Familienrecht
Aufenthaltsort des Kindes bestimmt den Gerichtsstand
Nach dem Haager Kindesschutzübereinkommen werden bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes die dortigen Behörden zuständig. Zieht ein Elternteil nach einer Ermächtigung zur Verlegung des Aufenthaltsorts des Kindes legal ins Ausland und begründet dort neuen gewöhnlichen Aufenthalt, entfällt die Zuständigkeit der Schweizer Gerichte.
Sachverhalt:
Die ledigen Eltern waren gemeinsam sorgeberechtigt. Seit der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts der Eltern lebte das Kind bei der Mutter. Auf ihren Antrag hiess die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) das Gesuch um Zustimmung zum Wechsel des Aufenthaltsortes der Tochter gemäss Art. 301a Abs. 2 ZGB gut und regelte den persönlichen Verkehr zwischen den Eltern für die Übergangszeit nach dem Umzug. In der Folge zog die Mutter mit dem Kind nach Deutschland. Dagegen erhob der Vater Beschwerde. Vorliegend stellte sich die Frage der internationalen Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte.
Aus den Erwägungen:
11. Art. 5 Abs. 1 des Haager Kindesschutzübereinkommens (HKsÜ) bestimmt, dass grundsätzlich die Behörden und Gerichte am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes für den Erlass von Massnahmen zum Schutz des Kindes zuständig sind. Sodann sieht Art. 5 Abs. 2 HKsÜ vor, dass bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen anderen Vertragsstaat die dortigen Behörden zuständig werden. Mithin besteht im Grundsatz keine perpetuatio fori (Urteil des Bundesgerichts [BGer] 5A_713/2015 vom 21. Dezember 2015, E. 2.1; BGer 5A_202/2015 vom 26. November 2015, E. 2.1).
Mit Entscheid vom 27. Januar 2016 hiess die Vorinstanz das Gesuch der Beschwerdegegnerin um Zustimmung zum Wechsel des Aufenthaltsortes ihrer Tochter gut und entzog einer allfälligen Beschwerde gestützt auf Art. 314 Abs. 1 i.V.m. Art. 450c ZGB die aufschiebende Wirkung. Der Beschwerdeführer stellte keinen Antrag um Aufschub der Vollstreckbarkeit und es liegt auch keine Verfügung vor, welche die aufschiebende Wirkung wiederum erteilt hätte.
Mithin erfolgte das Verbringen des Kindes über die Grenze aufgrund eines vollstreckbaren Entscheides, gemäss welchem die Beschwerdegegnerin ermächtigt wurde, den Aufenthaltsort der Tochter ins Ausland (Deutschland) zu verlegen. Es lag somit keine widerrechtliche Entführung im Sinne von Art. 3 und 5 des Haager Kindesentführungsübereinkommens (HKÜ, SR 0.211.230.02) vor. Entsprechend kommt Art. 7 Abs. 1 HKsÜ, welcher eine perpetuatio fori in Entführungsfällen vorsieht, nicht zum Tragen.
Aufgrund der Ermächtigung zur Verlegung des Aufenthaltsorts der Tochter ist die Beschwerdegegnerin legal nach Deutschland ausgereist und hat dort mit A. offensichtlich neuen gewöhnlichen Aufenthalt (Einschulung der Tochter, Antritt einer neuen Arbeitsstelle; soziales Umfeld; vgl. dazu Schwander, in: Basler Kommentar IPRG, 3. Auflage 2013, N 41 ff. zu Art. 85 und BGer 5A_665/2010 vom 2. Dezember 2010 E. 4) begründet.
Damit ist die Zuständigkeit zur Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts sowie des Rechts auf persönlichen Verkehr auf die deutschen Behörden übergegangen. Eine subsidiäre Zuständigkeit in der Schweiz gemäss Art. 6 ff. HKsÜ ist nicht ersichtlich. Mit dem Aufenthaltswechsel des Kindes entfiel demzufolge die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte; für die vom Beschwerdeführer beantragten Massnahmen, welche unter den Anwendungsbereich des HKsÜ (Art. 3 lit. b HKsÜ) fallen, sind nun die deutschen Behörden zuständig.
Entscheid KES 16 148 des Kindes- und Erwachsenenschutzgerichts des Kantons Bern vom 23.6.2016
Zivilprozessrecht
Entlassung wegen Kopftuch missbräuchlich
Die Entlassung einer Muslimin, weil sie mit Kopftuch zur Arbeit erschienen war, war missbräuchlich. Ein Berner Gericht sprach ihr eine Entschädigung von drei Monatslöhnen zu.
Sachverhalt:
Seit 2009 arbeitete eine Muslimin zur vollen Zufriedenheit ihres Arbeitgebers in einer Berner Grosswäscherei. Anfang 2015 erklärte sie, von nun an aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen zu wollen, und erschien in der Folge mit einem Kopftuch zur Arbeit. Die Firma kündigte ihr mit der Begründung, wegen der Sicherheit und Hygiene sei es verboten, am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen.
Aus den Erwägungen:
Beweisergebnis: Unbestrittenermassen erfolgte die Kündigung aufgrund des Wunsches der Klägerin, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen. Die Beklagte konnte nicht nachvollziehbar darlegen, inwiefern die Hygiene mit einem Kopftuch, das täglich gewechselt und gewaschen wird, schlechter gewährleistet ist, als wenn der Mitarbeiter die Haare entsprechend den Arbeitsvorschriften zusammengebunden trägt.
Auch konnte die Beklagte keine sachlichen Gründe vorbringen, die gegen die Verwendung von Einwegkopftüchern sprächen. Die Beklagte macht einzig geltend, dass sie als Reinigungsfirma Einwegtücher nicht im Betrieb haben wolle. Die Beklagte kann vorliegend nicht beweisen, dass die Weisung, auf das Tragen eines Kopftuches zu verzichten, sachbezogen und betrieblich notwendig wäre.
Nach Art. 336 Abs. 1 lit. b OR ist eine Kündigung missbräuchlich, wenn jemand die Kündigung ausspricht, weil die andere Partei ein verfassungsmässiges Recht ausübt. Gerechtfertigt werden kann die Kündigung damit, dass die Rechtsausübung eine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis verletzt oder die Zusammenarbeit im Betrieb wesentlich beeinträchtigt (Art. 336 Abs. 1 lit. b OR). Gelingt dieser Beweis, greifen die Sanktionen nach Art. 336a OR für die missbräuchliche Kündigung nicht.
Missbräuchlichkeit liegt in casu vor, wenn im Tragen eines Kopftuches während der Arbeit ein verfassungsmässiges Recht zu erblicken ist, es sei denn, die Rechtsausübung verletze eine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis oder beeinträchtige wesentlich die Zusammenarbeit im Betrieb.
Das Kopftuch ist in der muslimischen Tradition nie ein reines modisches Accessoire, sondern stets Ausdruck der Zugehörigkeit zur religiösen Tradition und Äusserung des muslimischen Glaubens (vgl. Werner Gloor, «Kopftuch an der Kasse – Religionsfreiheit im privaten Arbeitsverhältnis», in: Portmann / Aubert / Dunand / von Kaenel / Müller/Gaillard (Hrsg.), Zeitschrift für Arbeitsrecht und Arbeitslosenversicherung (ARV) 2006, S. 1 ff., S. 4; Gabriele Riemer-Kafka / Raima Sherifoska, «Religion am Arbeitsplatz», in: Portmann /Aubert / Dunand /von Kaenel /Müller /Gaillard, Zeitschrift für Arbeitsrecht und Arbeitslosenversicherung (ARV), S. 315). Das Kopftuch ist somit eine religiöse Kultushandlung.
Religiöse Kleidungsvorschriften und damit das Tragen eines Kopftuchs aus religiöser Überzeugung fallen unter den Schutzbereich von Art. 15 BV wie auch unter den Schutz der entsprechenden Art. 9 Abs. 1 EMRK und Art. 18 Abs. 1 Uno-Pakt 11 (BGE 119 la 178, S. 184 f., und BGE 123 I 296, E. 2 b) aa), Gloor, a.a.O., S. 5, Kurt Pärli, «Die unterschätzte Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für das Arbeitsrecht», in: AJP 2015, S. 1681 ff.).
Grundrechte verpflichten grundsätzlich nur den Staat direkt. Sie entfalten keine unmittelbare Wirkung im Privatrechtsverkehr. Gemäss Art. 35 Abs. 3 BV haben indessen die Behörden dafür zu sorgen, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden. Auf diese Weise ist eine mittelbare bzw. indirekte Drittwirkung der Grundrechte von der Verfassung bejaht (vgl. zum Ganzen Gloor, a.a.O., S. 7 f.). Die Religionsfreiheit bindet primär staatliche Organe, sie muss aber unter Privaten respektiert werden und der Staat hat gestützt auf die staatlichen Schutzpflichten dafür zu sorgen, dass die in Art. 15 BV und Art. 9 EMRK garantierten Rechte auch im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis geschützt sind (Pärli, a.a.O., S. 1682 f.).
Im privaten Arbeitsverhältnis integriert Art. 328 Abs. 1 OR über den arbeitsrechtlichen Persönlichkeitsschutz die Religionsfreiheit wie auch das Diskriminierungsverbot in das Verhältnis von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Vorliegend ergibt sich die Massgeblichkeit der verfassungsmässig garantierten Rechte im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis überdies direkt aus Art. 336 Abs. 1 lit. b OR (Gloor, a.a.O., S. 7).
Nach Art. 336 Abs. 1 lit. b OR kann der Arbeitgeber die Kündigung aufgrund der Ausübung eines verfassungsmässigen Rechts durch den Arbeitnehmer aussprechen, wenn der Arbeitnehmer mit der Ausübung eine Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis verletzt oder diese Ausübung die Zusammenarbeit im Betrieb wesentlich beeinträchtigt.
Das Tragen eines religiösen Kleidungsstücks stellt prinzipiell keine Vertragsverletzung dar, wenn es vorher mit dem Arbeitgeber abgesprochen wurde. Eine Verletzung kann indessen vorliegen, wenn der Arbeitnehmer einseitig, gegen den Willen des Arbeitgebers handelt oder dessen berechtigte Interessen und Weisungen missachtet (Riemer-Kafka / Sherifoska, a.a.O., S. 319). Die Weisung muss sachbezogen sein. Nicht sachbezogene Verbote sind infolge des hohen Stellenwerts der Religionsfreiheit unbeachtlich (Gloor, a.a.O., S. 14).
Hygienische Gründe oder die Sicherheit von Kunden können als Arbeitgeberinteresse dem Interesse der Arbeitnehmenden am Tragen aus religiösen Gründen vorgehen, während dies beim Interesse der Arbeitgebenden an einem bestimmten und einheitlichen Erscheinungsbild der Unternehmung nicht der Fall ist (Pärli, a.a.O., mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 15.1.2013 Eweida u. a. c. Vereinigtes Königreich, Fn 137 und 138). Bei Vorschriften aus Sicherheits- oder auch aus Hygienegründen ist zudem immer zu prüfen, ob das Tragen des religiösen Kleidungsstücks auch tatsächlich Sicherheitsbedenken hervorruft oder nicht (vgl. Riemer-Kafka / Sherifoska, a.a.O., S. 316).
Das Tragen eines Kopftuchs kann vereinzelt den Betriebsfrieden stören, wenn sich z. B. ein anderer Mitarbeiter dadurch angegriffen fühlt. Die Kündigung kann hier aber nur gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber im Rahmen seiner Fürsorgepflicht vorher alle milderen zumutbaren Massnahmen ergriffen hat, um die Lage zu entspannen (vgl. Gloor, a.a.O., S. 13, mit Verweis auf BGE 125 III 70, E.2. c).
Vorliegend beruft sich die Beklagte auf Sicherheits- und Hygienegründe. Sie habe das Tragen des Kopftuches untersagt, weil es mit den geltenden Hygienevorschriften im Betrieb nicht vereinbar sei. Das Arbeitsgericht Hamburg hat die Anweisung an einen turbantragenden Arbeitnehmer, eine Faltpapiermütze anstelle des Turbans zu tragen, als unzulässig erachtet, weil das Tragen des Turbans nicht gegen die Hygienevorschriften verstösst (Riemer-Kafka / Sherifoska, a.a.O., S. 316, Fn 118).
Die Beklagte hat Bestimmungen zur Hygiene in ihren «Arbeitsvertraglichen Bestimmungen» und ihren «Hygienevorschriften» niedergelegt. Die arbeitsvertraglichen Bestimmungen der Beklagten schreiben in Punkt 5.11 vor, dass den Mitarbeitern Arbeitskleider zur Verfügung gestellt werden, die täglich zu wechseln sind, und dass das Tragen der Arbeitskleider obligatorisch ist. In den Hygienevorschriften ist festgeschrieben, dass das Tragen von Schmuck, Uhren und anderen Accessoires nicht gestattet ist, sowie dass die Haare ab Schulterlänge zusammenzubinden sind. Über Kopfbedeckungen jeglicher Art bestehen keine Vorschriften in diesen Weisungen der Beklagten. Der Vertreter der Beklagten konnte auch anlässlich seiner Parteibefragung im Rahmen der Hauptverhandlung nicht erklären, weshalb ein täglich gewechseltes Kopftuch oder ein Einmalkopftuch ein grösseres Hygienerisiko darstellen würde als die zusammengebundenen Haare der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die Ausführungen der Beklagten, wonach Bekleidungsvorschriften generell einzuhalten seien und Abweichungen davon nicht toleriert würden, gehen fehl. Das Tragen eines Kopftuchs kann als religiöse Kultushandlung entgegen der Beklagten nicht mit dem Tragen von Baseball- oder Strickmützen sowie Schmuck verglichen werden.
Da durch die Beklagte entsprechend dem vorstehenden Beweisergebnis nicht nachgewiesen wurde, dass das Tragen des Kopftuches tatsächlich Sicherheits- und/oder Hygieneprobleme hervorruft, erweist sich die Weisung, ein Kopftuch beim Arbeiten nicht tragen zu dürfen, als nicht sachbezogen bzw. notwendig und musste von der Klägerin nicht beachtet werden. Die Kündigung, begründet mit der Weigerung der Klägerin, das Kopftuch bei der Arbeit abzunehmen, kann von der Beklagten somit nicht gerechtfertigt werden und ist daher als missbräuchlich i.S.v. Art. 336 Abs. 1 lit. b OR zu qualifizieren.
Vorliegend hat das Arbeitsverhältnis rund sechs Jahre bestanden. Die Klägerin war für die Beklagte eine gute, zuverlässige Mitarbeiterin mit einwandfreien Arbeitsleistungen, was durch die Zwischenzeugnisse und das Arbeitszeugnis bestätigt wird. Die Klägerin ist erst 29 Jahre alt. Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte wiegt für die Klägerin schwer, da die Beklagte ihr die Ausübung eines verfassungsmässigen Rechts untersagen wollte. Der von der Klägerin angeführte Umstand, dass sie derzeit ohne Aussicht auf eine vergleichbare feste Anstellung sei, spielt nach den vorstehenden rechtlichen Ausführungen bei der Bemessung der Entschädigung hingegen keine Rolle (siehe auch Streiff / Von Kaenel / Rudolph, a.a.O., Art. 336a N 8).
Die Beklagte hat nicht nach milderen Alternativen zur Kündigung gesucht. Es wurde von ihrer Seite her keine Bereitschaft signalisiert, das Arbeitsverhältnis nach gemeinsamer, konstruktiver Lösungssuche fortzusetzen. Die Umstände der Kündigung sind neutral zu gewichten.
Im zuvor erwähnten Fall aus dem Jahr 1991 hat das Bezirksgericht Arbon in einer vergleichbaren Konstellation eine Entschädigung von zweieinhalb Monatslöhnen gesprochen, wobei der Arbeitgeber der Gekündigten dort – anders als vorliegend – die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses angeboten hatte.
Unter Würdigung aller Umstände und der einschlägigen Gerichtspraxis (Streiff / Von Kaenel / Rudolph, a.a.O., Art. 336a N 4) erscheint vorliegend eine Entschädigung in der Höhe von drei Monatslöhnen als angemessen.
Entscheid CIV 16 1317 des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 8.9.2016
Kommentar
Im vorliegenden Fall einer missbräuchlichen Kündigung wegen der Ausübung eines verfassungsmässigen Rechts hat sich das Gericht bei der Festsetzung der Höhe der Entschädigung zurückhaltend gezeigt. So hat das Gericht bloss drei Monatslöhne als Entschädigung zuerkannt. In Bezug auf die Entschädigung hat es das Gericht ausdrücklich abgelehnt, die für die Klägerin harten sozialen Folgen der missbräuchlichen Kündigung bei der Festsetzung der Höhe der Entschädigung zu berücksichtigen. Die bewusste Weigerung der herrschenden juristischen Lehre und Praxis, die sozialen Folgen einer missbräuchlichen Kündigung bei der Bestimmung der Höhe der Entschädigung zu berücksichtigen, erscheint sowohl unter rechtlichen als auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten namentlich in Fällen kopftuchtragender Frauen als kritikwürdig. Im konkreten Fall hat die Klägerin auch rund eineinhalb Jahre nach der Kündigung noch kein geordnetes neues Anstellungsverhältnis gefunden und befindet sich wirtschaftlich in einer deutlich prekäreren Situation als vor der missbräuchlichen Kündigung. Damit bestätigt das Urteil wissenschaftliche Befunde, welche zum Schluss kommen, dass es kopftuchtragende Frauen schwer haben, eine (neue) Stelle zu finden (u. a. Jacqueline Augsburger, 2005) Das Urteil sollte zum Anlass genommen werden, die mitunter alarmistisch anmutende «Kopftuchdebatte» zu versachlichen und auf juristischer Ebene die sozialen Folgekosten betrieblicher Kopftuchverbote vermehrt den privaten Verursachern aufzuerlegen und auf gesellschaftspolitischer Ebene der Tendenz zur Exklusion kopftuchtragender Frauen entgegenzuwirken.
Michael Burkard, Vertreter der Klägerin
Zivilrichter darf auf Beweis im Straffall abstellen
Zivilrichter müssen Akten und Ergebnisse eines Strafverfahren nicht berücksichtigen, sie dürfen aber im Rahmen einer selbständigen Prüfung darauf abstellen. Im vorliegenden Zivilprozess durfte das Gericht die im Strafverfahren erfolgten Einvernahmen dem Urteil zugrunde legen.
Sachverhalt:
Die Klägerin forderte von den Beklagten Schadenersatz in der Höhe von rund 26,4 Mio. Franken. Die Beklagten beantragten die vollumfängliche Abweisung der Klage. In ihren Rechtsschriften und weiteren Eingaben reichten die Parteien unter anderem Befragungsprotokolle aus dem parallel laufenden Strafverfahren gegen die Beklagten 4 und 5 ein. Im Urteil und Zwischenentscheid vom 16. März 2016 stellte das Kantonsgericht auf die im Strafverfahren erfolgten und im Zivilprozess eingereichten Befragungsprotokolle ab.
Aus den Erwägungen:
5.5.2 Art. 53 des Obligationenrechts, der im ganzen Privatrecht anwendbar ist, regelt die grundsätzliche Unabhängigkeit des Zivilrichters gegenüber dem Strafgesetz resp. dem Strafrichter. Die Unabhängigkeit in der Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts hindert allerdings den Zivilrichter nicht daran, die Beweisergebnisse der Strafuntersuchung (u. a. Einvernahmen) im Rahmen seiner selbständigen Prüfung der Streitsache mitzuberücksichtigen bzw. darauf abzustellen (BGE 125 III 401, E. 3; BGer 4A_219/2015 vom 8.9.2015, E. 1.5 mit weiteren Hinweisen; Urteil LB130028-O/U des Obergerichts Zürich vom 22.10.2014, E. 2.2.).
Dieses Vorgehen hat auch praktische Gründe: Das Strafgericht respektive die Strafverfolgungsbehörden stehen meistens zeitlich näher zum Tatbestand, sodass deren Abklärungen oft zuverlässiger sind als spätere Beweisverfahren (Brehm, Berner Kommentar, 4. Aufl. 2013, Art. 53 OR N 24, 29 ff.).
5.5.5 Die von den Parteien eingereichten Befragungsprotokolle sind beweistauglich und im Lichte der obigen Ausführungen der richterlichen Würdigung zu unterziehen. Selbstverständlich unterliegen diese in materieller Hinsicht der freien Beweiswürdigung nach Art. 157 ZPO. Bei den Befragungsprotokollen wird namentlich der Funktion der befragten Personen (beschuldigte Person, Auskunftsperson oder Zeuge) und deren Interesse am Prozessausgang Beachtung zu schenken sein.
5.5.6 Bei dieser Sachlage kann auf die im vorliegenden Zivilprozess beantragten Befragungen jener Parteien und Zeugen verzichtet werden, die durch die Strafbehörden bereits befragt wurden. Die Einvernahme der weiteren, von den Parteien unter dem Titel «Anspruchsgrundlage» als Zeugen beantragten Personen vermöchte an der Überzeugung des Gerichts nichts zu ändern, wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt.
Urteil 1A 12 4 des Kantonsgerichts Luzern vom 16.3.2016
Echtheit der Urkunde: Nur bei Bestreitung zu beweisen
Die Beweislast für die Echtheit einer Urkunde trägt jene Partei, die sich auf das Dokument beruft. Die Echtheit ist nur zu beweisen, wenn sie von der anderen Partei ausreichend begründet bestritten wird. Art. 178 ZPO spricht gegen allzu hohe Anforderungen an die Bestreitung.
Sachverhalt:
Die Klägerin macht geltend, der Verstorbene habe ihr wenige Tage vor seinem Ableben eine Schenkung über 1 Mio. Franken versprochen und der Bank eine entsprechende Zahlungsanweisung gegeben. Mit Schreiben vom 17. und 26. Mai forderte die Klägerin die Bank auf, den Zahlungsauftrag auszuführen. Dem kam die Bank nicht nach und verlangte unter Berufung auf das Bankgeheimnis einen Totenschein und eine Erbenbescheinigung, bevor Auskunft über das Bestehen eines allfälligen Kundenverhältnisses zum Verstorbenen bzw. deponierte Vermögenswerte des Verstorbenen gegeben werden könne. Mit Eingabe meldete der damalige Rechtsvertreter der Klägerin die Forderung bei der Gemeindekanzlei an, beantragte die Aufnahme ins Nachlassinventar und informierte den testamentarisch als Alleinerben eingesetzten Bruder des Verstorbenen entsprechend. Dieser bestritt den geltend gemachten Anspruch und forderte die Rückzahlung von 10000 Franken, welche die Klägerin vom Konto des Verstorbenen abgehoben habe.
Aus den Erwägungen:
III./5 Die Klägerin bringt ferner vor, die Vorinstanz habe verschiedentlich das Recht unrichtig angewendet sowie den Sachverhalt fehlerhaft festgestellt. So habe sie fälschlicherweise angenommen, der Beklagte habe seine Bestreitungen der Echtheit der eingereichten Dokumente ausreichend im Sinne von Art. 178 ZPO begründet und ihr, der Klägerin, deshalb zu Unrecht den Regelbeweis für die Echtheit der massgeblichen Urkunden auferlegt. Vielmehr könne sie als Klägerin die Vermutung der Echtheit von Art. 178 ZPO in Anspruch nehmen, da anderes vom Beklagten nicht rechtsgenüglich glaubhaft gemacht worden sei, also nicht dargetan sei, dass die Echtheit der Dokumente weniger wahrscheinlich sei als deren Fälschung.
a) Die Beweislast für die Echtheit einer Urkunde trägt nach allgemeiner Regel (Art. 8 ZGB) jene Partei, die sich auf das Dokument beruft (Art. 178 ZPO). Indes ist die Echtheit nur zu beweisen, wenn sie von der anderen Partei ausreichend begründet bestritten wird. Die Bestreitung kann nicht bloss pauschal, sondern muss substanziiert erfolgen und beim Gericht ernsthafte Zweifel an der Authentizität des Dokumentes (Inhalt oder Unterschrift) wecken (Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006, 7322; BK-Rüetschi, N 2 f. zu Art. 178 ZPO; Staehelin / Staehelin / Grolimund, Zivilprozessrecht, § 18 N 99; BSK ZPO-Dolge, Art. 178 N 2; Leuenberger / Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, N 9.97; Gasser / Rickli, ZPO Kurzkommentar, Art. 178 N 2 f.; Kuko ZPO-Schmid, Art. 178 N 2).
In der Lehre wird in diesem Zusammenhang teilweise der Begriff «Glaubhaftmachung» genannt, wobei jeweils nicht die Unechtheit der Urkunden, sondern die Umstände oder Indizien, welche beim Gericht ernsthafte Zweifel an der Echtheit erwecken (Schönmann, OFK-ZPO, Art. 178 N 1; Kuko ZPO-Schmid, Art. 178 N 2), oder die Zweifel selbst glaubhaft gemacht werden sollen (Weibel, in: Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger, ZPO Komm., Art. 178 N 6). Einzig Rüetschi scheint für die «Bestreitung der Echtheit der Urkunde [ …] das Beweismass der Glaubhaftmachung als genügend» und möglicherweise auch erforderlich zu erachten (BK-Rüetschi, N 2 f. zu Art. 178 ZPO), wobei er sich auf die soeben erwähnten Stellen bei Weibel und Schmid bezieht, welche diese Aussage gerade nicht enthalten, und ausserdem die Festlegung eines Beweismasses für die Bestreitung unüblich ist.
Indessen verweisen alle drei Autoren auf BGE 132 III 140, wonach der Richter gestützt auf die vom Gläubiger vorgelegten Urkunden die provisorische Rechtsöffnung ausspricht, wenn die Fälschung nicht sofort glaubhaft gemacht wird (E. 4.1.2). Allerdings ergibt sich beim Rechtsöffnungsverfahren die Erforderlichkeit des Glaubhaftmachens nicht aus Art. 178 ZPO, sondern ist in Art. 82 Abs. 2 SchKG festgeschrieben. Ein strengerer Massstab scheint hier durchaus angebracht, steht es dem Betriebenen doch weiterhin offen, in einem ordentlichen Prozess auf Aberkennung der Forderung zu klagen (Art. 83 Abs. 2 SchKG).
Dagegen spricht der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck von Art.178 ZPO, nämlich rein vorsorgliche, pauschale oder gar schikanöse Echtheitsbestreitungen zu verhindern (Schönmann, OFK-ZPO, Art. 179 N 1; Müller, Dike-Komm-ZPO, Art. 178 N 5; Weibel, a.a.O., Art. 178 N 6), gegen allzu hohe Anforderungen an die Bestreitung (so auch Müller, mit dem Hinweis auf die nach wie vor massgebliche Grundregel von Art. 8 ZGB [a.a.O., Art. 178 N 5] sowie Schweizer, welcher von einem variablen Beweismass der Glaubhaftmachung in Abhängigkeit der relativen Kosten einer fehlerhaften Gewährung oder Verweigerung des Antrags ausgeht [«Das Beweismass der Glaubhaftmachung», in: ZZZ, 2014/2015, S. 3 ff.] und Leuenberger, für den sich bei der Glaubhaftmachung der Grad des Beweismasses aufgrund des gesetzgeberischen Zwecks der betreffenden Norm ergebe [«Glaubhaftmachen», in: Leuenberger {Hrsg.}, Der Beweis im Zivilprozess, La preuve dans le procès civil, S. 118 ff.]). In BGer 5A_586/2011 hat das Bundesgericht jedenfalls offengelassen, ob und in welchem Umfang die Glaubhaftmachung ein strengerer Massstab ist als die «ausreichend begründete Bestreitung» im Sinne von Art. 178 ZPO (E. 2.4.2).
Letztlich kann diese Frage – wie die folgenden Erwägungen zeigen – auch hier offen bleiben; denn glaubhaft gemacht ist eine Tatsache schon dann, wenn für deren Vorhandensein gewisse Elemente sprechen, selbst wenn das Gericht mit der Möglickeit rechnet, dass sie sich nicht verwirklicht haben könnte (BGE 138 III 232, E. 4.1.1; BGE 130 III 321, E. 3.3).
b) Um die eingeklagte Forderung zu beweisen, legt die Klägerin unter anderem die Kopie eines Zahlungsauftrags des Verstorbenen an die Bank mit teilweise abgedecktem Begleitschreiben, das Doppel des Begleitschreibens sowie ein Schreiben des Verstorbenen an sie, die Klägerin, ins Recht. Sie habe diese Dokumente am 5. Mai gemäss den Instruktionen des Verstorbenen abgefasst und dieser habe sie dann eigenhändig unterzeichnet. Der Beklagte bestreitet die Echtheit der Unterschriften auf diesen Dokumenten sowie dass der Inhalt dieser Dokumente, also im Wesentlichen die Überweisung von 1 Mio. Franken als Schenkung an die Klägerin, dem Willen des Verstorbenen entspreche. Dabei verweist er auf verschiedene Umstände und Indizien, welche gegen die behauptete Schenkung sprechen würden. Im Folgenden ist im Einzelnen zu prüfen, ob diese Vorbringen ausreichen, um ernsthafte Zweifel an der Authentizität der Dokumente zu wecken.
c) Indizien, die gegen die Echtheit der fraglichen Urkunden sprechen, ergeben sich bereits aus diesen selbst. So unterscheiden sich die angeblich vom Verstorbenen stammenden Unterschriften auf den verschiedenen Dokumenten (Zahlungsauftrag, Begleitschreiben, Schreiben an die Klägerin), welche alle am gleichen Abend entstanden sein sollen, erheblich. Weiter hat O. auf den Begleitschreiben die «handschriftliche Ausführung dieser Verfügung» durch den Verstorbenen bestätigt, obwohl dies unbestrittenermassen nicht zutrifft. Hinzu kommt, dass die Unterschrift des Verstorbenen völlig ohne jeglichen Zusammenhang zum Text oder zur Grussformel an den unteren Rand des Blattes gesetzt wirkt. Unerklärlich ist zudem, weshalb die Klägerin diese Schreiben zweimal in identischer Form handschriftlich verfasst hat, wenn es offensichtlich auch möglich war, vor dem Versenden an die Bank eine Fotokopie davon zu erstellen.
Weiter ist es ziemlich unglaubwürdig, dass jemand eine Vergütung über 1 Mio. Franken zulasten seines Bankkontos in Auftrag gibt, wenn dieses Konto gerade einmal ein Guthaben von rund 10000 Franken aufweist, welches er dann auch noch – bevor die Bank Kenntnis vom Zahlungsauftrag erlangte – am Bankomaten in bar bezieht. Der Verstorbene hatte zwar durchaus ein Vermögen von mehr als 1 Mio. Franken, dieses war jedoch im Wesentlichen in Wertschriften (und einer Immobilie) angelegt. Es ist schwer vorstellbar, dass er in dieser Situation seine Bank beauftragte, 1 Mio. Franken «per sofort!» an eine Drittperson auszuhändigen, ohne nähere Angaben über die Modalitäten zu machen oder um Kontaktaufnahme (mit ihm) zu bitten. Allein diese Umstände und Anhaltspunkte lassen ernsthafte Zweifel an der Echtheit der Urkunden aufkommen.
Entscheid BO.2015.15 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 15.6.2016
UP-Gesuch nicht erst im Endurteil entscheiden
Es ist nicht zulässig, ein mit Klageeinreichung gestelltes Gesuch um unentgeltliche Prozessführung erst unter Einbezug der Ergebnisse des Haupt- und Beweisverfahrens mit dem Endentscheid zu beurteilen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer stellte ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Die Vorinstanz beurteilte dieses Gesuch um Befreiung von den Gerichtskosten erst im Anschluss an die Hauptverhandlung gleichzeitig mit dem Entscheid in der Hauptsache. Sie wies es ausdrücklich unter Berufung auf die zuletzt an der Hauptverhandlung, an der noch neue Tatsachen und Beweismittel zulässig waren, gewonnenen neuen Erkenntnisse vollumfänglich ab.
Aus den Erwägungen:
III./2 Die Vorinstanz bejahte zwar die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 117 lit. a ZPO bereits im nach dem ersten Schriftenwechsel ergangenen Entscheid betreffend unentgeltliche Rechtspflege vom 21. Juli 2015, wies das Gesuch um Verbeiständung mangels Notwendigkeit im Sinne von Art. 118 lit. c ZPO aber ab. Hingegen verzichtete der verfahrensleitende Richter damals auf die Beurteilung der Prozessaussichten und verschob den Entscheid über das Begehren um Befreiung von Gerichtskosten «bis zur Vervollständigung der Aktenlage».
Dieser Entscheid könne im Rahmen der Kostenregelung des Hauptverfahrens ergehen. Die Abweisung des Gesuchs gleichzeitig mit dem Entscheid in der Hauptsache vom 28. Oktober 2015 wird (knapp) damit begründet, dass die Klage in Kenntnis der zuletzt anlässlich der Hauptverhandlung ergänzten Sachverhaltsvorbringen als aussichtslos im Sinne von Art. 117 ZPO bezeichnet werden müsse.
4. a) Wie bereits erwähnt, beurteilen sich die Prozessaussichten vorläufig und im Voraus (ex ante) nach den Verhältnissen zurzeit der Gesuchstellung, das heisst auf der Grundlage der in diesem Zeitpunkt gegebenen Rechts-, Sach- und Aktenlage (BK-Bühler, N 253 zu Art. 117 ZPO). Der Gesuchsteller hat die fehlende Aussichtslosigkeit glaubhaft zu machen, und die Prozessaussichten müssen aufgrund einer summarischen Prüfung der Angelegenheit abgewogen werden. Dabei hat das Gericht zu Beginn des Verfahrens lediglich zu prüfen, ob der vom Gesuchsteller verfolgte Rechtsanspruch im Rahmen des sachlich Vertretbaren liegt bzw. nicht von vornherein unbegründet erscheint (BGE 119 III 113, E. 3a; BGer 4A_131/2012, E. 2).
Ein Hinausschieben des Entscheids und des massgebenden Zeitpunkts zur Beurteilung der Erfolgsaussichten, bis sich der Verlust des Prozesses abzeichnet, würde dem Gesuchsteller im Ergebnis die unentgeltliche Rechtspflege unzulässigerweise rückwirkend entziehen (BGE 101 Ia 37, E. 2; Emmel, a.a.O., N 13 zu Art. 117 ZPO und N 3 zu Art. 120 ZPO, wonach ein Entzug allenfalls ex nunc zulässig wäre – was von BK-Bühler, N 256 zu Art. 117 und N 14 zu Art. 120 ZPO generell abgelehnt wird). Ausgeschlossen ist die Durchführung eines Beweisverfahrens vor Beurteilung eines Gesuchs, da sich damit die Erfolgschancen einer Klage in der Regel ohnehin klären (BSK-Rüegg, N 20 zu Art. 117; Emmel, a.a.O., N 13 zu Art. 117 ZPO).
b) Vor diesem Hintergrund erscheint das Vorgehen der Vorinstanz als unzulässig, wenn sie das Gesuch um Befreiung von Gerichtskosten erst im Anschluss an die Hauptverhandlung gleichzeitig mit dem Entscheid in der Hauptsache beurteilt und es – was entscheidend ist – ausdrücklich unter Berufung auf die zuletzt an der Hauptverhandlung, an der noch neue Tatsachen und Beweismittel zulässig waren, gewonnenen neuen Erkenntnisse vollumfänglich abgewiesen hat. Denn es geht nicht an, mit dem Endentscheid ein mit der Klageeinreichung gestelltes Gesuch um unentgeltliche Prozessführung unter Einbezug der Ergebnisse des Haupt- und Beweisverfahrens wegen Aussichtslosigkeit abzuweisen. Offensichtlich war auch für den verfahrensleitenden Richter im Zeitpunkt des Entscheids betreffend unentgeltliche Rechtspflege vom 21. Juli 2015, als erst Klage und Klageantwort vorlagen, ein Verfahrensausgang noch nicht klar zuungunsten des Beschwerdeführers vorauszusehen und damit eine Aussichtslosigkeit im Sinne von Art. 117 lit. b ZPO (noch) nicht zu bejahen, hat er doch die Abweisung des Gesuchs letztlich damit begründet, dass die Klage in Kenntnis der zuletzt anlässlich der Hauptverhandlung ergänzten Sachverhaltsvorbringen aussichtslos sei.
Der Beschwerdeführer hatte im Hauptverfahren betreffend Persönlichkeitsverletzung eine eingehend begründete Klageschrift eingereicht unter Beilage der von ihm beanstandeten Publikation in der Presse sowie online, in welcher unter voller Namensnennung und Angabe der Adresse insbesondere auf seine Vorstrafen hingewiesen und diese in Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als «Rechtsberater» gestellt wurden. Angesichts einzelner zweifellos den Tatbestand der Persönlichkeitsverletzung erfüllender Aussagen in der Publikation – was auch von der Gegenpartei in der Klageantwort nicht in Abrede gestellt wurde – stand insbesondere die Beurteilung der Widerrechtlichkeit und damit eine Interessenabwägung zwischen den persönlichen Interessen des Beschwerdeführers und den geltend gemachten öffentlichen Interessen an der Publikation in der vorliegenden Form im Raum.
Bei der gebotenen vorläufigen und summarischen Prüfung hätte bei dieser Ausgangslage in der für die Beurteilung massgebenden Anfangsphase des Prozesses die Vorinstanz nicht davon ausgehen dürfen, dass die Gewinnaussichten von vorneherein erheblich geringer seien als die Gefahr des Unterliegens und sich eine auf eigene Kosten prozessierende Partei vernünftigerweise nicht für den Prozess entschlossen hätte. Im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung hätte die Aussichtslosigkeit daher nicht bejaht werden dürfen. Nicht relevant ist in diesem Zusammenhang, dass nachher die Vorinstanz – nun auch bestätigt durch die Berufungsinstanz – die Klage abgewiesen hat.
Entscheid BE.2015.62 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 24.4.2016
Schlichtungsbehörde darf Entscheid verweigern
Die Schlichtungsbehörde kann, auch nachdem sie sich zum Fällen eines Entscheids bereit erklärt und dazu die Parteivorträge hat erstatten lassen, darauf zurückkommen und eine Klagebewilligung ausstellen.
Sachverhalt:
Im Schlichtungsverfahren kam keine Einigung zustande. Die klagende Partei ersuchte um ein Urteil, und die Friedensrichterin liess plädieren. In der Folge entschloss sich die Friedensrichterin, doch kein Urteil zu fällen. Ein Urteilsvorschlag wurde abgelehnt, und daraufhin stellte sie die Klagebewilligung aus. Die Klägerin kritisiert das.
Aus den Erwägungen:
2. Die Klägerin beantragt mit ihrer Beschwerde die Aufhebung der Klagebewilligung und ersucht um einen Entscheid in der Hauptsache sowie eventualiter die Aufhebung der Klagebewilligung und die Rückweisung an die Vorinstanz zur Fortführung des Verfahrens sowie zur Entscheidung in der Sache. Sodann macht die Klägerin Rechtsverweigerung geltend.
Die Klagebewilligung ist weder mit Beschwerde noch mit Berufung anfechtbar (BGE 139 III 273, E. 2.3. = Pra 103 (2014) Nr. 6). Rechtsverweigerung kann hingegen mit Beschwerde geltend gemacht werden (vgl. Art. 319 lit. c ZPO). Auf die Beschwerde der Klägerin ist daher nur insoweit einzutreten, als sie Rechtsverweigerung geltend macht.
3./3.1 Die Klägerin führt aus, nachdem ein Entscheidverfahren eröffnet worden sei, könne dieses nur noch durch Entscheid, Vergleich, Klageanerkennung oder Klagerückzug beendet werden. Eine andere Erledigung sei im Gesetz nicht vorgesehen. Die Rechtsprechung und die einschlägige Lehre würden ausdrücklich festhalten, dass bezüglich eines einmal eröffneten Hauptverfahrens nicht wieder auf eine Erledigung durch Urteilsvorschlag oder Ausstellung der Klagebewilligung zurückgewechselt werden könne.
Indem die Friedensrichterin in unzulässiger Weise dennoch eine Klagebewilligung ausgestellt habe, sei sie ihrer Fortführungslast als erstinstanzliche Richterin nicht nachgekommen. Das Nichtfällen eines Entscheids stelle eine unzulässige Rechtsverweigerung dar.
3.2 Die Schlichtungsbehörde kann in vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 2000 Franken einen Entscheid fällen, sofern die klagende Partei einen entsprechenden Antrag stellt (Art. 212 ZPO). Ein solcher Antrag zwingt die Schlichtungsbehörde nicht zum Entscheid (Kann-Vorschrift); sie kann den Parteien einen Urteilsvorschlag unterbreiten oder die Klagebewilligung erteilen. Will die Schlichtungsbehörde dem Antrag auf Ausfällung eines Entscheids nach Art. 212 ZPO nachkommen, so hat sie ein formelles Entscheidverfahren durchzuführen (vgl. OGer ZH RU140061 vom 18. Februar 2015, E. 5.2.). Die Klägerin ist der Ansicht, sobald ein solches Verfahren eröffnet sei, müsse die Schlichtungsbehörde in der Sache zwingend entscheiden. Die Klägerin beruft sich dabei auf BSK ZPO-Infanger, 2. Aufl., Art. 212 N 13 und auf einen Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 2. Februar 2012 (BE.2011.38). Aus Letzterem lässt sich allerdings nichts Konkretes ableiten, da es in diesem Entscheid vielmehr um die Protokollierung des Schlichtungs- und Entscheidverfahrens ging.
Ob sich die Schlichtungsbehörde auch nach eröffnetem Entscheidverfahren dazu entschliessen darf, statt einen Entscheid zu fällen, den Parteien einen Urteilsvorschlag zu unterbreiten oder die Klagebewilligung zu erteilen, sagt das Gesetz nicht. Die Botschaft des Bundesrats zur ZPO enthält dazu ebenfalls nichts bzw. wird darin nur ausgeführt, es handle sich um eine Kann-Vorschrift (BBl 2006, S. 7334 unten). Der überwiegende Teil der Literatur folgt dem (Dike-Komm-ZPO, Rickli, Online-Version vom 18.10.2011, Art. 212 N 6; BK ZPO-Alvarez /Peter, Art. 212 N 9; Kuko ZPO-Gloor / Lukas Umbricht, 2. Aufl., Art. 212 N 3; ZPO Komm-Möhler, 2. Aufl., Art. 212 N 3).
Honegger schliesst sich dieser Ansicht ebenfalls an, indem er ausführt, die Schlichtungsbehörde sei nicht verpflichtet, ein Entscheidverfahren zu eröffnen (ZK ZPO-Honegger, 2. Aufl., Art. 212 N 3). Er sagt allerdings nicht, wie es sich verhält, wenn die Schlichtungsbehörde ein Entscheidverfahren eröffnet hat. Einzig ein Autor äussert sich dazu. Infanger hält fest, dass die Schlichtungsbehörde entscheiden müsse, wenn sie sich einmal dazu entschieden habe, in der Sache einen Entscheid fällen zu wollen. Zu einer Erledigung durch Urteilsvorschlag oder Ausstellung der Klagebewilligung könne die Schlichtungsbehörde nicht mehr wechseln (BSK ZPO-Infanger, 2. Aufl., Art. 212 N 4 und N 13). Weshalb das in Art. 212 ZPO statuierte freie Ermessen zeitlich begrenzt sein soll, begründet der Autor aber nicht.
Selbst wenn sich die Schlichtungsbehörde mit der Eröffnung des Entscheidverfahrens zur gerichtlichen Instanz wandelt, bleibt ein Entscheid in die Besonderheit des Schlichtungsverfahrens eingebettet (vgl. OGer RU110009 vom 8. August 2011, E. 2 m.w.H.). Sodann erfordern Entscheidverfahren, in welchen Billigkeitserwägungen nicht herangezogen werden dürfen, ein entsprechendes Wissen und können für Schlichtungsbehörden, insbesondere wenn es sich bei deren Mitgliedern um nicht juristisch geschulte Personen handelt, eine grosse Herausforderung sein (ZK ZPO-Honegger, 2. Aufl., Art. 212 N 5; Dike-Komm-ZPO, Rickli, Online-Version vom 18.10.2011, Art. 212 N 10, N 12).
In der Regel wird sich die Schlichtungsbehörde auf die Entscheidung von Fällen beschränken, die an der ersten Verhandlung spruchreif sind oder mindestens ohne viel Aufwand zur Spruchreife gebracht werden können (vgl. ZK ZPO-Honegger, 2. Aufl., Art. 212 N 4; Dike-Komm-ZPO, Rickli, Online-Version vom 18.10.2011, Art. 212 N 7, BK ZPO- Alvarez / Peter, Art. 212 N 9; Kuko ZPO-Gloor / Lukas Umbricht, 2. Aufl., Art. 212 N 3).
Ergibt sich hingegen im Verlauf des Entscheidverfahrens, dass die tatsächlichen Verhältnisse streitig, nicht sofort beweisbar oder kompliziert sind, diese nicht in einem Verhandlungstermin geklärt werden können, sich das Beweisverfahren aufwendig oder umfangreich erweist, die Beweise nicht sofort abgenommen werden können oder die rechtlichen Fragen komplex sind, so erscheint es zweckmässig, wenn die Schlichtungsbehörde auf ihre Spruchkompetenz verzichten kann.
Schliesslich soll auch im Interesse der Prozessbeschleunigung von aufwendigen Verfahren vor der Schlichtungsbehörde und von Verhandlungen über mehrere Termine abgesehen werden (vgl. Dike-Komm-ZPO, Rickli, Online-Version vom 18.10.2011, Art. 212 N 7). Nach Ansicht der Kammer darf daher die Schlichtungsbehörde auch bei bereits eröffnetem oder durchgeführtem Entscheidverfahren den Parteien einen Urteilsvorschlag unterbreiten oder die Klagebewilligung ausstellen.
3.3 Nach der Klägerin sei die Sache spruchreif gewesen. Darauf kommt es nicht an, weil die Friedensrichterin von einer allfälligen offensichtlichen Verletzung von Treu und Glauben abgesehen frei war, ob sie ein Urteil fällen wollte. Dass die Sache gar nicht spruchreif, mindestens aber schwierig war, zeigt bereits der Umstand, dass die Beklagte die Verrechnungseinrede erhob. Die damit geltend gemachte Gegenforderung, welche der Beklagten von einem Dritten abgetreten wurde, bestritt die Klägerin hinsichtlich Bestand, Höhe und Fälligkeit.
Da sich der Streitfall in tatsächlicher Hinsicht illiquide erwies und sich nicht zu unterschätzende Rechtsfragen stellten, durfte die Schlichtungsbehörde von einer Entscheidung im Sinne von Art. 212 ZPO absehen. Daran vermag der klägerische Einwand, dass die Beklagte die Verrechnungseinrede erst auf Nachfragen der Friedensrichterin vorgebracht habe, nichts zu ändern. Ob die Nachfrage zulässig war, und wie zu verfahren wäre, wenn die Friedensrichterin die Frage nicht hätte stellen dürfen, macht die Sache nur noch komplizierter und legt(e) es noch eher nahe, dass die Friedensrichterin auf ihre Absicht zurückkam, ein Urteil zu fällen. Die Beschwerde ist somit abzuweisen.
Urteil RU150073 des Obergerichts des Kantons Zürich vom 13.1.2016
Schuldbetreibung
Einrede mangelnden Vermögens bestreitet auch die Schuld
Erhebt ein Betriebener Rechtsvorschlag mit der Begründung, er sei «nicht zu neuem Vermögen gekommen», so ist dies als Einrede mangelnden neuen Vermögens und als Bestreitung der Schuld zu verstehen.
Sachverhalt:
Der Schuldner wurde für eine Forderung aus einem Konkursverlustschein sowie für später entstandene Ansprüche betrieben. Auf dem entsprechenden Zahlungsbefehl schlug der Schuldner fristgerecht Recht vor, mit dem Vermerk «Konkurs 1999 kein neues Vermögen». Gestützt auf die erhobene Einrede legte das Betreibungsamt den Rechtsvorschlag dem Regionalgericht vor. Das Regionalgericht trat auf die Einrede – soweit sie nachkonkursliche Forderungen betraf – nicht ein und bewilligte im Übrigen den Rechtsvorschlag.
Ein Rechtsöffnungsverfahren hinsichtlich der nachkonkurslichen Forderungen fand nicht statt. Für die nachkonkurslichen Forderungen wurde dem Schuldner eine Konkursandrohung zugestellt. Anlässlich der Konkursverhandlung erschien er persönlich und machte geltend, Rechtsvorschlag erhoben zu haben. Der Konkursrichter brach daraufhin die Konkursverhandlung ab und übermachte die Akten der Aufsichtsbehörde zwecks Beurteilung der Nichtigkeitsfrage.
Aus den Erwägungen:
4. Die Nichtigkeit wird jederzeit von Amtes wegen festgestellt (Art. 22 SchKG). Nichtig ist beispielsweise die Fortsetzung einer Betreibung ohne Beseitigung des Rechtsvorschlages (Cometta / Möckli, Basler Kommentar zum SchKG, N 12 zu Art. 22 SchKG).
5. Mit dem Zahlungsbefehl vom 18. August 2015 wurden neben einer Konkursforderung noch weitere, erst später entstandene Ansprüche (Verzugsschaden, Abklärungskosten etc.) in Betreibung gesetzt. Zu klären ist deshalb, ob der Schuldner mit seinem Rechtsvorschlag («kein neues Vermögen») die (nachkonkursliche) Forderung bestritten hat. Wäre dem so, hätte die Konkursandrohung erst nach Beseitigung des Rechtsvorschlages zugestellt werden dürfen.
6. Will der Schuldner in einer neuen Betreibung für die Verlustscheinforderung die Einrede mangelnden neuen Vermögens erheben, so muss er das mit Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl tun (Art. 75 Abs. 2 SchKG). Dazu genügt die Erklärung: «Kein neues Vermögen.»
Mit dieser Einrede wird nicht die Forderung an sich bestritten, sondern bloss die derzeitige Eintreibbarkeit auf dem Betreibungswege. Erklärt der Schuldner hingegen einfach «Rechtsvorschlag», so wird angenommen, er bestreite nur die Schuld und verzichte auf die Einrede.
Umgekehrt aber lässt die Praxis – zugunsten des Schuldners – einen Rechtsvorschlag, der nur die Einrede und sonst keine weitere Bestreitung enthält, auch als gegen die Forderung gerichtet zu (Amonn / Walther, Grundriss des SchKG, § 48 N 36 f; BGer 5A_487/2014 vom 27. Oktober 2014; BGE 103 III 31, BGE 108 III 6; Kantonsgericht Graubünden, Urteil vom 4. September 2002, PKG 2002, 171).
7. Der mit der Einrede des fehlenden neuen Vermögens begründete Rechtsvorschlag gilt folglich auch als Bestreitung der Forderung. Diese Praxis wurde zwar im Zusammenhang mit reinen Verlustscheinforderungen formuliert. Es ist indes nicht ersichtlich, warum sie nicht auch zum Zuge kommen soll, wenn gleichzeitig nachkonkursliche Forderungen betrieben werden. Dies umso mehr, als nicht immer leicht erkennbar ist, ob es sich um reine Konkursforderungen oder um einen Mix mit nachkonkurslichen Forderungen handelt. Überdies sind die Betreibungskosten akzessorisch zur Hauptsache und folgen deren Schicksal.
8. Hier hat der Betriebene auf dem Zahlungsbefehl durch seine Unterschrift in der dafür vorgesehenen Rubrik und mit den Worten «kein neues Vermögen» Recht vorgeschlagen. Nach der referierten Praxis ist dies als Einrede mangelnden neuen Vermögens und Bestreitung der Schuld zu verstehen.
Eine Fortsetzung der Betreibung hätte deshalb verlangt, dass der «normale» (gegen die nachkonkurslichen Forderungen gerichtete) Rechtsvorschlag durch Rechtsöffnung beseitigt worden wäre. Da es hier aber nie zu einer gerichtlichen Beseitigung des Rechtsvorschlages gekommen ist, erweist sich die Konkursandrohung vom 27. Januar 2016 (zugestellt am 1. Februar 2016) als nichtig.
Entscheid Abs. 16 152 der Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen des Kantons Bern vom 20.6.2016
Strafprozessrecht
Unzulässige Mehrfachbefassung als Ausstandsgrund
Hat sich ein Richter oder ein Gerichtsschreiber bereits mindestens einmal in einem Sachurteil zu einem Fall geäussert, darf er dies nicht erneut tun. Der Verfahrensgang erscheint dann nämlich nicht mehr offen, weshalb eine unzulässige Mehrfachbefassung und damit ein Ausstandsgrund nach Art. 56 lit. f StPO vorliegt.
Sachverhalt:
Gegen den Gesuchsteller wurde eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 des Schweizerischen Strafgesetzbuches angeordnet. Am 25. Juni 2014 verlängerte das Regionalgericht Bern-Mittelland zum zweiten Mal die stationäre therapeutische Massnahme um drei Jahre, wogegen der Gesuchsteller am 2. Juli 2014 Beschwerde führte. Die mit der Sache befasste Beschwerdekammer in Strafsachen wies die Beschwerde des Gesuchstellers in der Folge zwei Mal ab und bestätigte die durch die erste Instanz angeordnete Verlängerung der stationären Massnahme um drei Jahre. Gegen diesen Entscheid erhob der Gesuchsteller Beschwerde beim Bundesgericht. Dieses hiess die Beschwerde gut, hob den Beschluss der Beschwerdekammer auf und wies die Sache zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beizug des psychiatrischen Gutachters und zur neuen Entscheidung zurück. Das Bundesgericht erachtete anders als die Beschwerdekammer die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beizug des Gutachters als geboten.
Mit Schreiben vom 19. Juli 2016 gab die Präsidentin der Beschwerdekammer in Strafsachen, Oberrichterin A dem Gesuchsteller bekannt, dass die Verhandlung vor der Beschwerdekammer in der ordentlichen Besetzung stattfinden werde (Oberrichterin A, Oberrichter B, Oberrichter C und Gerichtsschreiber D). Dagegen erhob der Gesuchsteller am 21. Juli 2016 ein Ausstandsgesuch mit dem Antrag, es hätten sämtliche Oberrichterinnen und Oberrichter sowie Gerichtsschreiber, die im gleichen Beschwerdeverfahren bei der zweiten Entscheidung im Spruchkörper beteiligt gewesen seien, in den Ausstand zu treten.
Aus den Erwägungen:
1./1.2 Am 25. Juni 2014 verlängerte das Regionalgericht Bern-Mittelland zum zweiten Mal die stationäre therapeutische Massnahme um drei Jahre. Dagegen führte der Gesuchsteller am 2. Juli 2014 Beschwerde. Am 30. September 2014 wies die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Bern die Beschwerde ab (BK 14 227). Gegen diesen Entscheid reichte der Gesuchsteller am 21. Oktober 2014 Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein. Das Bundesgericht hiess mit Urteil vom 3. September 2015 die Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat, hob den Entscheid der Beschwerdekammer auf und wies die Sache zur neuen Beurteilung zurück (68_1021/2014, publ.: BGE 141 IV 396).
Hintergrund der Kassation war, dass die Beschwerdekammer die Beschwerdeergänzung des Gesuchstellers vom 14. Juli 2014 zu Unrecht nicht zu den Akten erkannt hatte. Die Kassation erfolgte demnach aus formellen Gründen.
1.3 Am 15. März 2016 wies die wieder mit der Sache befasste Beschwerdekammer in Strafsachen die Beschwerde des Gesuchstellers erneut ab und bestätigte die durch die erste Instanz angeordnete Verlängerung der stationären Massnahme um drei Jahre (BK 15 284). Auch gegen diesen Entscheid erhob der Gesuchsteller Beschwerde beim Bundesgericht. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat, hob den Beschluss der Beschwerdekammer auf und wies die Sache zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beizug des psychiatrischen Gutachters und zur neuen Entscheidung zurück (6B_320/2016). Der Grund dieser Kassation war ebenfalls formeller Natur. Das Bundesgericht erachtete anders als die Beschwerdekammer die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beizug des Gutachters als geboten.
1.4 Mit Schreiben vom 19. Juli 2016 gab die Präsidentin der Beschwerdekammer in Strafsachen, Oberrichterin A dem Gesuchsteller bekannt, dass die Verhandlung vor der Beschwerdekammer in der ordentlichen Besetzung stattfinden werde (Oberrichterin A, Oberrichter B, Oberrichter C und Gerichtsschreiber D). Dagegen erhob der Gesuchsteller am 21. Juli 2016 ein Ausstandsgesuch mit dem Antrag, es hätten sämtliche Oberrichterinnen und Oberrichter sowie Gerichtsschreiber, die im gleichen Beschwerdeverfahren bei der zweiten Entscheidung im Spruchkörper beteiligt gewesen seien, in den Ausstand zu treten. Soweit ersichtlich, seien dies Oberrichterin A, Oberrichter C und Gerichtsschreiber D.
Mit Verfügung vom 28. Juli 2016 teilte der Verfahrensleiter mit, dass das Ausstandsgesuch in der Kammerzusammensetzung Oberrichter E, Oberrichter F und Oberrichter G beurteilt werde. Am 28. Juli 2016 legte der Verfahrensleiter aus Transparenzgründen offen, dass er als erstinstanzlicher Richter betreffend den Gesuchsteller bereits im Jahr 2007 ein Urteil erlassen habe. Im Jahr 2011 habe er zudem als Präsident des Regionalgerichts Bern-Mittelland die Frage der Verlängerung der ausgesprochenen Massnahme zu beurteilen gehabt. Der Verfahrensleiter führte aus, der heute zur Diskussion stehende Ausstandsgrund habe mit den erwähnten Verfahren nicht direkt zu tun. Er erachte sich zur Beurteilung der sich heute stellenden Fragen als in keiner Weise befangen. Mit Stellungnahme vom 8. August 2016 teilten die Gesuchsgegner Oberrichterin A, Oberrichter C und Gerichtsschreiber D mit, dass sie sich dem Ausstandsgesuch nicht widersetzen werden. Der Gesuchsteller liess sich nicht mehr vernehmen.
2. Das Ausstandsgesuch des Gesuchstellers richtet sich gegen Oberrichterin A, Oberrichter C und Gerichtsschreiber D. Diese Gerichtspersonen haben bereits an der Neubeurteilung gemäss Entscheid vom 15. März 2016 mitgewirkt und sind als ordentliche Besetzung für die neuerliche Neubeurteilung nach dem Urteil des Bundesgerichts vom 26. Mai 2016 vorgesehen. Oberrichter B, welcher ebenfalls als ordentliches Mitglied für die Neubeurteilung vorgesehen ist, war bislang in der vorliegenden Sache weder am Entscheid vom 30. September 2014 noch am Entscheid vom 15. März 2016 beteiligt. Entsprechend dem Antrag des Gesuchstellers betrifft das Ausstandsgesuch Oberrichter B folglich nicht.
3. Der Gesuchsteller macht zusammengefasst geltend, werde die gleiche Sache ein zweites Mal wegen eklatanten Verfahrensverstössen zurückgewiesen, dränge sich der Verdacht auf, dass es dem urteilenden Gericht bei der zweiten Behandlung des Falles wieder nicht gelungen sei, die Sache mit der nötigen unvoreingenommenen Sorgfalt zu behandeln.
Bei der dritten Beurteilung sei daher eine Befangenheit im Sinne der Generalklausel von Art. 56 Bst. f StPO bzw. der Vorbefassung im Sinne von Art. 56 Bst. b StPO zu vermuten, sofern jemand am zweiten Verfahren vor Obergericht beteiligt gewesen sei.
Der Verdacht liege allzu nahe, dass auch beim dritten Verfahren nicht mit einer sachlichen Verfahrensführung zu rechnen wäre und die in der Sache vorbefassten Oberrichter und Oberrichterinnen und Gerichtsschreiber sich bereits derart auf das Ergebnis festgelegt hatten, dass das Verfahren schlicht nicht mehr als offen erscheine.
4.1 Die verfassungsmässige Garantie von Art. 30 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV; SR 101) gewährleistet jeder Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, unter anderem den Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht. Eine Gerichtsperson gilt als befangen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in ihre Unparteilichkeit zu erwecken. Solche Umstände können entweder in einer bestimmten persönlichen Einstellung zum Verfahrensgegenstand, einem persönlichen Verhalten der betreffenden Person oder in gewissen äusseren Gegebenheiten liegen.
Entscheidendes Kriterium ist, ob bei problematischen Konstellationen der Ausgang des Verfahrens bei objektiver Betrachtungsweise noch als offen erscheint (Markus Boog, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 8 zu Vor Art. 56 – 60 StPO). Gemäss Art. 56 lit. f StPO tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person in den Ausstand, wenn sie aus anderen Gründen (als den in lit. a–e genannten), insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand befangen sein konnte.
Die Mehrfachbefassung eines Richters in der gleichen Stellung mit der gleichen Sache stellt nicht automatisch einen Ausstandsgrund dar. Ein Richter kann nach der Kassation und Rückweisung seines Urteils grundsätzlich erneut tätig werden. Der Beurteilungsspielraum bei der Neubeurteilung ist regelmässig begrenzt und der Richter an die Auffassungen des oberinstanzlichen Gerichts gebunden. Anders sieht es aus bei Kassationen aus rein formellen Gründen. In dieser Konstellation soll der Richter, der sich bereits einmal in der gleichen Sache festgelegt hat, noch einmal urteilen, und zwar ohne dabei an Weisungen gebunden zu sein.
Der Verfahrensausgang erscheint in diesen Konstellationen nicht mehr ohne Weiteres als offen. Der Richter hat sich seine Meinung gebildet und diese auch geäussert (vgl. Andreas J. Keller, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 32 Art. 56 StPO). Wenn also zu erwarten ist, der Richter habe sich in Bezug auf einzelne Fragen bereits in einem Ausmass festgelegt, dass das Verfahren nicht mehr als offen erscheint, kann eine Mehrfachbefassung im Sinne von Art. 56 lit. 1 StPO relevant werden (BOOG, a.a.O., N. 28 und 61 zu Art. 56 StPO mit weiteren Hinweisen; vgl. BGE 131 I 113, E. 3.4, S. 116, mit weiteren Hinweisen).
Die Ausstandsregeln von Art. 56 ff. StPO beziehen sich auch auf den Gerichtsschreiber, soweit dieser mit beratender Stimme am Verfahren teilnimmt (Boog, 31.30., N. 12 zu Art. 56 StPO).
4.2 Wie vorne unter Ziff. 1.2 f. beschrieben, wurde der Entscheid der Beschwerdekammer in Strafsachen vom 30. September 2014 (Kammerzusammensetzung: Oberrichterin A [Präsidentin], Oberrichterin H, Oberrichterin I, Gerichtsschreiber D) aus formellen Gründen – wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs – aufgehoben und die Sache unter Berücksichtigung der zu Unrecht aus dem Recht gewiesenen Beschwerdeergänzung des Gesuchstellers vom 14. Juli 2014 zur neuen Entscheidung zurückgewiesen. Auch der nach der Neubeurteilung gefällte Entscheid der Beschwerdekammer vom 15. März 2016 (Kammerzusammensetzung: Oberrichterin A [Präsidentin], Oberrichter C, Oberrichterin H, Gerichtsschreiber D, wurde vom Bundesgericht wegen formellen Gründen aufgehoben und die Sache wurde zur Durchführung der vom Bundesgericht als geboten erachteten mündlichen Verhandlung unter Beizug des psychiatrischen Gutachters und zur neuen Entscheidung zurückgewiesen.
Damit liegt eine Konstellation vor, wie sie soeben unter Ziff. 4.1 umschrieben wurde. Die abgelehnte Oberrichterin A und Oberrichter C und der als beratende Stimme mitwirkende Gerichtsschreiber D haben bereits in derselben Sache ein materielles Urteil gegen den Gesuchsteller gefällt (Neubeurteilungsentscheid vom 15. März 2016). Mit Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Beizug des psychiatrischen Gutachters wird der Gesuchsteller mit Unterstützung seines amtlichen Verteidigers zwar Gelegenheit haben, erneut seinen Standpunkt darzulegen.
Die abgelehnten Oberrichter und der Gerichtsschreiber haben sich aber bereits im Urteil vom 15. März 2016 eingehend zur Therapierbarkeit des Gesuchstellers und zur Verhältnismässigkeit der Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme geäussert. Sie haben sich so eine fundierte Meinung zu den konkret zu entscheidenden Rechtsfragen gebildet und diese Meinung auch im Entscheid geäussert. Oberrichterin A und Gerichtsschreiber D waren zudem bereits am Beschwerdeentscheid vom 30. September 2014 beteiligt, auf welchen im Entscheid vom 15. März 2016 Bezug genommen wird (vgl. E. 2 des Entscheides vom 15. März 2016) und welcher sich ebenfalls materiell zur Sache (Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme) äussert.
Angesichts dessen, dass sich die abgelehnten Oberrichter und der Gerichtsschreiber bereits einmal resp. Oberrichterin A und Gerichtsschreiber D zweimal in derselben Sache in einem Sachurteil festgelegt haben, erscheint der Verfahrensgang nicht mehr offen, wenn das Gericht erneut in gleicher Besetzung urteilt. Es liegt eine unzulässige Mehrfachbefassung und somit ein Ausstandsgrund nach Art. 56 831. f StPO vor. Es erscheint sachgerecht, dass die Besetzung der Beschwerdekammer für die Neubeurteilung BK 16 222 ohne Mitwirkung von Oberrichterin A, Oberrichter C und Gerichtsschreiber D neu bestimmt wird.
Das Ausstandsgesuch ist somit gutzuheissen. Die am Beschluss vom 15. März 2016 beteiligten Gerichtspersonen Oberrichterin A, Oberrichter C und Gerichtsschreiber D haben im Verfahren BK 16 222 in den Ausstand zu treten. Die Beschwerdekammer hat sich für das Verfahren BK 16 222 neu zusammenzusetzen.
Beschluss SK 16 284 des Obergerichts des Kantons Bern vom 17.8.2016
Rechtliches Gehör kann nachträglich gewährt werden
Es ist unzulässig, dass die Staatsanwaltschaft einen Gutachterauftrag erteilt, ohne dem Beschuldigten vorgängig die Möglichkeit zu geben, sich zur Person des Sachverständigen und den Fragen zu äussern. Dies, sofern dem Verteidiger die entsprechende Verfügung zeitgleich zugestellt und darauf hingewiesen wird, dass Einwände und Ergänzungsfragen mitzuteilen seien.
Sachverhalt:
Die Vorinstanz erteilte mittels Verfügung einen Gutachterauftrag und stellte eine Kopie davon zeitgleich dem Verteidiger des Beschwerdeführers zu. Dieser sollte der Vorinstanz allfällige Einwände gegen die sachverständige Person oder zu gestellten Fragen oder allfällige Ergänzungsfragen innert zehn Tagen mitteilen.
Aus den Erwägungen:
II./2 Gemäss Art. 184 Abs. 3 StPO gibt die Verfahrensleitung den Parteien vorgängig (zur Erteilung des Gutachterauftrags) Gelegenheit, sich zur sachverständigen Person sowie zu den Fragen zu äussern und dazu eigene Anträge zu stellen. Das Ziel dieser Bestimmung besteht darin, allfällige Ausstandsgründe möglichst frühzeitig zu erkenne