abzuhalten. Die Strafandrohung gemäss Art. 292 StGB ist allein ebenfalls nicht zielführend, da damit noch kein Erstgespräch zustande kommt. Im Übrigen ist die Durchführung dieser Erinnerungskontakte dringlich, da seit mehr als zweieinhalb Jahren kein Kontakt mehr zwischen Vater und Sohn stattgefunden hat und der zunehmende Zeitablauf die Ängste nicht verkleinert, sondern vergrössert, und die Weigerungshaltung zementiert.
Damit das vorgesehene Erstgespräch überhaupt möglich wird, ist die Kantonspolizei Zürich unter Hinweis auf Art. 343 Abs. 1 lit. d ZPO i.V.m. § 147 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 GOG zu beauftragen, nach einer vorgängig erfolgten terminlichen Absprache G vorerst zum vorgesehenen Erstgespräch und hernach zu den anberaumten Erinnerungskontakten zu bringen, sofern sich die Mutter weigern sollte, G das Erstgespräch oder die Erinnerungskontakte zu ermöglichen.
Die Kantonspolizei Zürich ist hierbei zu ermächtigen, G dort abzuholen, wo er sich aufhält, und zu den vereinbarten Erinnerungskontakten zu bringen und die erforderlichen Zwangsmassnahmen anzuwenden. Es ist darauf hinzuweisen, dass dieser Entscheid mit seiner Eröffnung vollstreckbar wird, da einer Beschwerde an das Bundesgericht keine aufschiebende Wirkung zukommt (Art. 103 Abs. 1 BGG).
2.5 Als vorläufiges Fazit ist festzuhalten, dass Dispositiv Ziffer I des Entscheides des Bezirksrates vom 8. März 2019 grundsätzlich zu bestätigen und insoweit zu ergänzen ist, als für das Jahr 2020 vier Erinnerungsbesuche angeordnet werden. Dispositiv Ziffer II ist durch die formulierte Strafdrohung von Art. 292 StGB, «Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet, wird mit Busse bestraft», und die Ermächtigung an die Kantonspolizei Zürich, G dort abzuholen, wo er sich aufhält, und zu den vereinbarten Erinnerungskontakten zu bringen, und die dafür erforderlichen Zwangsmassnahmen anzuwenden, zu ergänzen.
Obergericht Zürich, Beschluss und Urteil PQ190029-O/U vom 2.9.2019
Mietrecht
Wirtschaftliche Verbindung reicht für Eigenbedarf
Die Mietkündigung wegen Eigenbedarfs setzt keine Identität zwischen dem Eigentümer und den Firmen voraus, die den fraglichen Raum beanspruchen. Eine enge wirtschaftliche Verbindung reicht aus.
Sachverhalt:
Der Beklagte ist Mieter eines Trainingsraums in Luzern. Mitte Dezember 2015 kündigte der Vermieter das Mietverhältnis auf Ende Juni 2016 und begründete dies mit Eigenbedarf. Der Beklagte wehrte sich gegen die Kündigung. Das Bezirksgericht erklärte die ausgesprochene Kündigung als ungültig. Das Kantonsgericht Luzern sieht es anders.
Aus den Erwägungen:
5.4.3 Der Kläger führte in der Klagebegründung aus, er habe die Liegenschaft in Luzern im Rahmen einer Steigerung und mit der klaren Absicht erworben, dort Raumreserven für seine Firmen zu schaffen. Er betreibe zurzeit Betriebsstätten der E AG mit rund 130 Vollzeitmitarbeitern. Zudem sei er Haupteigentümer eines Fitnesszentrums, das zusätzliche Räume benötige. Seit längerem sei es sein Ziel, die Logistik, das Marketing und den Einkauf seiner Unternehmungen am gleichen Ort zentral zu führen, aus Platznotgründen wie auch aus wirtschaftlichen Gründen. Zwischen ihm und den Firmen der C-Gruppe bestehe wirtschaftliche Identität.
5.4.4 Aus den aufgelegten Urkunden geht hervor, dass zahlreiche Unternehmen zur C-Gruppe gehören, darunter die E AG. Der Kläger als Vermieter ist mit einem Anteil von 20 Prozent der Aktien der B AG weder alleiniger Aktionär noch Mehrheitsaktionär dieser Gesellschaft. Indes ist er als Präsident des Verwaltungsrats der D AG, als Präsident und Vorsitzender der Geschäftsleitung der E AG sowie als Verwaltungsratspräsident weiterer Firmen der C-Gruppe verantwortlich für das Management, die strategische Planung, die Organisation, die Ernennung der Führungskräfte, die Finanzplanung und die Finanzkontrolle sowie für die Überwachung der Betriebe.
Damit ist der Kläger stark mit diesen Gesellschaften verbunden und hat massgeblichen Einfluss auf diese, sodass deren wirtschaftlichen Interesse mit seinen eigenen einhergehen. Unter diesen Umständen und weil der Begriff des Eigenbedarfs für die Frage, ob eine Kündigung legitim ist oder nicht, nicht eng zu fassen ist, ist die Geltendmachung von Eigenbedarf für Firmen der C-Gruppe zulässig.
5.5 Zusammenfassend ist die Kündigung des Mietvertrags nicht missbräuchlich bzw. treuwidrig und somit gültig.
6.1 Der Beklagte verlangte in der Klageantwort (subeventualiter) die Erstreckung des Mietverhältnisses um drei Jahre. Ob und wie lange das Mietverhältnis zu erstrecken ist, ergibt sich aus einer Gegenüberstellung der Mieter- und Vermieterinteressen. Bei der Interessenabwägung berücksichtigt die zuständige Behörde gemäss Art. 272 Abs. 2 OR insbesondere die Umstände des Vertragsschlusses und den Inhalt des Vertrags (lit. a), die Dauer des Mietverhältnisses (lit. b), die persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien und deren Verhalten (lit. c), einen allfälligen Eigenbedarf des Vermieters für sich, nahe Verwandte oder Verschwägerte sowie die Dringlichkeit dieses Bedarfs (lit. d) und überdies die Verhältnisse auf dem örtlichen Markt für Wohn- und Geschäftsräume (lit. e).
7.2 Der Beklagte begründet sein Erstreckungsbegehren im Wesentlichen damit, dass er in der betreffenden Räumlichkeit erfolgreich seit langer Zeit ein Geschäft betreibe. Aus dem über 13-jährigen Mietverhältnis habe eine besondere Standortverbundenheit resultiert, da seine Kunden überwiegend aus der näheren Umgebung kommen würden; durch einen Umzug an einen weiter entfernten Ort würde er einen grossen Teil seines Kundenstamms verlieren. Die Suche nach einem passenden Ersatzobjekt gestalte sich schwierig.
7.3 Wie dargelegt, dient die Erstreckung in erster Linie dazu, dem Mieter mehr Zeit einzuräumen, als er gemäss der ordentlichen Kündigungsfrist hätte, um ein Ersatzmietobjekt zu finden (vgl. auch BGer-Urteil 4A_705/2014 vom 8.5.2015, E. 5.2). Unter einer Härte im Sinne von Art. 272 Abs. 1 OR ist ein objektiv nachvollziehbares Betroffensein des Mieters zu verstehen, das über dem üblichen Mass der Unannehmlichkeiten liegt, die ein Wohnungs- oder Geschäftsraumwechsel durch Kündigung mit sich bringt. Nur Umstände, welche die Suche nach einem geeigneten Ersatzobjekt in der zur Verfügung stehenden Zeit erschweren oder verunmöglichen, können eine Härte begründen.
Der Mieter trägt für seine Härte die Beweislast. Ein Härtefall lässt sich vorab durch hinreichende, aber erfolglose Suchbemühungen dokumentieren. Zu den zumutbaren Suchbemühungen gehört namentlich die Suche nach Ersatzobjekten. Nach geltender Praxis wird vorausgesetzt, dass der Mieter nicht untätig bleibt, sondern sich sofort nach Erhalt einer Kündigung ernsthaft um andere Räume zu bemühen hat.
Vorliegend erfolgte die Kündigung am 14. Dezember 2015 per 30. Juni 2016. Aufgrund der 13-jährigen Dauer des Mietverhältnisses, des nachvollziehbar geschilderten aufgebauten Kundenstamms namentlich aus der nahen Umgebung sowie der ebenfalls nachvollziehbar geschilderten Schwierigkeit, innert der verbleibenden Zeit von sechseinhalb Monaten in einem näheren Umkreis eine für das Geschäft des Beklagten geeignete und finanziell tragbare Ersatzräumlichkeit zu finden, ist von einem Härtefall im dargelegten Sinne auszugehen.
Es besteht somit trotz des ausgewiesenen Eigenbedarfs des Klägers kein Anlass, dem Beklagten eine Erstreckung zu verweigern oder die Erstreckungsdauer zu reduzieren. Etwas anderes, als die Dauer der Erstreckung antragsgemäss auf drei Jahre und damit bis 30. Juni 2019 festzusetzen, würde im Übrigen bereits aufgrund der nunmehr gegebenen Zeitverhältnisse wenig Sinn machen. Das Mietverhältnis wird deshalb bis 30. Juni 2019 erstreckt.
8. Zusammenfassend ist die Kündigung in Gutheissung der Berufung des Klägers für gültig zu erklären und gleichzeitig das Mietverhältnis in Gutheissung des vor Bezirksgericht gestellten (Subeventual-)Antrags des Beklagten um drei Jahre und damit bis 30. Juni 2019 zu erstrecken.
Kantonsgericht Luzern, Entscheid 1B 18 38 vom 17.5.2019
Anwaltsrecht
Anwälte müssen für die Gerichte erreichbar sein
Anwälte verletzten das Gebot der sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung, wenn sie weder telefonisch noch per E-Mail erreichbar sind. Die Gerichte sind im übrigen nicht verpflichtet, mit Anwälten elektronisch zu kommunizieren.
Sachverhalt:
Ein Richter reichte bei der Anwaltskammer des Kantons St. Gallen eine Anzeige gegen einen Rechtsanwalt ein. Er monierte im Wesentlichen die fehlende Erreichbarkeit des Anwalts per Telefon oder E-Mail während Tagen oder Wochen über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg. Die Anwaltskammer eröffnete ein Disziplinarverfahren.
Aus den Erwägungen:
2. a) Anwälte sind verpflichtet, ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben (Art. 12 lit. a BGFA). Diese Generalklausel bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Anwalt und Klient, sondern auch auf das Verhalten des Anwalts gegenüber Behörden (BGE 130 II 270, E. 3.2). So gehört zu einer sorgfältigen Anwaltstätigkeit die Pflicht zur Führung einer Kanzlei. Diese hat zu gewährleisten, dass der Anwalt für seine Klientschaft und die Behörden erreichbar ist, und zwar zumindest telefonisch und postalisch.
Zudem hat der Anwalt – nebst entsprechenden Räumlichkeiten und Kenntlichmachung nach aussen durch ein auf die Kanzlei hinweisendes Praxisschild – bei Abwesenheit für eine Stellvertretung zu sorgen oder den Behörden seine vorübergehende Praxisschliessung mitzuteilen.
b) Rechtsanwalt X macht hinsichtlich des Vorwurfs der mangelnden Erreichbarkeit u.a. geltend, dass er das Kreisgericht und zuvor auch die Staatsanwaltschaft mehrfach aufgefordert habe, alle Mitteilungen an ihn auf elektronischem Weg zuzustellen. Er ist der Auffassung, dass Verfahrensbeteiligte für Mitteilungen von den Gerichten die Benutzung der elektronischen Zustellplattform verlangen können.
Wie sich die Pflicht zur Führung einer Kanzlei mit der zunehmenden Digitalisierung zukünftig in Einklang bringen lässt, wird sich weisen. Solange jedenfalls keine gesetzlich statuierte Pflicht zur elektronischen Kommunikation der Behörden und Gerichte mit den Parteien und deren Rechtsvertretern besteht, muss der betreffende Anwalt unter anwaltsrechtlichen Gesichtspunkten – unabhängig strafprozessualer Vorschriften – weiterhin zumindest telefonisch und postalisch innert nützlicher Frist erreichbar sein. Weder im Straf- und Zivilprozessrecht (vgl. Art. 86, 91 Abs. 3 und Art. 110 Abs. 2 StPO sowie Art. 130, 139 und 143 Abs. 2 ZPO) noch in der (u.a. gestützt auf Art. 445 StPO und Art. 400 Abs. 1 ZPO) vom Bundesrat erlassenen Verordnung über die elektronische Übermittlung im Rahmen von Zivil- und Strafprozessen sowie von Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren vom 18. Juni 2010 (VeÜ-SZS.; SR 272.1) findet sich eine bindende Regelung zur elektronischen Korrespondenz.
4. Insgesamt hat Rechtsanwalt X dadurch, dass er im August 2018 während fast zehn Tagen für das Untersuchungsamt telefonisch und im Zeitraum von Januar bis und mit März 2019 für das Kreisgericht weder telefonisch noch per E-Mail erreichbar gewesen ist, die Berufsregel der sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung (Art. 12 lit. a BGFA) mehrfach verletzt. Er ist hierfür nach Art. 17 Abs. 1 BGFA angemessen zu disziplinieren.
III./2. Angesichts dieser Bemessungsgründe erscheint eine Busse von 1000 Franken für den von Rechtsanwalt X begangenen mehrfachen Verstoss gegen das Gebot der sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung (Art. 12 lit. a BGFA) als angemessen.
Kantonsgericht St. Gallen, Entscheid AW.2019.24 vom 19.9.2019
Strafprozessrecht
Abweichendes Gutachten kein Revisionsgrund
Ein neues forensisch-psychiatrisches Gutachten mit einer abweichenden Diagnose stellt keinen Revisionsgrund für eine nachträgliche Anordnung einer Verwahrung dar, soweit es keine klaren Fehler des früheren Gutachtens aufzeigt.
Sachverhalt:
2014 verurteilte das Berner Regionalgericht einen Mann zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und vier Monaten, unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. Fünf Jahre später beantragte der Staatsanwalt bei den Strafkammern des Berner Obergerichts eine nachträgliche Verwahrung des Mannes, weil ihm ein neues Gutachten krankhafte Wahnstörungen attestierte.
Aus den Erwägungen:
2. b) Die nachträgliche Verwahrung kann gestützt auf ein neues Gutachten nur sehr restriktiv angeordnet werden. Ein neues Gutachten kann Anlass zur Revision geben, wenn es neue Tatsachen nachweist oder darzutun vermag, dass die tatsächlichen Annahmen im früheren Urteil ungenau oder falsch sind.
Ein neues Gutachten, das lediglich eine von einem früheren Gutachten abweichende Meinung vertritt bzw. zu einer anderen Würdigung gelangt, stellt indessen noch keinen Revisionsgrund dar. Es muss vielmehr mit überlegenen Gründen vom ersten Gutachten abweichen und klare Fehler des früheren Gutachtens aufzeigen, die geeignet sind, die Beweisgrundlage des ersten Urteils zu erschüttern.
c) Die Voraussetzungen für die Verwahrung müssen schon im Zeitpunkt der Urteilsfällung erfüllt gewesen sein. Im Revisionsverfahren geht es nicht um die Anpassung eines rechtskräftigen Urteils an einen veränderten Sachverhalt, sondern um die Korrektur eines Fehlers im früheren Entscheid. Eine Entwicklung der betroffenen Person seit dem Strafurteil bzw. während des Vollzugs kann revisionsrechtlich nicht massgebend sein.
d) Schliesslich müssen die neuen Tatsachen und Beweismittel erheblich sein. Das heisst, sie müssen die dem rechtskräftigen Urteil zugrunde liegenden Feststellungen so erschüttern, dass aufgrund des veränderten Sachverhalts eine Verwahrung wahrscheinlich erscheint.
3./10.1 Das Regionalgericht Bern-Mittelland fällte sein Strafurteil vom 28. März 2014 insbesondere auf der Grundlage das Gutachtens von Frau Prof. Dr. med. C vom 20. Dezember 2012. Die erfahrene Gutachterin kam bei der Diagnosestellung zum Schluss, dass eine wahnhafte Störung aktuell nicht hinreichend zu begründen sei. Der Gesuchsgegner verfüge über einen Intelligenzquotienten im unteren Durchschnittsbereich. Es sei von einer Persönlichkeitsakzentuierung mit narzisstischen und impulsiven Zügen auszugehen. Sie gelangte zum Schluss, dass die Rückfallgefahr für Delikte, wie sie dem Gesuchsgegner bereits zur Last gelegt würden, aus forensisch-psychiatrischer Sicht als hoch zu erachten sei.
10.2 Das urteilende Gericht prüfte die Verwahrung, die von der Staatsanwaltschaft beantragt worden war, sah jedoch von deren Anordnung ab. Dies wurde zusammengefasst wie folgt begründet: Da gestützt auf das Gutachten vom 20. Dezember 2012 keine anhaltende oder langdauernde psychische Störung von erheblicher Schwere vorliege, komme einzig eine Verwahrung im Sinne von Art. 64 Abs. 1 lit. a StGB in Frage. Der Gesuchsgegner habe sich der Anlasstaten der versuchten vorsätzlichen Tötung und der versuchten schweren Körperverletzung schuldig gemacht.
Dass lediglich Versuche vorlägen, stehe der Anordnung einer Verwahrung grundsätzlich nicht entgegen. Betreffend die objektiv geforderte Opferschwere sei festzuhalten, dass das Eintreten des Erfolges der Taten für die Betroffenen bzw. deren Angehörige schwerstwiegende Folgen mit sich gebracht hätte. Das Gericht äusserte sich zu den Persönlichkeitsmerkmalen, den Tatumständen und den gesamten Lebensumständen des Gesuchsgegners. Aufgrund einer Risikokalkulation unter Einbezug dieser Kriterien könne zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass der Gesuchsgegner weitere Taten im Sinne von Katalogtaten nach Art. 64 Abs. 1 StGB begehen könnte. Allein diese Gegebenheiten würden die Anordnung einer Verwahrung jedoch noch nicht rechtfertigen.
Die Verwahrung stelle eine ultima ratio dar. Es müsse die Verhältnismässigkeit gewahrt werden. Bezüglich der Deliktskategorien Körperverletzung und Tötung sei der Gesuchgegner ein Ersttäter und aufgrund der psychiatrischen Begutachtung sei er noch als gesund zu erachten. Bei psychisch gesunden Ersttätern berge die Risikoeinschätzung stets eine grössere Fehlerquote. Die Gutachterin erachte auch bereits einen Strafvollzug von gewisser Länge als geeignet, um das Verhalten des Gesuchsgegners korrigierend zu beeinflussen. Es lägen versuchte Delikte vor. Nach der Verbüssung der Strafe stehe die Ausschaffung des Gesuchsgegners in sein Heimatland im Raum. Insofern mindere sich die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Schweiz erneut eine Anlasstat begehen werde. Unter dem Titel der Verhältnismässigkeit sei von der Anordnung einer Verwahrung abzusehen.
10.3 Am 24. Januar 2017 erstattete med. pract. D zuhanden der Vollzugbehörde ein forensisch-psychiatrisches Verlaufsgutachten über den Gesuchsgegner. In körperlich-neurologischer Hinsicht kam der Gutachter zum Befund, es gebe keine Anhaltspunkte für eine Veränderung seit dem Jahr 2012, weshalb auf eine Untersuchung verzichtet worden sei. Zum psychopathologischen Befund führte der Gutachter aus, im formalen Denken habe sich der Gesuchgegner stark eingeengt auf die vermeintliche Untreue seiner Ehefrau und die Trennung von seinen Kindern. Es bestehe beim Gesuchsgegner seit ca. 2007 ein Eifersuchtswahn betreffend die Treue seiner Ehefrau. Der Gutachter verwendete sodann für die Legalprognose vier verschiedene standardisierte Prognoseinstrumente bzw. legalprognostische Testverfahren (Fotres, PCL-R, VRAG und Odara) sowie die klinischen Beobachtungen. Tatzeitnah habe beim Gesuchsgegner für häusliche Gewalt eine deutliche bis sehr hohe strukturelle Rückfallgefahr bestanden. Für Tötungsdelikte habe tatzeitnah eine deutliche strukturelle Rückfallgefahr bestanden.
12.1 Sowohl die Gutachterin Prof. Dr. med. C als auch das Regionalgericht Bern-Mittelland hatten bei ihren Beurteilungen Kenntnis von der stark ausgeprägten Eifersucht des Gesuchsgegners und dessen Überzeugung, von seiner damaligen Ehefrau mit dem Opfer betrogen worden zu sein. Dies war bekanntermassen auch der Auslöser für die Straftaten des Gesuchsgegners zum Nachteil seiner damaligen Ehefrau und deren angeblichem Liebhaber.
12.2 Das neue forensisch-psychiatrische Gutachten ist ein Beweismittel, das dem urteilenden Gericht noch nicht vorgelegen hatte. Die Möglichkeit einer wahnhaften Störung war allerdings bereits im ursprünglichen Gutachten thematisiert worden und war dem urteilenden Gericht zumindest als Hypothese bekannt gewesen. Das neue Gutachten kommt zwar zu einer abweichenden Beurteilung, vermag aber nicht hinreichend darzutun, dass das ursprüngliche Gutachten klar fehlerhaft gewesen wäre. Vielmehr basiert die abweichende Beurteilung in erster Linie auf der neuen Exploration des Gesuchsgegners und der daraus geschlossenen Verfestigung von dessen Überzeugung von der Untreue der (ehemaligen) Ehefrau im Strafvollzug. Dies sind Tatsachen, die erst nach der Fällung des Strafurteils eingetreten sind und revisionsrechtlich nicht von Bedeutung sein können. Ein Urteil kann nicht nachträglich an die Entwicklungen im Strafvollzug angepasst werden.
12.4 Was die Einschätzung der Rückfallgefahr in Tatnähe betrifft, gelangte das neue Gutachten im Ergebnis zu keinen vom ursprünglichen Gutachten abweichenden Erkenntnissen. Beide schätzten die damalige Rückfallgefahr als hoch ein. Diesbezüglich liegt keine neue Tatsache vor. Die aktuelle Einschätzung der Rückfallgefahr hat in Bezug auf die Zulassung einer Revision keine Bedeutung.
12.6 Der Revisionsgrund nach Art. 65 Abs. 2 StGB ist vorliegend nicht gegeben. Das Gesuch der Generalstaatsanwaltschaft ist somit abzuweisen.
Obergericht Bern, Beschluss SK 2019 146 vom 9.9.2019
Sozialversicherungsrecht
Arbeitsfähigkeit für Homeoffice ist unverwertbar
Arbeitstätigkeiten, die ausschliesslich von zu Hause aus erledigt werden können, sind auf dem Arbeitsmarkt sehr selten. Sie entsprechen den gesetzlichen Vorgaben nicht. Auf die attestierte Arbeitsfähigkeit für Tätigkeiten im Homeoffice kann deshalb für die Bestimmung des Invalideneinkommens nicht abgestellt werden.
Sachverhalt:
Eine Buchhändlerin, die zuletzt bei einem Verlag in einem 60-Prozent-Pensum als Assistentin des Geschäftsführers arbeitete, meldete sich bei der IV-Stelle zum Leistungsbezug an. Die wies das Leistungsbegehren nach medizinischen und erwerblichen Abklärungen ab.
Aus den Erwägungen:
8. Zu prüfen bleibt demnach, wie sich die gesundheitlichen Einschränkungen der Beschwerdeführerin in erwerblicher Hinsicht auswirken.
8.1 Vorab ist an dieser Stelle auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach die attestierte Arbeitsfähigkeit wirtschaftlich nicht verwertbar und die IV-Stelle ihrer vertieften Substanziierungspflicht nicht nachgekommen sei, einzugehen.
Der Beschwerdeführerin wurde in einer Homeoffice-Tätigkeit ab September 2014 eine 70-prozentige und für die Zeit davor (spätestens ab Oktober 2012) eine 60-prozentige Arbeitsfähigkeit attestiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Bezug auf die Frage der Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit selbst bei einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt im Sinn von Art. 16 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts unrealistische Einsatzmöglichkeiten ausser Acht gelassen werden müssen (BGer-Urteil 8C_581/2015 vom 7.12.2015, E. 4.2.1.3; EVG-Urteil I 268/04 vom 26.11.2004, E. 3.1).
Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass eine Tätigkeit im administrativen, kaufmännischen Bereich in einem Pensum von 70 Prozent bzw. 60 Prozent, welche ausschliesslich von zu Hause aus erbracht werden kann, in dieser Form in der Schweiz (noch) praktisch nicht angeboten wird. Zwar variieren die Tätigkeiten von Kaufleuten je nach Branche stark, doch sind sie häufig im Tagesgeschäft eingebunden, stehen mit Kunden in Kontakt und wickeln Aufträge ab. Sie holen Auskünfte ein, organisieren Anlässe und protokollieren Besprechungen.
8.2 Nach dem Gesagten kann festgehalten werden, dass die Beschwerdeführerin für ausserhäusliche Bürotätigkeiten vom 22. November 2010 bis 18. September 2014 zu 100 Prozent arbeitsunfähig war. Danach ist eine Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent ausgewiesen. Die attestierten Resterwerbsfähigkeiten für Homeoffice-Tätigkeiten gelten hingegen als wirtschaftlich nicht verwertbar.
Kantonsgericht Luzern, Entscheid 5V 18 101 vom 14.6.2019
Pensionskasse muss nur an treue Partner zahlen
Leistungen für den Konkubinatspartner sind in der 2. Säule nur bei gleicher Treue und gleichem Beistand wie in einer Ehe geschuldet.
Sachverhalt:
Nach dem Tod einer Frau forderten sowohl ihr Lebenspartner als auch ihre Eltern von der Pensionskasse das Alterskapital. Laut Reglement der Kasse geht ein Konkubinatspartner den Eltern vor. Die Eltern klagten mit dem Argument, der Freund habe gleichzeitig eine andere Freundin gehabt und mit ihr zwei Kinder gezeugt. Das Gericht hiess die Klage gut.
Aus den Erwägungen:
1.2 Die Beklagte machte von der Ermächtigung gemäss Art. 20a BVG Gebrauch und regelte in ihrem Vorsorgereglement die Anspruchsberechtigung auf ein Todesfallkapital wie folgt: Anspruch auf die Todesfallkapitalien haben unabhängig vom Erbrecht:
a) der überlebende Ehegatte, bei dessen Fehlen
b) die rentenberechtigten Kinder, bei deren Fehlen
c) übrige natürliche Personen, die von der verstorbenen versicherten Person in erheblichem Masse unterstützt worden sind, oder die Person, die mit dieser in den letzten fünf Jahren bis zu ihrem Tod ununterbrochen eine eheähnliche Lebensgemeinschaft geführt hat oder die für den Unterhalt eines oder mehrerer gemeinsamer Kinder aufkommen muss, bei deren Fehlen
d) die übrigen Kinder, bei deren Fehlen
e) die Eltern.
1.3 Unter dem Begriff der Lebensgemeinschaft im Sinne von Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG ist eine Verbindung von zwei Personen gleichen oder verschiedenen Geschlechts zu verstehen, welcher grundsätzlich Ausschliesslichkeitscharakter zukommt, sowohl in geistig-seelischer als auch in körperlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Dabei müssen diese Merkmale nicht kumulativ gegeben sein.
Insbesondere ist weder eine ständige ungeteilte Wohngemeinschaft notwendig, noch dass eine Partei von der anderen massgeblich unterstützt worden war. Entscheidend ist, ob aufgrund einer Würdigung sämtlicher Umstände von der Bereitschaft beider Partner, einander Treue und Beistand zu leisten, wie es Art. 159 Abs. 3 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) von Ehegatten fordert, auszugehen ist (Urteil des Bundesgerichts 9C_771/2016 vom 4. Mai 2017, E. 4.2.3 mit weiteren Hinweisen).
2.1 Die Klagenden führten zur Klagebegründung aus, die Verstorbene sei nicht verheiratet gewesen und habe keine Kinder gehabt. Sie sei nicht von natürlichen Personen in erheblichem Masse unterstützt worden und habe auch nicht bis zu ihrem Tod ununterbrochen eine eheähnliche Lebensgemeinschaft geführt. Ebenso habe sie auch nicht für den Unterhalt eines oder mehrerer Kinder aufkommen müssen. Als ihre Eltern hätten sie deshalb Anspruch auf die reglementarischen Leistungen. Der Beigeladene habe mit der Mutter seiner beiden Kinder eine Parallelbeziehung geführt. Dies führe dazu, dass er mit ihrer verstorbenen Tochter keine eheähnliche Gemeinschaft gelebt habe.
2.3 Der Beigeladene stellte sich auf den Standpunkt, aus den Akten ergebe sich, dass er mit A eine eheähnliche Lebensgemeinschaft geführt habe, die faktisch mehr als fünf Jahre vor deren Tod ihren Anfang genommen habe. Die mit der Mutter seiner beiden Kinder geführte «spontane Parallelbeziehung» habe in den letzten fünf Jahren vor dem Hinschied von A nicht mehr bestanden. Sein jüngeres Kind sei am 19. März 2009 zur Welt gekommen und sei schon zum Zeitpunkt des Todes am 22. Juli 2014 mehr als fünfjährig gewesen. Die Zeugung sei damit sechs Jahre vor dem Todesfall erfolgt. Ab der Geburt des zweiten Kindes habe der Kontakt zur Mutter der beiden Kinder auf einer rein freundschaftlichen Basis bestanden und sich weitgehend in der Organisation und der Wahrnehmung der ihm zustehenden Besuchsrechte erschöpft.
3.1 Streitig und zu prüfen ist, wer Anspruch auf das Todesfallkapital von Fr. 116 317.65 hat.
Mithin ist zu prüfen, ob A und der Beigeladene in den letzten fünf Jahren bis zum Hinschied Erstgenannter – das heisst vom 22. Juli 2009 bis am 22. Juli 2014 – eine eheähnliche Lebensgemeinschaft geführt haben.
3.2 In Würdigung der Akten erscheint glaubhaft, dass der Beigeladene und A eine Beziehung lebten. Damit ist auch zu erklären, dass die Klägerin 2 gegenüber der Beklagten den Beigeladenen als Lebenspartner bezeichnete, in der Todesanzeige ein Lebenspartner – ohne Namensangabe – aufgeführt ist und im anlässlich der Trauerfeier verlesenen Lebenslauf der Beigeladene – nun mit Namensangabe – erwähnt wird.
Gleichzeitig jedoch unterhielt der Beigeladene auch mit D, der Mutter seiner beiden 2007 und 2009 geborenen Kinder, eine Beziehung. Dieser Kontakt beruhte nicht nur auf einer rein freundschaftlichen Basis und bestand aus mehr als nur diversen «Bsüechli». Nach dem zeitlichen Verlauf der Beziehung befragt, gab D an, sie seien von 2004 bis 2013, eventuell 2014, ein Paar gewesen.
Angesichts der Aussagen der Zeugin und der gelebten Umstände ist nicht glaubhaft, dass ihr der Beigeladene durch sein Verhalten klar signalisiert hatte, dass er mit ihr einzig zwei Kinder zeugen, nicht aber eine Beziehung führen wollte.
Dies gilt umso mehr, als er in seiner Stellungnahme vom 3. April 2017 selber eine spontane Parallelbeziehung mit der Zeugin angibt, die einzig in den letzten fünf Jahren vor dem Tod von A nicht mehr bestanden habe. Die mit D gelebte Beziehung – unabhängig davon, in welchem (intimen) Ausmass diese gepflegt wurde – schliesst damit eine umfassende Lebensgemeinschaft mit A aus. Hierfür spricht auch, dass der Beigeladene – soweit aktenkundig – seine Kinder nicht zur Verstorbenen auf Besuch nahm respektive mit ihr und den Kindern keine gemeinsamen Ausflüge oder Ferien unternahm.
Vor diesem Hintergrund kann die hier interessierende Beziehung des Beigeladenen mit der Verstorbenen nicht die für eine Lebensgemeinschaft nach Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG respektive Ziff. 4.5.7 lit. c des Reglements erforderliche Intensität aufgewiesen haben. Dies erhellt auch daraus, dass er die Beziehung zur Verstorbenen vor der Mutter seiner Kinder verheimlichte und damit nicht in aller Öffentlichkeit zu ihr stand. Zusammenfassend war beim Beigeladenen nicht die Bereitschaft zu erkennen, seiner Partnerin Treue und Beistand zu leisten, wie es Art. 159 Abs. 3 ZGB von Ehegatten fordert. Angesichts dessen ändert am Ergebnis nichts, dass nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung einer Lebensgemeinschaft im Sinne von Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG nur grundsätzlich Ausschliesslichkeitscharakter zukommen muss.
3.3 Nach dem Gesagten ergibt sich, dass der Beigeladene mit der verstorbenen A keine eheähnliche Lebensgemeinschaft in den letzten fünf Jahren vor deren Ableben geführt hat. Das Todesfallkapital in der Höhe von Fr. 116 317.65 steht damit gestützt auf Ziff. 4.5.7 lit. e des Reglements den Klägern zu.
Sozialversicherungsgericht Zürich, Urteil BV.2016.00102 vom 12.7.2019