Zivilprozessrecht
Zuständigkeit: Behauptungen des Klägers massgebend
Ist die sachliche Zuständigkeit der Schlichtungsbehörde streitig, hat die Schlichtungsbehörde grundsätzlich auf die Behauptungen der klagenden Partei abzustellen. Ausnahme: Die Ausführungen des Klägers können durch die Klageantwort und die von der Gegenseite produzierten Dokumente eindeutig widerlegt werden.
Sachverhalt:
Die Parteien sind sich nicht einig darüber, ob ihr Vertrag ein landwirtschaftliches Pachtverhältnis begründete, womit dem Entscheidverfahren ein Schlichtungsversuch vor dem ordentlichen Friedensrichter vorauszugehen hätte, oder eine gewöhnliche Pacht, womit die Schlichtungsbehörde in Miet- und Pachtsachen zuständig wäre. Das Mietgericht trat auf die unter Beilage einer Klagebewilligung der Schlichtungsbehörde in Miet- und Pachtsachen eingeleitete Klage nicht ein, weil nach seiner Qualifikation des Vertrages richtigerweise der ordentliche Friedensrichter zuständig gewesen wäre. Das Zürcher Obergericht hebt den Entscheid auf.
Aus den Erwägungen:
1. Im vorliegenden Beschwerdeverfahren dreht sich der Streit um die Gültigkeit der Klagebewilligung. Es ist danach zu fragen, ob die Vorinstanz zu Recht einen Nichteintretensentscheid mangels gültiger Klagebewilligung gefällt hat bzw. ob sich der Kläger auf die Klagebewilligung der Schlichtungsbehörde in Miet- und Pachtsachen des Bezirksgerichts A. stützen kann, obwohl die Vorinstanz von einem landwirtschaftlichen Pachtverhältnis ausgeht.
2.2 Vor Vorinstanz war die rechtliche Qualifikation des zwischen den Parteien geschlossenen Vertrages umstritten. Der Kläger war bzw. ist der Ansicht, da ihm gegen die Beklagten ein Anspruch aus Mietvertrag zustehe, habe er sein Schlichtungsgesuch bei der Schlichtungsbehörde in Miet- und Pachtsachen am Bezirksgericht A. eingereicht. Die Beklagten stellten bzw. stellen sich hingegen auf den Standpunkt, mit dem Kläger einen Vertrag über eine landwirtschaftliche Pacht abgeschlossen zu haben, weshalb der Kläger sein Schlichtungsgesuch beim ordentlichen Friedensrichter hätte einreichen müssen.
2.3 Die sachliche Zuständigkeit ist zwingend. Vereinbarungen sind nur zulässig, wenn das kantonale Recht es entsprechend vorsieht (ZK ZPO-Wey, 2. Aufl., Art. 4 N 7; BSK ZPO-Vock/Nater, 2. Aufl., Art. 4 N 5). Da das Gesetz über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess (GOG) dies nicht vorsieht, kann sich eine beklagte Partei auf ein Schlichtungsverfahren vor einer sachlich unzuständigen Schlichtungsbehörde nicht einlassen (vgl. aber OGer ZH NP 130 005 vom 10. Juli 2013, wonach sich eine beklagte Partei auf das Verfahren vor einer örtlich unzuständigen Schlichtungsbehörde gültig einlassen kann).
Hängt die sachliche Zuständigkeit von der rechtlichen Qualifikation des geltend gemachten Anspruchs ab, spricht man vom Problem der sog. doppelrelevanten Tatsache. Nach einem allgemeinen prozessualen Grundsatz ist bei der Beurteilung der Zuständigkeit primär auf den vom Kläger eingeklagten Anspruch und dessen Begründung abzustellen. In diesem Sinne sind vom Kläger behauptete Tatsachen, die sowohl für die örtliche oder sachliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts als auch für die Begründetheit der Klage erheblich sind, für die Beurteilung der Zuständigkeit als wahr zu unterstellen.
Die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts hängt daher von der gestellten Frage ab, und nicht von deren Beantwortung, die im Rahmen der materiellen Prüfung zu erfolgen hat. Sie wird erst im Moment der materiellen Prüfung des eingeklagten Anspruchs untersucht. Eine Ausnahme gilt nur für den Fall, dass der klägerische Tatsachenvortrag auf Anhieb fadenscheinig oder inkohärent erscheint und durch die Klageantwort sowie die von der Gegenseite produzierten Dokumente unmittelbar und eindeutig widerlegt werden kann. Nur wenn in diesem Sinne die vom Kläger behauptete rechtliche Qualifikation seines Anspruchs ausgeschlossen erscheint, ist auf die Klage mangels Zuständigkeit nicht einzutreten (BGE 137 III 32, E. 2.2 und 2.3. m.w.H.; ZR114/2014 Nr. 36 S. 143 mit Verweis auf ZR 111/2012 Nr. 6).
2.4 Vorliegend hängt für das gerichtliche Verfahren die sachliche Zuständigkeit nicht von der rechtlichen Qualifikation des Vertrages ab. Die Vorinstanz wäre nämlich sowohl bei einer Streitigkeit in Mietsachen als auch bei Streitigkeiten aus landwirtschaftlicher Pacht für die Beurteilung der Klage in der Sache an sich örtlich und sachlich zuständig (§ 26 i.V.m. § 21 Abs. 1 GOG; vgl. bereits E. III./1. vorne). Hingegen hängt die Frage, ob die sachlich zuständige Schlichtungsbehörde die Klagebewilligung ausgestellt hat, mit der Qualifikation des zwischen den Parteien vereinbarten Vertrages zusammen.
Das hiervor Erwogene (Ziffer 2.3.) ist daher auch im Rahmen der Überprüfung der Gültigkeit der Klagebewilligung, die zu den Prozessvoraussetzungen zählt, zu beachten. Wie bereits gesagt, genügt es für die Zulässigkeitsprüfung bei doppelrelevanten Tatsachen, wenn der Kläger das Vorliegen der Eintretensvoraussetzungen schlüssig behauptet. Der Kläger, der – im Gegensatz zu den Beklagten – von einem Mietvertrag ausging, reichte sein Schlichtungsgesuch bei der Schlichtungsstelle in Miet- und Pachtsachen am Bezirksgericht A. ein. Abschliessend zu prüfen, ob es sich bei einer umstrittenen Qualifikation des Vertrags tatsächlich um ein Mietverhältnis handelt, ist nicht Aufgabe der Schlichtungsbehörde. Eine Schlichtungsbehörde hat im Rahmen der Prüfung ihrer sachlichen Zuständigkeit vielmehr auf die behaupteten Tatsachen des Klägers abzustellen.
In seinem Schlichtungsgesuch führte der Kläger aus, die eingeklagte Forderung stütze sich auf den zwischen ihm als Vermieter und den Beklagten als Mieter geschlossenen Vertrag vom 28. Februar 2010. Die Beklagten hätten den Mietzins in Höhe von 8000 Franken für den Monat November 2012 nicht bezahlt. Sodann wies der Kläger darauf hin, dass er von seinem Retentionsrecht nach Art. 268 OR Gebrauch gemacht habe.
Die vom Kläger behauptete rechtliche Qualifikation seines Anspruchs erschien daher aus Sicht der Schlichtungsbehörde nicht von vornherein als offensichtlich unrichtig. Hinzu kommt, dass die Schlichtungsbehörde einzig anhand des eingereichten Vertrags nicht ohne Weiteres auf ein landwirtschaftliches Pachtverhältnis schliessen konnte, zumal die im ersten Kapitel des Bundesgesetzes über die landwirtschaftliche Pacht umschriebenen Kriterien in diesem Vertrag nicht enthalten sind. Die Schlichtungsbehörde muss in erster Linie versuchen, den Streit der Parteien zu schlichten, und – falls ihr dies nicht gelingt – eine Klagebewilligung ausstellen (4A_28/2013 E. 2.3 = Pra 103 [2014] Nr. 6 mit Verweis auf 4A_281/2012, E. 1.2).
Da die Schlichtungsbehörde aufgrund des Gesagten ihre Zuständigkeit zu Recht bejahte, mithin sich nicht offensichtlich als unzuständig erachtete, hatte sie dem Kläger zufolge fehlender Einigung die Klagebewilligung auszustellen. Im bereits erwähnten Verfahren konnte die Vorinstanz sodann erst im Rahmen der materiellen Prüfung des Anspruchs feststellen, dass zwischen den Parteien ein landwirtschaftliches Pachtverhältnis besteht. Lässt sich die Qualifikation eines Vertrags und damit die sachliche Zuständigkeit der Schlichtungsbehörde erst in diesem Stadium beurteilen, darf ein Nichteintretensentscheid mangels gültiger Klagebewilligung nicht erfolgen.
In solchen Fällen ist die Klagebewilligung als gültig zu erachten, auch wenn sich später, d.h. bei der Prüfung der Begründetheit des Anspruchs, herausstellt, dass die Behauptungen des Klägers falsch waren und der Anspruch rechtlich anders zu qualifizieren ist, mithin eine andere Schlichtungsbehörde sachlich zuständig gewesen wäre. Daher darf auf eine Klage nur bei einer von einer offensichtlich unzuständigen Schlichtungsbehörde ausgestellten Klagebewilligung nicht eingetreten werden (vgl. BGE 139 III 273 E. 2.1 = Pra 103 [2014] Nr. 6). Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall.
Im Übrigen ist zu beachten, dass ein Aussöhnungsversuch vor einer Schlichtungsbehörde durchgeführt wurde. Eine blosse Wiederholung ergebnisloser Aussöhnung vor der zuständigen Behörde (d.h. gemäss Vorinstanz vor dem Friedensrichter) würde sich als sinnlos erweisen, und zwar auch deshalb, weil die Vorinstanz in jedem Fall das örtlich und sachlich zuständige Gericht ist (vgl. E. III./1. oben). Hinzu kommt, dass den Beklagten durch die Teilnahme an der Schlichtungsverhandlung vor der Schlichtungsbehörde in Miet- und Pachtsachen kein Nachteil erwachsen ist. Richtigerweise gehen die Beklagten in der Beschwerde auf diesen Punkt nicht ein. Sie bringen auch nicht vor, was einen zweiten Aussöhnungsversuch rechtfertigen könnte.
Urteil PD 150 011-O/U des Zürcher Obergerichts vom 21.9.2015
Alle Beweismittel im ersten Schriftenwechsel
Im summarischen Verfahren sind alle Tatsachen und Beweismittel bereits mit dem Gesuch oder der Gesuchsantwort einzureichen. Diese Obliegenheit gilt unabhängig von der Beweislast. Voraussehbare Einreden und Einwendungen der gesuchsgegnerischen Partei sind bereits im Gesuch zu entkräften und erfolgen mit der Replik verspätet.
Sachverhalt:
Die Berufungsklägerin kaufte beim Instrumentenbauer Z. ein wertvolles Instrument. Das Instrument gelangte in der Folge gegen den Willen der Berufungsklägerin in die Hände der Berufungsbeklagten, bei welcher es sich auch zum Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs um Erlass vorsorglicher Massnahmen (Hinterlegung, eventuell Verfügungssperre) noch befand. Die Vorinstanz wies das Gesuch ab, weil es der Berufungsklägerin nicht gelungen sei, ihren Verfügungsanspruch glaubhaft zu machen (Art. 261 Abs. 1 lit. a ZPO).
Aus den Erwägungen:
2.3.1 Wie die Berufungsbeklagte zu Recht darauf hinweist, sind im Summarverfahren nach der Praxis des Obergerichts sämtliche Tatsachen und Beweismittel bereits mit dem Gesuch bzw. der Gesuchsantwort einzureichen (vgl. Entscheid ZK 12 217 vom 21. September 2012 der 2. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern E. 19–26; bestätigt im Entscheid ZK 14 476 vom 4. Dezember 2014 der 2. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern E. 6. f.).
Das Summarverfahren ist auf eine rasche Streiterledigung ausgerichtet, was sich auch aus der Art der diesem Verfahren gemäss Art. 248–251 ZPO zugewiesenen Streitigkeiten ergibt: Dabei handelt es sich entweder um klare Fälle (klares Recht), solche besonderer Dringlichkeit oder vorläufiger Natur (vorsorgliche Massnahmen), beschränkter Tragweite oder besonderer Einfachheit (freiwillige Gerichtsbarkeit sowie gesetzlich ins Summarium verwiesene Fälle) oder solche mit beschränkter Rechtskraft (freiwillige Gerichtsbarkeit, vgl. Art. 256 Abs. 2 ZPO).
Mit einem auf Einfachheit und Raschheit ausgerichteten Verfahren verträgt sich weder ein langes Behauptungsstadium noch ein weitläufiges Beweisverfahren. Andere Beweismittel als Urkunden sind daher abgesehen von hier nicht relevanten Fällen nur zulässig, wenn sie das Verfahren nicht verzögern (Art. 254 Abs. 2 lit. a ZPO). Das Gericht kann zudem auf eine Verhandlung verzichten und aufgrund der Akten entscheiden, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt (Art. 256 Abs. 1 ZPO). Ein zweiter Schriftenwechsel, der selbst im ordentlichen Verfahren nicht zwingend vorgeschrieben ist (Art. 225 ZPO), findet nur ausnahmsweise statt.
Der gemäss Art. 219 ZPO vorgeschriebenen sinngemässen Anwendung der Bestimmungen des Hauptverfahrens sind schon aufgrund dieser Eigenheiten enge Grenzen gesetzt. Art. 229 Abs. 2 ZPO, der bestimmt, dass neue Tatsachen und Beweismittel zu Beginn der Hauptverhandlung unbeschränkt vorgebracht werden können, wenn weder ein zweiter Schriftenwechsel noch eine Instruktionsverhandlung stattgefunden hat, kann seinem Wortlaut nach auch sinngemäss nur anwendbar sein, wenn tatsächlich eine mündliche Verhandlung stattfindet. Haben aber die Parteien weder Anspruch auf eine mündliche Verhandlung noch auf einen zweiten Schriftenwechsel, folgt daraus zwingend, dass sie die zur Beurteilung notwendigen Tatsachen und Beweismittel auf einmal vorbringen müssen. Denn die Anliegen der Gleichbehandlung aller Rechtssuchenden und der Rechtssicherheit erfordern es, dass der Zeitpunkt des Aktenschlusses für alle Summarverfahren gleich bestimmt wird. Deshalb kann dieser Zeitpunkt nicht davon abhängen, ob das Gericht einen zweiten Schriftenwechsel anordnet oder eine mündliche Verhandlung durchführt.
Diese Rechtslage läuft auch nicht den Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Nr. 1 EMRK zuwider. Gemäss diesen Bestimmungen haben die Parteien das Recht, von sämtlichen Eingaben der Gegenpartei Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen (statt vieler BGE 138 I 484 E. 2.1). Wie das Bundesgericht bereits erkannt hat, ergibt sich daraus kein Anspruch, jederzeit mit neuen Tatsachenvorbringen gehört zu werden (vgl. Urteil des BGer 4A_252/2012 vom 27. September 2012 E. 5.6), sondern nur darauf, sich mit den Vorbringen der Gegenpartei argumentativ auseinanderzusetzen.
2.3.2 Die Obliegenheit, sämtliche Tatsachen und Beweismittel bereits im Gesuch vorzubringen, gilt grundsätzlich unabhängig von der Beweislast. Sie erstreckt sich damit nicht nur auf Tatsachen, für welche die gesuchstellende Partei beweispflichtig ist (Hauptbeweis), sondern auch auf sämtliche nach den Umständen voraussehbaren Einwendungen der Gegenpartei, mit denen diese den Beweis der gesuchstellenden Partei zu entkräften sucht (Gegenbeweis), und im Grundsatz auch auf deren voraussehbare Einreden. Macht z.B. die Gegenpartei schon in der vorprozessualen Auseinandersetzung Tilgung, Verjährung oder Verrechnung geltend, so hat die gesuchstellende Partei ihre eigenen Einwendungen gegen die entsprechenden rechtsaufhebenden bzw. -hemmenden Tatsachen bereits im Gesuch vorzubringen. Eine Ausnahme von dieser Regel ist dann gerechtfertigt, wenn in der Gesuchsantwort überraschend Tatsachen und Umstände vorgetragen werden, mit denen weder aufgrund der vorprozessualen Auseinandersetzung noch nach den Umständen gerechnet werden musste.
In einem solchen Fall hat die gesuchstellende Partei gestützt auf Art. 229 Abs. 1 lit. b ZPO unverzüglich eine Noveneingabe zu machen bzw. zur Ergänzung ihres Tatsachenvortrags einen zweiten Schriftenwechsel zu beantragen. Diese Ausnahme ist für die klassischen Einreden (Tilgung, Verrechnung, Verjährung), die neben dem Nachweis der sie begründenden Tatsachen zusätzlich eine rechtsgeschäftliche Erklärung erfordern (vgl. für die Verrechnung Peter, in: Honsell/Vogt/Wiegand [Hrsg.], Basler Kommentar, Obligationenrecht I, Art. 1–529, 5. Aufl. 2011, Art. 124 N 1 und 1a; Gauch, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, Band II, 10. Aufl. 2014, § 31 N 3247 f.; für die Verjährung Däppen, in: Honsell/Vogt/Wiegand [Hrsg.], Basler Kommentar, Obligationenrecht I, Art. 1–529, 5. Aufl. 2011, Art. 142 N 1–3; Gauch, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, Band II, 10. Aufl. 2014, § 32 Rz. 3361 f.), grosszügiger zu handhaben als für blosse Einwendungen der Gegenpartei.
Denn es kann der gesuchstellenden Partei nicht zugemutet werden, die Gegenpartei darauf hinzuweisen, dass eine Forderung beispielsweise verjährt sein könnte, wenn die Verjährung unter den Parteien bisher nicht zur Sprache gekommen ist. Geht es hingegen um Einwendungen, d.h. um Tatsachenvorbringen der Gegenpartei, die geeignet sind, den Bestand des eigenen behaupteten Rechts in Zweifel zu ziehen (vgl. Gauch, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, Band I, 10. Aufl. 2014, § 2 Rz. 78; Büsser, Einreden und Einwendungen der Bank als Garantin gegenüber dem Zahlungsanspruch des Begünstigten, Diss. 1997, Rz. 24 f.), sowie um blosse rechtshemmende oder -aufhebende Tatsachen, für welche die Gegenpartei selbst den Hauptbeweis trägt, hat die gesuchstellende Partei auch diese nach den Umständen voraussehbaren Vorbringen der Gegenpartei bereits im eigenen Tatsachenvortrag zu entkräften, ohne dass sie in der vorprozessualen Auseinandersetzung bereits zur Sprache gekommen sein müssten.
2.3.4 Im Ergebnis ist es daher nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz sich nicht eigens mit den in der Replik vorgebrachten neuen Tatsachen auseinandersetzte.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das rechtliche Gehör nach konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung keinen Anspruch darauf gibt, dass sich das Gericht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass der Betroffene den Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann. Dazu ist ausreichend, dass das Gericht die wesentlichen Überlegungen nennt, von denen es sich hat leiten lassen und auf die sich sein Entscheid stützt (BGE 130 II 530, E. 4.3, S. 540; BGE 129 I 232, E. 3.2; BGE 126 I 97, E. 2b).
Entscheid ZK 15 206 des Berner Obergerichts vom 15.7.2015
Abweichende Beurteilung: Hinweis an Parteien geboten
Eine Spruchkammer ist bei der Beurteilung eines Rechtsstreits nicht an eine Meinungsäusserung des Vorsitzenden gebunden. Der Grundsatz von Treu und Glauben kann aber einen Hinweis an die Parteien gebieten, bevor das Verfahren gegenteilig erledigt wird.
Sachverhalt:
Die Kläger hatten eine unbezifferte Forderungsklage erhoben. Die Vorsitzende des Gerichts erwägt in einer formellen Verfügung, die unbezifferte Forderungsklage sei zwar nur eingeschränkt, hier aber doch zulässig, und die klagende Partei möge noch den Mindestbetrag nennen. Die Bezifferung erfolgt, das Hauptverfahren wird inklusive mündlicher Hauptverhandlung vollständig durchgeführt. Als die Vergleichsbemühungen des Gerichts scheitern, beschliesst das Gericht Nichteintreten auf die Klage: Eine unbezifferte Klage sei in diesem Fall nicht zulässig. Das Obergericht Zürich hebt den Entscheid auf.
Aus den Erwägungen:
Eine Klage- oder andere Rechtsschrift, welche die Voraussetzungen für die unbezifferte Forderungsklage nicht ausreichend darstellt, ist nicht formell mangelhaft im Sinne von Art. 132 ZPO. Die Rüge der Kläger, sie hätten gestützt auf diese Bestimmung zur Verbesserung angehalten werden sollen, ist nicht begründet. Die richterliche Fragepflicht nach Art. 56 ZPO wird in der Praxis gegenüber anwaltlich vertretenen Parteien sehr zurückhaltend gehandhabt, und die Problematik der Zulässigkeit der unbezifferten Forderungsklage ist bekannt, ein Hinweis darauf in der Regel daher grundsätzlich nicht erforderlich. Dass das Bezirksgericht zur Sache durchplädieren liess, eine vorläufige (Kurz-)Expertise einholte und mit den Parteien über einen Vergleich verhandelte, bevor es dann gestützt auf eine prozessuale Überlegung auf die Klage nicht eintrat, ist unschön.
Nach dem Prinzip der sogenannten Eventualmaxime sind die Parteien allerdings gehalten, zu allen formellen und sachlichen Punkten abschliessend Stellung zu nehmen; die Einschränkung des Verfahrens auf einzelne formelle oder materielle Themata steht im Ermessen des Gerichts (Art. 125 lit. a ZPO) und ist nach der praktischen Erfahrung eine zweischneidige Sache, weil das Verfahren sehr viel komplizierter wird, wenn die Verfahrenserledigung aufgrund des eingeschränkten Themas dann doch nicht gelingt. Und wenn eine Prozessvoraussetzung fehlt, kann sie auch unter Berufung auf Art. 29 BV oder Art. 6 EMRK nicht erstellt werden mit dem Hinweis auf eine unökonomische Prozessleitung des Gerichts.
Hingegen geht es nicht an, dass das Gericht, wenn auch nur durch seine Vorsitzende, ausdrücklich zunächst die Zulässigkeit der unbezifferten Forderungsklage bejaht und die klagende Partei zur rahmenmässigen Bezifferung anhält und dann später Nichteintreten auf eben diese Klage beschliesst mit der Begründung, sie sei nicht zulässig. Wohl ist das Kollegium des Gerichts beim Endentscheid an prozessleitende Verfügungen seiner Vorsitzenden und/oder des Referenten nicht gebunden (genau darum beschränkt § 31 Abs. 2 OrgV OG, LS 212.51 die Delegation der Prozessleitung) ‒ wie nebenbei auch es selber eine Auffassung, welche es in einem prozessleitenden Entscheid äusserte, ändern dürfte. Treu und Glauben gebieten aber in diesem Fall, dass die klagende Partei vorweg auf die mögliche abweichende Beurteilung hingewiesen wird ‒ es handelt sich um das Einnehmen eines «unerwarteten Rechtsstandpunkts», wie es das Bundesgericht formuliert (vgl. etwa BGE 130 III 35), oder eine der Praxisänderung analoge Situation (dazu statt vieler: BK ZPO-Hurni, 2. Aufl., Art. 52 N. 27).
Urteil LB 150 038-O/U des Zürcher Obergerichts vom 20.10.2015
Anwalt als Organ: Nur Umtriebsentschädigung
Ein Anwalt, der in eigener Sache prozessiert oder als Organ einer juristischen Person handelt, gilt nicht als berufsmässiger Vertreter im Sinne von Art. 95 Abs. 3 lit. b ZPO. Als Parteientschädigung kommt daher nur eine Umtriebsentschädigung gemäss Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO in Frage. In begründeten Fällen sind die entstandenen Umtriebe zu ersetzen, wobei sich die Bemessung nicht nach dem Anwaltstarif richtet.
Sachverhalt:
Der Beklagte, ein Verein im Sinne von Art. 60 ff. ZGB, wurde im vorinstanzlichen Verfahren nicht durch einen externen Anwalt vertreten. Die Rechtsschriften wurden vom Vereinspräsidenten, bei dem es sich um einen im Anwaltsregister eingetragenen Rechtsanwalt handelt, verfasst.
Die Klägerinnen galten infolge Klagerückzug als unterliegende Partei, weshalb sie von der Vorinstanz verurteilt wurden, die Gerichtskosten zu übernehmen und dem Beklagten eine Parteientschädigung zu bezahlen. Letztere wurde von der Vorinstanz auf 46 200 Franken bestimmt (bei einem Streitwert von über 1 Mio. Franken).
Auf Beschwerde der Klägerinnen hin hatte die 2. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern zu beurteilen, gestützt auf welche Rechtsgrundlage (Art. 95 Abs. 3 lit. b ZPO oder Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO) eine Parteientschädigung zu sprechen und in welcher Höhe diese festzulegen ist.
Aus den Erwägungen:
11. e) Die Vorinstanz führt die verschiedenen Lehrmeinungen zur Entschädigung des Anwalts auf, der in eigener Sache oder als Organ einer juristischen Person den Prozess führt.
Ein Teil der Lehre stützt die Entschädigung auf Art. 95 Abs. 3 lit. b ZPO, also jene des berufsmässigen Vertreters, und hält dafür, dass dem registrierten Anwalt, der in eigenem Namen prozessiere oder als Organ einer juristischen Person den Prozess führe, eine volle Parteientschädigung auszurichten sei (Urwyler, in: ZPO, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kommentar, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Zürich/St. Gallen 2011, N. 26 zu Art. 95 ZPO [nachfolgend zit. Dike-Komm. ZPO-Autor]; Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, 2. Auflage, Zürich 2013, § 16 Rz. 18; Gasser/Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, 2. Auflage, Zürich/St. Gallen 2014, N. 8 zu Art. 95 ZPO; vgl. auch Schmid, in: Kurzkommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Auflage, Basel 2013, N. 32 f. zu Art. 95 ZPO [nachfolgend zit. KUKO ZPO-Autor], der auf lit. b abstützt, aber dennoch eine Reduktion um einem Drittel des Anwaltstarifs als angemessen erachtet).
Einige Autoren dieser Lehrmeinung knüpfen die volle Parteientschädigung des in eigener Sache auftretenden Anwalts zusätzlich an das Erfordernis, dass es sich um eine komplizierte Sache mit hohem Streitwert handeln und ein hoher Arbeitsaufwand erforderlich gewesen sein müsse (Dike-Komm. ZPO-Urwyler, N. 26 zu Art. 95 ZPO mit Verweis auf BGE 110 V 132, S. 134; Staehelin/Staehelin/Grolimund, a.a.O., § 16 Rz. 18; KUKO ZPO-Schmid, N. 32 f. zu Art. 95 ZPO).
Der andere Teil der Lehre spricht dem Anwalt, der in eigener Sache oder als Organ einer juristischen Person auftritt, eine Umtriebsentschädigung nach Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO zu (ZPO-Komm.-Suter/Von Holzen, N. 42 zu Art. 95 ZPO; BSK ZPO-Rüegg, N. 21 f. zu Art. 95 ZPO; BK ZPO-Sterchi, N. 18 zu Art. 95 ZPO; Leuenberger/Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Bern 2010, Rz. 10.6). Rüegg und Suter/Von Holzen halten dafür, dass in diesem Fall trotzdem die Entschädigung nach Anwaltstarif berechnet wird, diese jedoch, da Instruktion und Verkehr mit dem Mandanten entfallen würden bzw. da für die Zeit in eigener Sache keine Entschädigung beansprucht werden könne, um 25 Prozent resp. einen Drittel zu reduzieren sei (BSK ZPO-Rüegg, N. 22 zu Art. 95 ZPO; ZPO-Komm.-Suter/Von Holzen, N. 42 zu Art. 95 ZPO). Letztere wollen ausnahmsweise eine volle Parteientschädigung zugesprochen wissen, wenn es sich um eine komplizierte Angelegenheit mit hohem Streitwert und hohem Arbeitsaufwand handelt (ZPO-Komm.-Suter/Von Holzen, N. 42 zu Art. 95 ZPO).
Sterchi führt dazu aus, dass den in eigener Sache prozessierenden Anwälten eine zumindest die Unkosten deckende Entschädigung auszurichten sei (BK ZPO-Sterchi, N. 18 zu Art. 95 ZPO).
f) Nach Auffassung der 2. Zivilkammer gilt als nicht berufsmässig vertretene Partei eine Person, die ihren Prozess selber führt, unabhängig davon, ob es sich um einen Laien oder einen im Anwaltsregister eingetragenen Anwalt handelt, der in eigener Sache prozessiert (so auch der Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, ZK 14 31 vom 21. Oktober 2014, Ziff. 8.4.2; vgl. BSK ZPO-Rüegg, N. 18 zu Art. 95 ZPO; BK ZPO-Sterchi, N. 18 zu Art. 95 ZPO). Eine Person gilt nur dann als berufsmässig vertreten im Sinne von Art. 95 Abs. 3 lit. b ZPO, wenn eine Drittperson in einer nach Art. 68 Abs. 2 ZPO zulässigen Form für sie den Prozess führt.
Eine Vertretung im Sinne der ZPO bedingt somit zwingend die Führung des Prozesses durch einen Dritten. Der im Anwaltsregister eingetragene Anwalt, der als Organ den Prozess für seine juristische Person führt, gilt in dieser Konstellation ebenfalls nicht als berufsmässiger Vertreter i.S.v. Art. 95 Abs. 3 lit. b ZPO. Er handelt als Organ der juristischen Person. In Frage kommt also lediglich eine «angemessene Umtriebsentschädigung» nach Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO, wenn die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind.
12. a) Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO spricht davon, dass «in begründeten Fällen» eine angemessene Umtriebsentschädigung zu sprechen ist.
In der Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung wird betreffend die Umtriebsentschädigung einzig darauf hingewiesen, dass darunter in erster Linie ein gewisser Ausgleich für den Verdienstausfall einer selbständig erwerbenden Person zu verstehen sei (Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO] vom 28. Juni 2006, BBl 2006 7221, S. 7293).
In der Lehre wird ebenfalls auf den Verdienstausfall einer selbständigerwerbenden Person hingewiesen (BK ZPO-Sterchi, N. 15 zu Art. 95 ZPO; BSK ZPO-Rüegg, N. 21 zu Art. 95 ZPO). Gemäss Rüegg spricht nichts dagegen, bspw. auch entgangene Freizeit einer in einem Anstellungsverhältnis stehenden und selber prozessierenden Partei zu entschädigen. Es sei Aufgabe der ansprechenden Partei, die Entschädigung zu beantragen und dem Gericht sachlich überzeugende Gründe für die geltend gemachte Höhe der Umtriebsentschädigung vorzulegen (BSK ZPO-Rüegg, N. 21 zu Art. 95 ZPO).
Das Bundesgericht hat sich einzig im Entscheid BGer 4A_355/2013 vom 22. Oktober 2013 in materieller Hinsicht zu Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO geäussert. Es hielt fest: «Die nicht durch einen Anwalt vertretene Partei hat – mangels eines besonderen Aufwandes – keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO; [weitere Hinweise]). [...] Dass einer nicht anwaltlich vertretenen Partei ersatzfähige Kosten für Umtriebe erwachsen, ist ungewöhnlich und bedarf einer besonderen Begründung (Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO; zit. Urteil 5D_229/2011 E. 3.3)» (BGer 4A_355/2013 E. 4.2). Wann solche Gründe gegeben sind, wurde mangels Relevanz in jenem Entscheid nicht weiter ausgeführt.
b) Der Vereinspräsident musste einen beachtlichen Prozessaufwand leisten, wie bereits ein Blick auf die Rechtsschriften zeigt. Der Verein verfügte nicht über einen Rechtsdienst, wie dies bei Behörden manchmal der Fall ist, mit der Folge, dass das Bundesgericht eine Entschädigungspflicht verneint (BGer 5D_229/2011; vgl. auch HG 2013 76, Entscheid des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 5. März 2014). Es wäre ohne weiteres gerechtfertigt gewesen, wenn der Beschwerdegegner einen externen Rechtsanwalt beigezogen hätte (wie dies in anderen gegen ihn gerichteten Verfahren gerichtsnotorisch der Fall war). Der Vereinspräsident leistete hier die Arbeit eines Rechtsanwaltes, griff dafür auf seine Büroinfrastruktur (einschliesslich juristische Mitarbeiter) zurück und wurde sozusagen «überstrapaziert».
13. b) In den einschlägigen bernischen Gesetzen und Verordnungen finden sich keine Bestimmungen über die Umtriebsentschädigung. Französisch heisst die Umtriebsentschädigung «indemnité équitable», d.h. «angemessene Entschädigung», sodass die Gerichte auf Recht und Billigkeit verwiesen sind (Art. 4 ZGB, vgl. BK ZPO-Sterchi, N. 16 zu Art. 95 ZPO). Nach hier vertretener Auffassung ist der Umtriebsentschädigung nicht ein Anwaltstarif zugrundezulegen, auch kein reduzierter. Eine Gleichstellung mit der Entschädigung beruflicher Vertreter würde dem Umstand nicht Rechnung tragen, dass der Rechtsvertreter bei der Arbeit im eigenen Interesse nichts verdient und auch nichts verdienen soll.
Vorgesehen ist der Ersatz der Umtriebe (vgl. BK ZPO-Sterchi, N. 18 zu Art. 95 ZPO), nicht die Ausrichtung eines üblichen Honorars (selbst nach Abzug des Minderaufwandes infolge wegfallenden Kommunikationsaufwandes) oder der Ersatz entgangenen Gewinnes des in eigener Sache tätig Werdenden. Der Tarif nach Parteikostenverordnung enthält naturgemäss einen Gewinnanteil für den Anwalt, der von Rechtsvertretungen lebt. Diesen Anteil gilt es hier auszuscheiden.
Zu entschädigen sind nur, aber immerhin, die Umtriebe, die der Partei – hier dem Beschwerdegegner – dadurch entstanden sind, dass sie einen Prozess führen und dafür die juristischen Fähigkeiten ihres Organs einsetzen musste.
c) Da nicht aktenkundig ist, welche Auslagen dem Verein tatsächlich entstanden sind, ist die Umtriebsentschädigung nach dem mutmasslichen «Schaden» zu bemessen. Als Grundlage dafür dient die Aufstellung des Stundenrapportes von Rechtsanwalt Simon und seinem Mitarbeiter.
Geltend gemacht wird ein Aufwand von 208,9 Stunden für die Zeit vom 5. März 2013 bis zum 19. Februar 2014 (pag. 347 ff.). Gemäss Stundenrapport arbeiteten Rechtsanwalt Simon persönlich 102,8 Stunden und sein Mitarbeiter Rechtsanwalt Wyss 106,1 Stunden am vorliegenden Fall. Die 47-seitige Klageantwort beanspruchte inkl. Abklärungen, Besprechungen, Zusammenstellen der Beilagen etc. über 160 Stunden, d.h. rund 4 Arbeitswochen. Das erscheint recht hoch, doch angesichts der nicht alltäglichen Ausgangslage nicht absolut übertrieben. Für die 2. Zivilkammer ist nachvollziehbar, dass die Führung des vorliegenden Prozesses einen Aufwand von rund 200 Stunden generierte.
d) Das Schweizerische Institut für Klein- und Mittelunternehmungen an der Universität St. Gallen (KMU-HSG) führte zwischen August 2004 und Februar 2005 im Auftrag des Schweizerischen Anwaltsverbandes (SAV) eine Erhebung bei dessen Mitgliedern durch mit dem Ziel, die finanz- und leistungswirtschaftlichen Kennzahlen zu ermitteln (vgl. in dubio 5/05, S. 248).
Im Jahr 2013 wurde im Auftrag des SAV eine erneute Erhebung (Studie Praxiskosten) durchgeführt (vgl. Bergmann, «Zentrale Ergebnisse der SAV-Studie Praxiskosten», in: Anwaltsrevue 8/2014, S. 322 ff.). Daraus geht hervor, dass bei Anwälten, bei denen die forensisch amtliche Tätigkeit 0 bis 19 Prozent der fakturierbaren Stunden ausmacht, 165 Franken pro Stunde zur Kostendeckung notwendig sind. Bei Anwälten, bei denen die forensisch amtliche Tätigkeit 20 Prozent oder mehr der fakturierbaren Stunden beträgt, werden 117 Franken zur Deckung der Kosten eingesetzt (Bergmann, a.a.O., S. 324).
Da die Kosten im Kanton Zürich für Infrastruktur, Löhne, etc. generell höher sind als im Kanton Bern, der Prozess aber im Kanton Bern stattfand und im «Normalfall» ein Anwalt aus dem Kanton Zürich nach den bernischen Tarifen entschädigt wird, rechtfertigt es sich, auf die Durchschnittswerte der schweizweit angelegten Studie des SAV abzustellen (165 Franken plus 117 Franken geteilt durch zwei).
Es rechtfertigt sich daher, eine Umtriebsentschädigung von 150 Franken pro Stunde zu sprechen. Da Rechtsanwalt Wyss nicht als berufsmässiger Vertreter i.S.v. Art. 68 Abs. 2 lit. a ZPO mandatiert war, sondern vom Vereinspräsidenten als Assistent hinzugezogen wurde, sind seine geleisteten Stunden ebenfalls nicht nach Anwaltstarif zu entschädigen, zumal diesbezüglich keine substantiierten Ausführungen des Beschwerdegegners erfolgt sind.
e) Bei einem Aufwand von rund 200 Stunden und einem Stundenansatz von 150 Franken ergibt dies eine Entschädigung für Umtriebe von 30 000 Franken, die die Beschwerdeführerinnen dem Beschwerdegegner zu ersetzen haben.
Hinzu kommt der Ersatz notwendiger Auslagen gemäss Art. 95 Abs. 3 lit. a ZPO.
Entscheid ZK 15 221 des Berner Obergerichts vom 7.9.2015
Strafprozessrecht
Abgelehntes Wiederherstellungsgesuch kostenlos
Das Obergericht des Kantons Bern hält an seiner Auffassung fest, wonach bei der Abweisung eines Wiederherstellungsgesuchs Art. 417 StPO keine hinreichend klare gesetzliche Grundlage darstellt, um die Kosten der gesuchstellenden Partei aufzuerlegen.
Sachverhalt:
A. verlangte die Wiederherstellung des verpassten Termins der Hauptverhandlung. Das erstinstanzliche Gericht wies dieses Gesuch ab und auferlegte A. die Kosten des Wiederherstellungsverfahrens.
Aus den Erwägungen:
4.1 In der angefochtenen Verfügung auferlegte das Regionalgericht die Kosten des Wiederherstellungsverfahrens dem Beschwerdeführer, was als mitangefochten gilt und deshalb nachfolgend zu prüfen ist.
4.2 Nach Rechtsprechung der Beschwerdekammer kann Art. 417 StPO bei der Abweisung eines Wiederherstellungsgesuchs nicht als gesetzliche Grundlage für eine Kostenauflage an den Gesuchsteller dienen, weil ein (rechtzeitig eingereichtes) Wiederherstellungsgesuch weder eine Säumnis noch eine fehlerhafte Verfahrenshandlung darstellt.
4.3 Die Generalstaatsanwaltschaft bringt diesbezüglich unter Verweis auf diverse Lehrmeinungen vor, die Richtigkeit dieser Praxis müsse in Zweifel gezogen werden. Mit Ablehnung eines Wiederherstellungsgesuchs werde gleichzeitig festgestellt, dass die gesuchstellende Partei säumig gewesen sei, weshalb nicht einzusehen sei, weshalb die säumige Partei die von ihr verursachten Kosten nicht ebenfalls zu tragen haben.
Es handle sich nicht um einen Reflexschaden, sondern lediglich um einen in der Kausalkette weiter entfernten Schaden, der dem Säumigen aber ebenfalls unmittelbar zuzurechnen sei. Somit bilde Art. 417 StPO entgegen der Praxis der Beschwerdekammer eine genügende gesetzliche Grundlage für die Kostenauferlage im Falle einer abgelehnten Wiederherstellung, da das fehlerhafte, kostenverursachende Verhalten direkt auf den Gesuchsteller zurückgehe.
4.4 Der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft kann nicht gefolgt werden. Die Säumnis der gesuchstellenden Partei betrifft nur die verspätet vorgenommene Verfahrenshandlung (vorliegend den versäumten Verhandlungstermin), nicht jedoch das (rechtzeitig ein- gereichte) Wiederherstellungsgesuch. Bei diesem handelt es sich vielmehr um einen eigenständigen Rechtsbehelf, der bezüglich der Kostenfolgen selbständig zu beurteilen ist.
Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass dem Wiederherstellungsgesuch ursprünglich eine Säumnis zugrunde liegt. Denn die Kosten des Wiederherstellungsverfahrens sind nicht eine unmittelbare Folge der Säumnis, sondern des von der betroffenen Person gestellten Wiederherstellungsgesuchs.
So können etwa auch im Abwesenheitsverfahren (Art. 366 ff. StPO) der beschuldigten Person, deren Gesuch um neue Beurteilung abgewiesen wird, mangels gesetzlicher Grundlage keine Kosten auferlegt werden (Maurer, in: Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2014, Art. 368 N 21). Die gegenteiligen Lehrmeinungen, auf welche die Generalstaatsanwaltschaft verweist (vgl. Riedo, in: Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2014, Art. 94 N 71), setzen sich mit diesen Überlegungen nicht auseinander und vermögen insofern nicht zu überzeugen.
Im Weiteren findet auch die zweite Variante von Art. 417 StPO vorliegend keine Anwendung, weil ein Rechtsmittel oder Rechtsbehelf auch dann keine fehlerhafte Verfahrenshandlung darstellt, wenn diesem in der Sache selbst kein Erfolg beschieden ist.
Nach dem Gesagten ist an der Auffassung festzuhalten, wonach bei der Abweisung eines Wiederherstellungsgesuchs Art. 417 StPO keine hinreichend klare gesetzliche Grundlage für die Kostenauferlage an die gesuchstellende Partei darstellt. Soweit dem Beschwerdeführer in der angefochtenen Verfügung die Kosten des Wiederherstellungsverfahrens auferlegt wurden, ist dies folglich rechtswidrig.
Beschluss BK 15 128 des Berner Obergerichts vom 13. Juli 2015
Abfrage von Daten: Unzulässige Beweisausforschung
Wenn die Polizei ohne rechtsgenügenden Anlass eine umfassende Abfrage in der CODIS-Datenbank durchführt, ist dieses Vorgehen als unzulässige Beweisausforschung anzusehen. Ein so gefundener Treffer ist nicht verwertbar.
Sachverhalt:
A. und seine Wohnpartnerin B. wurden von drei unbekannten Personen mit Messern angegriffen und verletzt. Auf der Jacke von A. (Schulterbereich) wurde eine DNA-Mischspur gefunden, welche anteilig von B. stammte. Der männliche Anteil dieser Mischspur wurde mit der DNA-Datenbank CODIS abgeglichen. Dabei ergab sich ein Spur-Spur-Hit mit zwei ungeklärten Einbruchdiebstählen. Die Polizei beauftragte in einem zweiten, nun gegen A. geführten Verfahren, den KTD mit der erkennungsdienstlichen Erfassung von A. inkl. Wangenschleimhautabstrich (WSA). Dagegen erhob A. Beschwerde. Die Anordnung an den KTD ist ein taugliches Anfechtungsobjekt.
Aus den Erwägungen:
3.3 Zur Aufklärung eines Verbrechens oder eines Vergehens kann eine Probe genommen und ein DNA-Profil erstellt werden von anderen Personen, insbesondere Opfern oder Tatortberechtigten, soweit es notwendig ist, um von ihnen stammendes biologisches Material von jenem der beschuldigten Person zu unterscheiden (Art. 255 Abs. 1 lit. b StPO). Diese Proben dienen nur zur Differenzierung und werden nicht in die DNA-Datenbank übernommen. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist es, dass bisher nicht beschuldigte Personen auf keinen Fall als Täter von bereits begangenen Delikten erkannt werden, auch wenn sich von diesen Delikten DNA-Spuren in der Datenbank befinden.
Damit wird unzulässige Beweisausforschung verhindert (Hansjakob, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Auflage 2014, Art. 255 N 16). Die Auswertung von tatrelevantem biologischem Material kann gestützt auf Art. 255 Abs. 2 lit. b StPO von der Polizei angeordnet werden. Die Tatrelevanz einer Spur ergibt sich oft erst aus dem Ergebnis der Auswertung. Es genügt vorab eine entsprechende Vermutung (Hansjakob, a.a.O., Art. 255 N 19).
Das Polizeikommando stellt sich auf den Standpunkt, in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen sei nur besonders zurückhaltend einzugreifen. Das gewählte Vorgehen der Kantonspolizei, kein Vergleichs-DNA-Profil des Beschwerdeführers zu erstellen, sei daher das mildere Mittel gewesen. Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Der Abgleich mit der DNA von Opfern ist vielmehr immer dann durchzuführen, wenn tatrelevante Spuren an einem Tatort von denjenigen auszuscheiden sind, die von unverdächtigen Dritten stammen, die unverdächtige Kontakte mit Gegenständen hatten, ab denen DNA-Spuren gesichert wurden. Mit anderen Worten bildet Art. 255 Abs. 1 lit. b StPO eine Rechtsgrundlage für die DNA-Probenahme bei nicht beschuldigten Personen und stellt sicher, dass das so gewonnene DNA-Profil nicht in die Datenbank gelangt.
Die Bestimmung schreibt der Polizei aber nicht vor, in jedem Fall alle möglichen Tatortberechtigten oder Opfer zuerst als Spurengeber auszuschliessen. Vielmehr handelt sich hier um eine «Kann-Bestimmung». Die Formulierung «soweit es notwendig ist» gewährt der Polizei ein grosses Ermessen beim Entscheid, ob sie zuerst einen Abgleich der am Tatort gefundenen DNA-Spuren mit der DNA des Opfers durchführt oder diese als tatrelevant einschätzt und direkt in die Datenbank eingibt.
Im vorliegenden Fall wurde eine DNA-Mischspur auf der Jacke des Beschwerdeführers (Schulter) gefunden, welche anteilig von dessen Wohnpartnerin stammte. Die Polizei durfte im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens davon ausgehen, dass die Spur von der unbekannten Täterschaft stammte, da der Beschwerdeführer von dieser mutmasslich an der Schulterpartie seiner Jacke festgehalten wurde. Anders zu entscheiden wäre beispielsweise dann, wenn die Polizei von dem an der Jacke haftenden Blut ein DNA-Profil erstellt und dieses nicht mit der Opfer-DNA abgeglichen hätte. Der Verzicht auf die Erstellung eines DNA-Profils des Beschwerdeführers als Opfer zum Abgleich des an der Jacke gefundenen biologischen Materials war indessen zulässig.
3.4 Eine DNA-Spur, die als tatrelevant betrachtet wird, darf grundsätzlich sowohl mit der Personen- als auch mit der Spurendatenbank CODIS abgeglichen werden, soweit sich daraus konkrete neue Erkenntnisse in der zu führenden Strafuntersuchung erwarten lassen. Wird indessen konzeptlos in der CODIS-Datenbank nach Übereinstimmungen gesucht, liegt eine unzulässige Beweisausforschung vor. Vorliegend macht die Polizei einzig geltend, der Abgleich mit der Spurendatenbank von CODIS hätte mögliche Rückschlüsse auf weitere Tatzusammenhänge in Bezug auf die Körperverletzung zum Nachteil des Beschwerdeführers ergeben können. Konkrete Zusammenhänge werden indessen weder geltend gemacht, noch sind solche ersichtlich.
Folglich war der Abgleich der DNA-Spur auch mit der Spurendatenbank CODIS für die Ermittlung wegen Körperverletzung zweckuntauglich. Es kommt hinzu, dass bereits vor der Eingabe der DNA-Spur in die Datenbank sichtbare Hinweise dafür bestanden, dass diese mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vom Opfer selbst stammen könnte (Jacke des Opfers, mit DNA des zweiten Opfers vermischt). Letztlich wurde die Tatsache, dass die Spur auf der Jacke des Beschwerdeführers gefunden wurde, von der Polizei selbst zur Begründung eines Anfangsverdachts gegen den Beschwerdeführer verwendet. Trotz dieser Anzeichen hat die Polizei auf einen Abgleich der Spur mit der DNA des Opfers – wie oben gezeigt rechtmässig – verzichtet. Es bestand also von vornherein erkennbar die Möglichkeit, dass ein Abgleich der DNA-Spur mit der Spurendatenbank CODIS Erkenntnisse über ungeklärte strafbare Handlungen des Beschwerdeführers ergeben könnte, auch wenn diese nicht direkt beabsichtigt gewesen waren. Um das Opfer vor unzulässiger Beweisausforschung zu schützen, wäre unter den gegebenen Umständen eine Einschränkung der Suchabfrage auf die Personendatenbank angezeigt gewesen. Bei diesem Vorgehen hätte einerseits die unbekannte Täterschaft ermittelt werden können, andererseits wäre dadurch dem Schutz der Opfer und Tatortberechtigten Rechnung getragen worden.
Da die Polizei dennoch eine umfassende Abfrage in der Datenbank durchführte und dadurch eine Spur von ungeklärten Einbruchdiebstählen fand, die allenfalls vom Beschwerdeführer stammen könnte, ist dieses Vorgehen als unzulässige Beweisausforschung anzusehen. Der gefundene Hit ist gegen den Beschwerdeführer nicht verwertbar. Ein Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer ist somit zu verneinen. Ein solcher ergibt sich auch nicht aus dessen Aussage gegenüber einer Mitarbeiterin der Polizei, da diese ebenfalls nicht verwertet werden darf (Art. 158 Abs. 2 StPO). Eine Befragung der Polizistin als Zeugin würde daran nichts ändern.
Ohne entsprechenden Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer erweist sich die angeordnete erkennungsdienstliche Erfassung inkl. WSA als nicht rechtens. Die Beschwerde ist gutzuheissen und die angefochtene Verfügung aufzuheben.
Beschluss BK 15 62 des Berner Obergerichts vom 6.8.2015
Beschlagnahmung: Rücktransport Sache der Behörden
Lassen sich beschlagnahmte Gegenstände als Handgepäck transportieren, ist es dem Eigentümer zuzumuten, sie nach der Freigabe bei der betreffenden Behörde abzuholen – sofern die Sachen nicht per Briefpost retourniert werden können. Werden aber während des Strafverfahrens über hundert beschlagnahmte Bundesordner freigegeben, haben die Strafbehörden sie an den Ort der Behändigung zurückzubringen.
Sachverhalt:
Am 13. November 2013 wurden anlässlich einer Hausdurchsuchung beim Verein Y. und bei X. 106 Bundesordner sichergestellt und in der Folge beschlagnahmt. Die Staatsanwaltschaft erliess am 16. Februar 2015 eine Herausgabeverfügung. Die Ordner würden X. oder einer anderen Person, die zur Vertretung des Vereins Y. befugt sei, herausgegeben. Die Ordner würden nach telefonischer Voranmeldung innert einer Frist von 30 Tagen bei der Amtsstelle ausgehändigt. Bei unbenutztem Ablauf dieser Frist werde ein Verzicht auf die vorzeitige Rückgabe angenommen.
Der Verein Y. erhebt Beschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich. Er beantragt die Feststellung, dass die Staatsanwaltschaft die Herausgabe der Ordner an ihn verfügt habe. Es sei festzustellen, dass die Verfügung, wonach dem Verein Y. eine Frist von 30 Tagen zur Abholung der Ordner am Sitz der Staatsanwaltschaft gesetzt worden sei, rechtswidrig sei. Die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, die Ordner nach Absprache mit dem Verein Y. am Ort der Behändigung wieder auszuhändigen.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, die beschlagnahmten Ordner seien nicht am Sitz der Amtsstelle der Staatsanwaltschaft herauszugeben, sondern an jenem Ort, an welchem sie behändigt worden seien.
2.2 Ist der Grund für die Beschlagnahme weggefallen, so hebt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die Beschlagnahme auf und händigt die Gegenstände oder Vermögenswerte der berechtigten Person aus (Art. 267 Abs. 1 StPO).
2.3 Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode (Urteil 6B_991/2013 vom 24. April 2014 E. 2.4.3 mit Hinweisen). Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet zunächst der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden, wobei alle Auslegungselemente zu berücksichtigen sind (Methodenpluralismus). Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Sind mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht. Allerdings findet auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Grenzen im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung (BGE 140 IV 162 E. 4.6 mit Hinweisen).
2.4 Aus dem Wortlaut von Art. 267 Abs. 1 StPO ergibt sich nicht, wo der berechtigten Person nach Aufhebung der Beschlagnahme die Gegenstände auszuhändigen sind. Auch eine historische Auslegung beantwortet die Frage nicht. In der Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005 (BBl 2006 1085 ff.) wird der Ort der Aushändigung von beschlagnahmten Gegenständen nicht bezeichnet (insb. BBl 2006 1246).
2.6 Die Staatsanwaltschaft beruft sich auf die Deutsche Literatur und Rechtsprechung, wonach für die Rückgabe beschlagnahmter Gegenstände die Vorschriften des § 697 BGB entsprechend anzuwenden seien. Danach habe die Rückgabe der hinterlegten (hier: der durch Beschlagnahme in öffentlich-rechtliche Verwahrung genommenen) Sache an dem Ort zu erfolgen, an welchem die Sache aufzubewahren gewesen sei; der Verwahrer sei nicht verpflichtet, die Sache dem Hinterleger zu bringen (vgl. Entscheid des Deutschen Bundesgerichtshofs vom 3. Februar 2005 – III ZR 271/04). Ebensolches ergibt sich aus Art. 477 OR, wonach die Sache da zurückzugeben ist, wo sie aufbewahrt werden sollte. Die Staatsanwaltschaft will diese Bestimmung analog anwenden.
Der Hinterlegungsvertrag nach Art. 472 ff. OR erfolgt im Interesse des Hinterlegers. Die Beschlagnahme erfolgt dagegen im Interesse des «Aufbewahrers» bzw. der Strafbehörden. Während der Hinterlegungsvertrag mit Konsens der Parteien zustande kommt, erfolgt die Beschlagnahme aufgrund einer einseitigen Anordnung. Die Beschränkung der Ausübung der Eigentumsrechte geschieht beim Hinterlegungsvertrag freiwillig. Bei der Beschlagnahme wird die Einschränkung erzwungen. Da die Interessenlagen beim Hinterlegungsvertrag und der Beschlagnahme nicht vergleichbar sind, ist die analoge Anwendung der Bestimmungen des Hinterlegungsvertrags abzulehnen.
2.7 Mit dem Entscheid zur Freigabe der beschlagnahmten Gegenstände ist die Störung des Eigentums an sich beendet, weshalb sich – wie erwähnt – ein Anspruch auf Rückschaffung nicht mit der Eigentumsgarantie begründen lässt.
Indessen verleiht Art. 434 StPO Dritten einen Anspruch auf «Ersatz ihres nicht auf andere Weise gedeckten Schadens sowie auf Genugtuung, wenn sie durch Verfahrenshandlungen oder bei der Unterstützung von Strafbehörden Schaden erlitten haben». Art. 433 Abs. 2 StPO, wonach die Privatklägerschaft ihre Entschädigungsforderung bei der Strafbehörde zu beantragen, zu beziffern und zu belegen hat, ist sinngemäss anwendbar. Über die Ansprüche ist im Rahmen des Endentscheides zu befinden. In klaren Fällen kann die Staatsanwaltschaft schon im Vorverfahren darüber entscheiden (Art. 434 Abs. 2 StPO).
Zu entschädigen sind dem Dritten Aufwendungen und wirtschaftliche Einbussen, die ihm aus der Ausübung von Verfahrensrechten oder sonst aufgrund des Verfahrens entstanden sind. So sind namentlich Lohn und Erwerbsausfall wie auch Reisespesen grundsätzlich zu entschädigen. Erfordert eine Untersuchung Warentransporte durch Dritte, sind auch die damit verbundenen Kosten zu ersetzen.
Schadenersatz gemäss Art. 434 StPO setzt nicht voraus, dass sich die Verfahrenshandlung der Strafbehörde von vornherein oder nachträglich als rechtswidrig erweist. Er kann jedoch herabgesetzt oder verweigert werden, wenn die erlittenen Nachteile geringfügig sind. Dem Bürger ist zuzumuten, geringfügige Umtriebe ohne Entschädigung in Kauf zu nehmen (Botschaft StPO, BBl 2006 1085 ff., insb. 1330; Niklaus Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2013, N. 1219a; BGE 107 IV 155 E. 5; Urteil 6B_490/2007 vom 11. Februar 2008 E. 2.3).
Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, dass es dem Dritten grundsätzlich zuzumuten ist, beschlagnahmte Gegenstände – allenfalls gegen Ersatz nennenswerter Fahrspesen – bei der betreffenden Strafbehörde abzuholen, jedenfalls dann, wenn sich die Sache ohne Mühe als Handgepäck transportieren lässt und nicht ohne weiteres auch mit Briefpost retourniert werden kann.
2.8 Vorliegend geht es indessen um die – vorzeitige – Rückgabe von mehr als 100 Bundesordnern. Es ist offenkundig, dass sich ein solches Volumen nicht ohne spezielle logistische Vorkehrungen transportieren lässt, jedenfalls nicht von einer Einzelperson mit Mitteln des öffentlichen Verkehrs. Die anfallenden Transportkosten könnten jedenfalls vom Beschwerdeführer dem Staat gestützt auf Art. 434 StPO in Rechnung gestellt werden.
Diesbezüglich besteht auch für die beteiligte Behörde eine Schadensminderungspflicht. Eine Schadensminderung kann sich auch aus einem Realakt ergeben. Vor diesem Hintergrund ist nun nicht einzusehen, warum sich die Staatsanwaltschaft nicht bemüht, die anfallenden Kosten möglichst tief zu halten, indem sie den Transport antragsgemäss selbst organisiert und durchführen lässt, wobei die Kosten grundsätzlich als Untersuchungsaufwand zu verbuchen und später – je nach Ausgang des Verfahrens – zu belasten sind.
Der Beschwerdeführer hat ausdrücklich die Rückschaffung der freigegebenen Akten an den Ort ihrer Behändigung und eine «restitutio in integrum» verlangt. Damit stellte er selbst eine Forderung im Sinne von Art. 434 StPO in Verbindung mit Art. 433 Abs. 2 StPO auf Schadloshaltung durch Realakt der Untersuchungsbehörde bzw. auf Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, auf «Naturalrestitution». Dieses Begehren ist hier berechtigt.
Beschluss UH150056 des Zürcher Obergerichts vom 19.8.2015
Gutachten: Delegation nicht zulässig
Die von der Verfahrensleitung eingesetzte sachverständige Person hat das Gutachten selbst zu erstellen. Eine vollständige Delegation der gutachterlichen Aufgaben an Dritte
ist unzulässig, auch wenn die Delegation innerhalb des forensisch-psychiatrischen Dienstes erfolgt. Die Delegation führt jedoch nicht unbedingt zur Unverwertbarkeit des Gutachtens.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer macht geltend, das von Dr. med. C. verfasste Gutachten sei unverwertbar, weil der Gutachtenauftrag der Staatsanwaltschaft an Dr. med. D. gegangen und dieser höchstpersönlich sei. Eine Delegation sei demzufolge unzulässig.
Aus den Erwägungen:
5.4 Nach dem Gesagten wurde Dr. med. D. formell als sachverständige Person ernannt. Sie hätte folglich das Gutachten selber in eigener Verantwortung erstellen müssen. Die vollständige interne Delegation an Dr. med. C. war unzulässig (vgl. Ziff. 5.2 hievor).
Parteien müssen auch bei amtlichen Sachverständigen die Gelegenheit erhalten, sich vorgängig zur sachverständigen Person äussern zu können (Art. 184 Abs. 3 StPO; Donatsch, a.a.O., Art. 184 N 35), was nicht möglich ist, wenn wie vorliegend zum Zeitpunkt der Auftragserteilung noch nicht feststeht, wer die Begutachtung durchführen wird. Insofern stellt die interne Delegation an Dr. med. C. auch eine Verletzung von Art. 184 Abs. 3 StPO dar. Zu prüfen bleibt im Nachfolgenden, ob dies zur Unverwertbarkeit des Gutachtens führt.
5.5 Gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise, die Strafbehörden unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Beweise, bei deren Erhebung Ordnungsvorschriften verletzt worden sind, sind hingegen verwertbar (Art. 141 Abs. 3 StPO).
Ob im Einzelfall eine Gültigkeits- oder eine Ordnungsvorschrift vorliegt, bestimmt sich (sofern das Gesetz die Norm nicht selber als Gültigkeitsvorschrift bezeichnet) primär nach dem Schutzzweck der Norm: Hat die Verfahrensvorschrift für die Wahrung der zu schützenden Interessen der betreffenden Person eine derart erhebliche Bedeutung, dass sie ihr Ziel nur erreichen kann, wenn bei Nichtbeachtung die Verfahrenshandlung ungültig ist, liegt eine Gültigkeitsvorschrift vor (BGE 139 IV 128 E. 1.6; Urteil des Bundesgerichts 6B_56/2014 vom 16. Dezember 2014 E. 3.2).
5.6 Als wissenschaftlicher Mitarbeiter des FPD gilt Dr. med. C. als amtlicher Sachverständiger im Sinne von Art. 183 Abs. 2 StPO (Art. 36 Abs. 3 EG ZSJ). Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und verfügt somit über die erforderlichen fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Erstellung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens (vgl. BGE 140 IV 49 E. 2), was vom Beschwerdeführer ausdrücklich anerkannt wird (Replik Ziff. 2). Hätte die Staatsanwaltschaft von Beginn weg Dr. med. C. als sachverständige Person ernannt, wäre dies folglich nicht zu beanstanden gewesen. Ebenso wäre es zulässig gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft nach Kenntnis der innerhalb des FPD erfolgten Zuteilung des Falles an Dr. med. C. den Gutachtenauftrag auf diesen übertragen (vgl. Art. 184 Abs. 5 StPO) und den Parteien Gelegenheit gegeben hätte, hierzu im Sinne von Art. 183 Abs. 3 StPO Stellung zu nehmen.
Die Unzulässigkeit der internen Delegation an Dr. med. C. beruht somit auf einem rein formellen Mangel, der die Qualität und den Inhalt des Gutachtens nicht beeinflusste und der – vorbehältlich der nachfolgend zu prüfenden Frage des rechtlichen Gehörs – die Rechte des Beschwerdeführers nicht beeinträchtigte. Vor diesem Hintergrund stellt das Erfordernis, dass das Gutachten vom ernannten Sachverständigen persönlich erstellt werden muss, in der vorliegenden Konstellation eine blosse Ordnungsvorschrift dar, deren Verletzung nicht zur Unverwertbarkeit des Gutachtens führt.
5.7 Gemäss Art. 184 Abs. 3 StPO gibt die Verfahrensleitung den Parteien vor der Auftragserteilung Gelegenheit, sich zur sachverständigen Person zu äussern. Diese Be- stimmung ist Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör und bezweckt, dass die Parteien – auch aus prozessökonomischen Gründen – bereits frühzeitig Ausstandsgründe geltend machen können.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es jedoch zur Wahrung des rechtlichen Gehörs ausreichend, wenn die betroffene Person zumindest nachträglich zur Person des Gutachters Stellung nehmen kann (Urteil des Bundesgerichts 6B_298/2012 vom 16. Juli 2012, E. 3.3; BGE 125 V 332, E. 4b). Die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person werden mit anderen Worten auch durch die nachträglich eingeräumte Möglichkeit, sich zur Person des Gutachters zu äussern, ausreichend gewahrt, zumal bei Bestehen von Ausstandsgründen auch deren nachträgliche Geltendmachung zur Unbeachtlichkeit des Gutachtens führt. Bei Art. 184 Abs. 3 StPO handelt es sich somit um eine Ordnungsvorschrift im Sinne von Art. 141 Abs. 3 StPO (so auch Schmid, a.a.O., Art. 184 N 13).
Dies gilt auch für den vorliegenden Fall: Es trifft zwar zu, dass sich der Beschwerdeführer nicht vor dem Erstellen der Vorabstellungnahme zur Rückfallgefahr zur Person des Gutachters äussern konnte, jedoch hatte er spätestens nach der Zustellung dieser Vorabstellungnahme Kenntnis von der Person des Gutachters und konnte entsprechende Einwände erheben, worauf er indessen verzichtete.
Somit wurde ihm das rechtliche Gehör jedenfalls nachträglich und vor dem Hauptgutachten gewährt. Dass dem Beschwerdeführer nicht bereits vor der Auftragserteilung die Gelegenheit gegeben wurde, sich zur Person des Sachverständigen zu äussern, ist somit und mit Blick auf die hievor gemachten theoretischen Ausführungen als Verletzung einer blossen Ordnungsvorschrift zu werten.
5.8 Die Rüge des Beschwerdeführers, das Gutachten sei nicht verwertbar, ist nach dem Gesagten unbegründet.
Beschluss BK 15 201 des Berner Obergerichts vom 17.8.2015