Familienrecht
Alternierende Obhut ist im Interesse des Kindes zu fördern
Kinder brauchen für eine gesunde psychische Entwicklung möglichst beide Eltern und möglichst gleichmässigen Kontakt zu beiden. Das ist die Grundannahme jeder Obhutsregelung. Die alternierende Obhut ist grundsätzlich zu fördern.
Sachverhalt:
Die Parteien sind verheiratet. Sie haben drei gemeinsame Kinder. Mit Eheschutzentscheid wurden die gemeinsamen Kinder für die Dauer des Getrenntlebens unter die alleinige Obhut der Mutter gestellt. Gegen diesen Entscheid erhob der Vater Berufung und verlangte, die gemeinsamen Kinder seien unter seine alleinige Obhut zu stellen oder von den Parteien alternierend (mit je hälftigen Betreuungsanteilen) zu betreuen. Die Mutter verlangte die Abweisung der Berufung.
Aus den Erwägungen:
4.4 Zur Wahrung des Kindeswohls gehört es, dass der Kontakt der Kinder zu beiden Eltern nach deren Trennung in möglichst grossem Ausmass aufrechterhalten bleibt. In rechtsdogmatischer Hinsicht zielte bereits die Sorgerechtsrevision, in Kraft seit dem 1. Juli 2014, in diese Richtung. So sollen nach einer Scheidung beide Eltern in die Verantwortung gezogen und es soll ihnen die gemeinsame elterliche Sorge belassen werden, die demgemäss zum Regelfall erklärt wurde (Art. 298 Abs. 1 und Art. 298b Abs. 2 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs). Als Konsequenz dieses gesetzgeberischen Paradigmenwechsels sind zudem in tatsächlicher Hinsicht die vermehrte Beachtung und ebenso die Wünschbarkeit der alternierenden oder geteilten Obhut resp. Pflege und Betreuung ins Blickfeld gerückt.
Bei gegebenen Voraussetzungen kann die alternierende Obhut deshalb nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auch gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden (BGE 142 III 612, E. 4.2, 142 III 617, E. 3.2.3). Dafür sprechen auch verfassungsrechtliche Überlegungen, ist doch das Zusammenleben von Eltern und Kindern grundrechtlich geschützt und besteht insbesondere ein Recht auf Kontakt und Zusammenleben (vgl. BGE 138 I 225, E. 3.8.1), weshalb Eingriffe in diese Rechte einer besonderen Rechtfertigung bedürfen (Art. 36 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft [BV; SR 101]; BGE 136 I 178, E. 5.2). Die Grundannahme jeder Obhutsregelung sollte demnach sein, dass Kinder für eine gesunde psychische Entwicklung möglichst beide Eltern brauchen und möglichst gleichmässigen Kontakt zu beiden Eltern haben sollten (Sünderhauf / Widrig, «Gemeinsame elterliche Sorge und alternierende Obhut», in: AJP 2014, S. 896). Zusammenfassend ist demnach vor dem Hintergrund des zum Regelfall erhobenen gemeinsamen Sorgerechts die alternierende Obhut grundsätzlich zu fördern. Massgebendes Beurteilungskriterium bildet indes – wie bei allen Kinderbelangen – das Kindeswohl (vgl. Art. 11 Abs. 1 BV). Ist dieses durch eine alternierende Obhut gefährdet, darf eine solche nicht angeordnet werden.
Unabhängig davon, ob sich die Eltern auf eine alternierende Obhut geeinigt haben, muss der mit dieser Frage befasste Richter prüfen, ob dieses Betreuungsmodell möglich und mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist (vgl. BGer-Urteil 5A_527/2015 vom 6. Oktober 2015, E. 4). Denn nach der Rechtsprechung gilt das Kindeswohl als oberste Maxime des Kindesrechts (BGE 141 III 328, E. 5.4); es ist für die Regelung des Eltern-Kind-Verhältnisses demnach immer der entscheidende Faktor, während die Interessen und Wünsche der Eltern in den Hintergrund zu treten haben (BGE 131 III 209, E. 5).
4.5.2 Entgegen der in der Berufungsantwort von der Gesuchstellerin geltend gemachten Kommunikationsprobleme zeigt sich anhand der gesamten Akten- bzw. Beweislage, dass die Parteien trotz des ehelichen Konflikts in der Lage waren, sich betreffend Kinderbelange gegenseitig zu verständigen und abzusprechen, ohne dass dabei nennenswerte Probleme aufgetreten wären. Hervorzuheben ist dabei insbesondere der von der Vorinstanz zutreffend erwähnte Umstand, dass sich die Kinder durchwegs positiv über ihre Eltern geäussert haben und eine Beeinflussung durch die eine oder andere Partei nicht festgestellt werden konnte.
4.5.5 Das Kriterium der persönlichen Betreuung hat die Vorinstanz deutlich höher gewichtet, als dies aufgrund des Alters der Kinder angezeigt gewesen wäre. Im vorliegenden Fall gewinnt aufgrund des Alters der Kinder ausserdem vermehrt der Aspekt der Einbettung in ein soziales Umfeld an Bedeutung, was A., die älteste Tochter, anlässlich der Kinderanhörung auch ausdrücklich betonte. Da beide Eltern in X. wohnen, ist die Einbettung der Kinder in ihrem sozialen Umfeld auch bei einer alternierenden Obhut gewährleistet.
4.5.6 Schliesslich ist auch den geäusserten Wünschen der Kinder hinsichtlich Obhutszuteilung angemessen Rechnung zu tragen. A. äusserste den Wunsch, unter der Woche im Haus zu bleiben und lieber bei der Mutter zu wohnen, wobei ihr einfach sehr wichtig sei, dass sie in X. bleiben könne, weil dort ihre Freundinnen, die Schule usw. seien. Ebenfalls wolle sie unbedingt mit ihren Schwestern zusammenbleiben, da sie mit beiden ein gutes Verhältnis pflege.
B. äusserte ebenfalls den Wunsch, unter der Woche am liebsten mit den Schwestern im Haus in X. zu bleiben und mit ihrer Mutter zusammenzuleben. Zugleich äusserte B. jedoch auch den Wunsch, den Vater häufiger zu sehen. In Zukunft würde sie sich wünschen, dass ihr Vater ein bisschen mehr zu Hause sei; sie vermisse ihn. C. äusserte den Wunsch, am liebsten mit dem Vater zusammenzuleben. Am liebsten würde sie abwechslungsweise den Vater und die Mutter sehen.
Angesichts der Tatsache, dass beide Parteien in X. wohnen, könnte dem Wunsch von A. und B., in X. zu bleiben, auch mit einer alternierenden Obhut entsprochen werden.
4.5.7 Zusammenfassend ist Folgendes festzuhalten: Die Erziehungsfähigkeit beider Parteien ist gegeben. Die Parteien verfügen des Weiteren über ausreichende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten betreffend Kinderbelange.
In räumlicher Hinsicht besteht aufgrund der Nähe der Wohnungen der Parteien mit einer Distanz von lediglich 800 Metern eine ideale Ausgangslage für eine alternierende Obhut. Das Kriterium der Stabilität spräche zwar grundsätzlich für die alleinige Obhut der Gesuchstellerin, doch ist dieses Kriterium aufgrund des Alters der Kinder nur noch von untergeordneter Bedeutung, weshalb eine Abweichung vom bisherigen Betreuungsmodell im vorliegenden Fall keine Beeinträchtigung des Kindeswohls zur Folge hätte und insbesondere dem Interesse der Kinder, zu beiden Elternteilen eine gute Beziehung leben und auch pflegen zu dürfen, gegenüberzustellen ist.
Als Fazit ist somit festzuhalten, dass das Kindeswohl der gemeinsamen Kinder der Parteien unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände vorliegend durch Anordnung einer alternierenden Obhut am besten gewahrt wird. Entgegen dem vorinstanzlichen Entscheid ist somit die alternierende Obhut anzuordnen.
Kantonsgericht Luzern, Urteil 3B 18 69 vom 20.9.2019
Vertragsrecht
Ein Werk muss bestimmt oder bestimmbar sein
Ist bei einem Werbeflächenvertrag das Werk weder bestimmt noch bestimmbar, kann zwischen den Parteien mangels Einigung über einen objektiv wesentlichen Vertragspunkt kein Vertrag zustande gekommen sein.
Sachverhalt:
Die A. GmbH (Beschwerdeführerin) stellt interessierten Unternehmen Fahrzeuge unentgeltlich zur Verfügung, deren Karosserie sie als Werbeträger nutzt. Diese Werbefläche bietet sie ihrer Kundschaft für deren Werbung entgeltlich an. Die Beschwerdeführerin und D. einigten sich auf einen solchen Werbeflächenvertrag. D. kündigte nach fünf Monaten den Vertrag. Die Beschwerdeführerin stellte sich daraufhin auf den Standpunkt, gemäss dem Vertrag sei sie bei der Kündigung berechtigt, 80 Prozent des vereinbarten Entgeltes zu fordern. Mit Klage vor dem Bezirksgericht Bülach ZH forderte sie die Bezahlung von 3840 Franken plus Zinsen und Mahngebühren. Das Bezirksgericht wies die Klage ab. Die GmbH gelangte an das Obergericht Zürich.
Aus den Erwägungen:
2.1 Die Vorinstanz brachte zur Abweisung der Klage im Wesentlichen vor, zwischen den Parteien sei kein Vertrag zustande gekommen, da eine Einigung hinsichtlich des auszuführenden Werkes bzw. des Werkgegenstandes fehle. Allein durch die Platzierung der Werbefläche sei die Gestaltung der Präsentationsfläche und damit die Werbung an sich – das Werk – noch nicht bestimmt. Es werde nicht definiert, wie die Werbung zumindest in den Grundzügen (bspw. Farben, Schrift, Sujet, Wortlaut) aussehen soll. Es sei auch nicht erstellt, dass die Parteien zur Beschriftung bzw. zur Gestaltung der Präsentationsfläche vereinbart haben sollen, die Druckunterlagen würden spätestens acht Tage nach Vertragserteilung von der Beschwerdegegnerin nachgereicht oder gemailt. Ziffer 1 der AGB, wonach die zur Anfertigung der Präsentationsflächen erforderlichen Angaben und Unterlagen bei Vertragserteilung übergeben oder spätestens acht Tage nach Vertragserteilung übersandt würden, helfe der Beschwerdeführerin auch nicht weiter, da mangels Zustandekommen des Vertrags überhaupt auch die AGB keine Geltung zwischen den Parteien erlangten.
2.2 Beim streitgegenständlichen Vertrag handelt es sich um einen sog. Dauerwerkvertrag. Das auszuführende Werk ist ein objektiv wesentlicher Punkt des Vertragsinhalts, der unabhängig von den individuellen Anschauungen der Parteien einer einvernehmlichen Regelung bedarf, damit überhaupt ein Vertrag zustande kommt. Das Werk muss aufgrund der übereinstimmenden Willenserklärungen bestimmt, zumindest aber genügend bestimmbar sein. Genügend bestimmbar ist das geschuldete Werk dann, wenn die Parteien es in den Grundzügen vertraglich umschrieben, zugleich aber vereinbart haben, dass die noch offenen Einzelheiten der Werkausführung sich nach späterer Übereinkunft richten (vgl. Gauch, Der Werkvertrag, 6. Aufl. 2019, N 381 f.).
2.3 Die Beschwerdeführerin erklärt in ihrer Beschwerde, sie habe im einzelgerichtlichen Verfahren vorgebracht, dass sie durch den Werbeflächenvertrag verpflichtet worden sei, das Logo (Werkvertragsgegenstand) der Beschwerdegegnerin herzustellen und auf einem Fahrzeug zu applizieren. Die Beschwerdegegnerin habe gegen diese Tatsachenbehauptung keine Einwände vorgebracht. Die Beschwerdegegnerin hat jedoch gegen diese Tatsachenbehauptung im einzelgerichtlichen Verfahren durchaus Einwände vorgebracht. So erklärte sie in ihrer Duplik, es sei nicht vereinbart worden, welche Werbung überhaupt gemacht werde.
Im Vertrag seien nur die Felder R3 und R8 aufgeführt worden, aber was genau hätte aufgedruckt werden sollen, sei unbekannt. Die Beschwerdeführerin hätte gar keine Leistung erbringen können, da entgegen den Ausführungen im Vertrag überhaupt keine Werbung vereinbart bzw. definiert worden sei. Die Beschwerdeführerin habe sich, wie sie selber sage, verpflichtet, Werbung herzustellen, es sei jedoch nie vereinbart worden, wie diese aussehen sollte. Der Werkgegenstand, was überhaupt für eine Art von Werbung hergestellt werden sollte, sei nie definiert worden.
Das Beweisverfahren brachte keine Klärung im Sinne der Behauptung der Beschwerdeführerin. Es ist somit keine übereinstimmende Willenserklärung der Parteien erstellt, wonach als Werk das Logo der Beschwerdegegnerin auf den Feldern R3 und R8 auf dem Fahrzeug appliziert werden sollte.
Bei einer Einigung über die Platzierung von Werbung eines Unternehmens auf einer bestimmten Fläche eines Fahrzeugs ohne Regelung des Sujets, der Schrift, der Farben oder des Wortlauts kann aber jedenfalls nicht von einer hinreichenden Bestimmtheit des Werks ausgegangen werden. Die Vorinstanz kam im Ergebnis also zu Recht zum Schluss, das Werk sei noch nicht bestimmt.
2.5 Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, die Vorinstanz habe die Beweise willkürlich gewürdigt, als sie zum Schluss kam, es sei nicht erwiesen, dass die Parteien vereinbart hätten, offene Details später zu regeln, indem der Beschwerdegegnerin die Möglichkeit gegeben werde, Vorlagen nachträglich binnen Frist noch nachzureichen. So führt die Beschwerdeführerin aus, die Vorinstanz verkenne, dass die beiden ankreuzbaren Felder auf der Vorderseite des Werbeflächenvertrags nicht im Zusammenhang mit der Bestimmbarkeit des Werks, sondern im Zusammenhang mit den Erfüllungshandlungen der Parteien stünden.
Unbesehen wie sie vereinbart worden seien (gar keines, beide oder nur eines), seien die beiden Felder für die genügende Bestimmbarkeit des Werks unbeachtlich. Wie sich aus den vorangehenden Ausführungen ergibt, ist für die Bestimmbarkeit des Werks jedoch schon relevant, ob eine spätere Einigung über die Details vereinbart wurde, und eine solche Einigung ist dann anzunehmen, wenn die Parteien sich auf die Variante gemäss zweitem Feld geeinigt haben, also darauf, dass die Druckunterlagen von der Beschwerdegegnerin spätestens acht Tage nach Vertragserteilung der Beschwerdeführerin nachgereicht bzw. gemailt werden.
2.7 Im Ergebnis ist das Werk weder bestimmt noch bestimmbar, weshalb zwischen den Parteien mangels Einigung über einen objektiv wesentlichen Vertragspunkt
kein Vertrag zustande gekommen ist; der Beschwerdeführerin stehen weder eine Vergütung noch Verzugszins noch Mahngebühren zu, weshalb die Vorinstanz die Klage zu Recht abgewiesen hat. Die Beschwerde ist abzuweisen.
Obergericht Zürich, Urteil PP190039-O/U vom 22.10.2019
Haftpflichtrecht
Kein Schadenersatz wegen schmutziger Strasse
Die Verschmutzung einer Strasse bei einer Baustellenausfahrt mit kleineren Steinen, Splitt und Staub stellt nicht zwingend einen Werkmangel dar.
Sachverhalt:
Das Bundesamt für Strassen (Astra) baute in Muri BE einen Kreisel. Während der Bauarbeiten lenkte ein Fahrer seinen Porsche über die provisorische Fahrspur. Ein vorausfahrender Lastwagen wirbelte offenbar Kieselsteine auf. Diese beschädigten den Lack des Autos. Der Halter forderte vom Bund 6200 Franken Schadenersatz.
Aus den Erwägungen:
1. Hintergrund der Klage sind angebliche Schäden an einem von der Klägerin geleasten Fahrzeug infolge angeblich mangelhafter Baustellenreinigung durch die Beklagte. Die Klägerin klagt gegen die Beklagte Schadenersatz aus Werkeigentümerhaftung gemäss Art. 58 OR ein.
In ihrem Schlussvortrag bestätigte die Beklagte ihre bisherigen Ausführungen und machte zusammengefasst und im Wesentlichen geltend, die Klägerin habe die Mangelhaftigkeit des betreffenden Strassenabschnitts am 28. März 2018 nicht nachweisen können. Die Beklagte sei ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen und habe die Baustelle mit einem Gefahrensignal und einer Geschwindigkeitsreduktion ausgestattet. Zudem habe die Klägerin den Kausalzusammenhang zwischen den behaupteten Verschmutzungen und den Schäden nicht beweisen können.
3.1 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt ein Werkmangel vor, «wenn das Werk beim bestimmungsgemässen Gebrauch keine genügende Sicherheit bietet» (BGE 130 III 736, E. 1.3, S. 741 f.). Ob ein Werk fehlerhaft angelegt oder mangelhaft unterhalten ist, hängt vom Zweck ab, den es zu erfüllen hat. Diese Grundsätze gelten auch für öffentliche Strassen. Öffentliche Strassen müssen wie alle anderen Werke so angelegt und unterhalten sein, dass sie den Benützern hinreichende Sicherheit bieten. Im Vergleich zu anderen Werken dürfen an Strassen bezüglich Anlage und Unterhalt jedoch nicht allzu strenge Anforderungen gestellt werden. Das Strassennetz kann nicht in gleichem Mass unterhalten werden wie ein einzelnes Gebäude (BGE 102 II 343, E.1.c, S. 346; Urteile des Bundesgerichts 4A_479/2015 vom 2. Februar 2016, E. 6.1 m.w.H. sowie 4A_20/2009 vom 23. März 2009, E. 2.2).
Es kann vom Strasseneigentümer nicht erwartet werden, jede Strasse so auszugestalten, dass sie den grösstmöglichen Grad an Verkehrssicherheit bietet. Es genügt, dass die Strasse bei Anwendung gewöhnlicher Sorgfalt ohne Gefahr benützt werden kann. In erster Linie ist es Sache des einzelnen Verkehrsteilnehmers, die Strasse mit Vorsicht zu benützen und sein Verhalten den Strassenverhältnissen anzupassen (BGE 129 III 65, E. 1.1, S. 67). So wird der Sicherungspflicht des Strasseneigentümers insbesondere durch die Selbstverantwortung des Strassenbenützers Schranken gesetzt (vgl. hierzu BGE 130 III 736, E. 1.3, S. 741 f.).
6.8 Betreffend Strassenunterhalt gab der Zeuge D. zu Protokoll, die Strasse sei immer gereinigt worden. Soweit möglich, habe man die Baustelle am Freitag fürs Wochenende möglichst sauber hinterlassen. Es sei jedoch nicht möglich, täglich jeden Kieselstein zu entfernen. Daher sei die Baustelle nicht jeden Tag gereinigt worden. Die Baumeister hätten die Strasse aber regelmässig bzw. bei Bedarf mit Spritzwagen gereinigt.
Detailliertere Angaben konnte der Projektleiter H. machen: Er sagte aus, dass in der ersten Bauphase täglich 80 Lastwagenladungen mit Aushubmaterial abtransportiert worden seien. Pro Stunde seien sicher drei Lastwagen aus der Baustelle rausgefahren. Zu Spitzenzeiten sei die Strasse zwei Mal täglich gereinigt worden. Dabei habe ein Pneulader mit Bürste die Verschmutzungen aufgenommen und die Strasse gewaschen. Manchmal habe man auch externe Personen mit einem Lastwagen kommen und die ganze Baustelle reinigen lassen. Er habe diesbezüglich Weisungen vom Astra erhalten und die Reinigung zusammen mit der Bauleitung koordiniert.
6.9 Die Zeugenaussagen stimmen weitgehend überein. Klarerweise nicht zumutbar wäre es gewesen, jedem von der Aushubstelle wegfahrenden Lastwagen ein Reinigungsfahrzeug hinterherzuschicken, was auch die Klägerin einräumt. Zu beachten ist auch, dass während der Bauphase I trotz des hohen Verkehrsaufkommens keine ähnlich gelagerten Vorfälle bekannt und aktenkundig sind. Wären die Verhältnisse tatsächlich problematisch und der Unterhalt ungenügend gewesen, hätte dies zu weiteren Schadensfällen führen müssen. Schliesslich liegt der von der Klägerin geltend gemachte Schaden (kleine, nur bei näherer Betrachtung sichtbare Schadstellen ohne Einfluss auf Gebrauchstauglichkeit und Lebensdauer des Fahrzeuges) im untersten Bereich dessen, was bei Baustellen als Schäden befürchtet werden muss.
6.10 Im Ergebnis dringt die Beklagte mit ihrem Gegenbeweis durch, was zur Klageabweisung führt. Eine eingehende Prüfung der übrigen Haftungsvoraussetzungen kann damit grundsätzlich unterbleiben.
7. Im Ergebnis ist die Haftung der Beklagten infolge Fehlens eines Werkmangels sowie des genügenden Kausalzusammenhangs zu verneinen. Die Klage ist abzuweisen.
Obergericht Bern, Urteil ZK 19 190 vom 21.1.2020
Zivilprozess
Schlichtungsbehörde: Ohne Antrag kein Urteil
Schlichter dürfen nur urteilen, wenn der Kläger einen solchen Antrag gestellt hat. Der Kläger muss den Antrag auf den Entscheid schriftlich stellen oder mündlich zu Protokoll geben.
Sachverhalt:
Ein Angestellter forderte vom ehemaligen Arbeitgeber Lohn und Spesen von 350 Franken. An der Schlichtungsverhandlung erhöhte er die Forderung auf 1118 Franken. Der Schlichter in Wollerau SZ hiess die Klage des Angestellten gut. Der Arbeitgeber erhob Beschwerde vor dem Kantonsgericht Schwyz.
Aus den Erwägungen:
4. Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Beschwerdegegner als klagende Partei habe im Schlichtungsverfahren keinen Antrag auf Entscheidfällung im Sinne von Art. 21 Abs. 1 ZPO gestellt. Statt einen Entscheid zu fällen, hätte der Vermittler deshalb die Klagebewilligung ausstellen oder den Parteien allenfalls einen Urteilsvorschlag unterbreiten müssen.
a) Das einzige Dokument in den vorinstanzlichen Akten, welches teilweise den Ablauf der Schlichtungsverhandlung schildert und überhaupt als Protokoll aufgefasst werden könnte, ist die «Aktennotiz» vom 6. Juni 2019. Andere Akten, welche als Verhandlungsprotokoll angesehen werden könnten, sind nicht vorhanden. Zu prüfen ist, ob das Verfahren korrekt durchgeführt wurde.
b) In vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 2000 Franken kann die Schlichtungsbehörde entscheiden, sofern die klagende Partei einen entsprechenden Antrag stellt (Art. 212 Abs. 1 ZPO).
c) Die Aussagen der Parteien während der Schlichtungsverhandlung dürfen nicht protokolliert werden (Art. 205 Abs. 1 ZPO). Dieses Protokollierungsverbot bezieht sich nur auf den Inhalt der Schlichtungsverhandlung, untersagt jedoch nicht die Führung eines Verfahrensprotokolls. Daher ist auch von der Schlichtungsbehörde ein Protokoll (gemäss Art. 235 ZPO) zu führen, welches insbesondere Auskunft gibt über Ort und Zeit der Verhandlung, die Personalangaben der erscheinenden Parteien und Rechtsvertreter, die Anträge und das Ergebnis der Verhandlung im Sinne einer Einigung oder Nichteinigung.
Entschliesst sich die Schlichtungsbehörde, in der Sache zu entscheiden, so hat sie das allenfalls laufende Schlichtungsverfahren formell zu schliessen und dies entsprechend im Protokoll festzuhalten (CAN 2016/4, Nr. 69 = Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 9. Mai 2016, RU160013-O/U, E. 2.1). Anschliessend ist das Verfahren formell – mündlich oder schriftlich – zu eröffnen. Das Entscheidverfahren ist mündlich (Art. 212 Abs. 2 ZPO), weshalb über die Verhandlung ein Protokoll zu führen ist (Art. 235 ZPO). Aus dem Vorerwähnten ergibt sich, dass die Verhandlung vor der Schlichtungsbehörde in einen informellen Teil (reine Schlichtungsverhandlung ohne inhaltliche Protokollierung) und einen formellen Teil (Entscheidverhandlung mit Protokollierung der Parteivorträge) zu trennen ist. Die Parteien sind über den Wechsel vom informellen zum formellen Teil zu informieren.
d) Den vorinstanzlichen Akten ist weder ein Verfahrensprotokoll der Schlichtungsverhandlung noch ein Protokoll der Entscheidverhandlung zu entnehmen. Der angefochtene Entscheid enthält zwar in den Erwägungen einen Verweis auf eine Verhandlung. Die Vorladung sowie die Verschiebungsanzeige erfolgten aber lediglich zur Schlichtungsverhandlung. Auch aus dem geschilderten Verfahrensablauf gemäss Aktennotiz vom 6. Juni 2019 ist zu schliessen, dass offensichtlich keine Entscheidverhandlung stattfand. Weil ein Verhandlungsprotokoll fehlt, ist auch die Erhöhung der Rechtsbegehren durch den Beschwerdegegner nicht dokumentiert, sodass Gegenstand des Vermittlungsverfahrens lediglich die Rechtsbegehren gemäss Schlichtungsgesuch bilden konnten.
Auch die angebliche Klageanerkennung im Umfang von 100 Franken hätte protokolliert oder schriftlich eingereicht werden müssen (vgl. Art. 235 Abs. 1 lit. d und Art. 130 ZPO). Indem die Vorinstanz weder ein Schlichtungs- noch ein Entscheidverhandlungsprotokoll erstellte, und insbesondere weil sich die Parteien nicht an einer mündlichen Entscheidverhandlung zum Streitgegenstand äussern konnten, missachtete sie das rechtliche Gehör der Parteien und verstiess gegen Art. 29 BV und Art. 205 Abs. 2 i.V.m. Art. 212 Abs. 2 ZPO. In Gutheissung der Beschwerde ist der angefochtene Entscheid somit aufzuheben.
Zusammenfassend ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und zur Durchführung eines formell korrekten Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Kantonsgericht Schwyz, Beschluss ZK2 2019 36 vom 22.11.2019
Strafprozess
Amtliche Verteidigung bei Geldwäscherei
Das Mass der gebotenen Sorgfalt bezüglich eines Geldwäschereidelikts stellt eine Beschuldigte vor komplexe Fragen. Dies kann eine amtliche Verteidigung rechtfertigen, auch wenn keine Strafe von mehr als vier Monaten droht.
Sachverhalt:
In einem Strafverfahren am Regionalgericht Bern-Mittelland wird einer Angestellten einer Immobilienfirma mutmassliche Geldwäscherei sowie Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz vorgeworfen. Das Gericht wies ihr Gesuch um Beiordnung einer amtlichen Verteidigerin ab. Dagegen erhob sie am Berner Obergericht Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
3. Der Beschwerdeführerin wird im als Anklageschrift geltenden (angefochtenen) Strafbefehl vom 7. November 2019 betreffend die mutmassliche Geldwäscherei Folgendes vorgeworfen: A.schloss nach einem Jobangebot im Internet der Firma einen Arbeitsvertrag als Regionalvertreterin des Leiters der Abteilung für Internationale Immobilien ab und erhielt via E-Mail bzw. Task-Manager ihren ersten Auftrag. Gemäss diesem dringenden Auftrag hob sie einen Betrag von 17 000 Franken, der vorgängig auf ihr Konto überwiesen wurde, bei ihrer Bank in grossen Noten ab. Sie nahm den hohen Geldbetrag, steckte gemäss Anweisung das Geld zusammen mit weiteren Dokumenten in ein Couvert und sendete den Brief per Post an eine Empfängerin in Moskau. Sie wusste bzw. musste aufgrund der Gesamtumstände (seltsames Vorgehen, grosser Geldbetrag, Anweisung des Auftraggebers, ihrer Bank nichts von ihrer Geschäftstätigkeit zu sagen, ungewöhnlicher Bargeldversand per Post, Versand an eine russische Adresse, grosse Eile) annehmen, dass das Geld aus einer strafbaren Handlung bzw. einem Verbrechen stammt. Durch Weiterleitung des Geldes unternahm sie eine Handlung, welche die Herkunft des Geldes, dessen Auffindung und Einbeziehung vereitelte.
4.1 Gemäss Art. 130 lit. c StPO muss eine beschuldigte Person verteidigt werden, wenn sie wegen ihres körperlichen oder geistigen Zustandes oder aus anderen Gründen ihre Verfahrensinteressen nicht ausreichend wahren kann und die gesetzliche Vertretung dazu nicht in der Lage ist. Zwischen der notwendigen Verteidigung gemäss Art. 130 lit. c StPO und dem Anspruch auf amtliche Verteidigung gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b i.V.m. 132 Abs. 2 StPO können sich Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben.
4.2 Eine amtliche Verteidigung gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ist durch die Verfahrensleitung anzuordnen, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist. Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre (Art. 132 Abs. 2 StPO). Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagesssätzen zu erwarten ist (Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO).
Bei der Beurteilung, ob der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, ist den Umständen des Einzelfalles Rechnung zu tragen. Schwierigkeiten in tatsächlicher Hinsicht liegen insbesondere vor, wenn der objektive oder subjektive Tatbestand umstritten ist und dazu verschiedene Zeugen einvernommen oder Gutachten eingeholt werden müssen oder wenn die Beweislage umstritten ist. Schwierigkeiten in rechtlicher Hinsicht sind etwa anzunehmen, wenn die rechtliche Subsumtion Anlass zu Zweifeln gibt oder die in Frage kommenden Sanktionen strittig sind. Als besondere Schwierigkeiten, die eine Verbeiständung rechtfertigen können, fallen auch in der betroffenen Person liegende Gründe in Betracht, insbesondere deren Unfähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden. Auch Sprachschwierigkeiten, mangelnde Vertrautheit mit dem schweizerischen Rechtssystem oder heikle Abgrenzungsfragen können tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten begründen, welche, insgesamt betrachtet, für die sachliche Notwendigkeit einer amtlichen Verteidigung sprechen.
Das Bundesgericht hat einen relativ schweren Fall etwa bei einer Strafdrohung von drei Monaten Gefängnis unbedingt (BGE 115 Ia 103, E. 4), bei einer «empfindlichen Strafe von jedenfalls mehreren Monaten Gefängnis» (BGE 120 Ia 43, E. 3c) oder bei der Einsprache gegen einen Strafbefehl von 40 Tagen Gefängnis bedingt angenommen. Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint die Bundesgerichtspraxis einen verfassungsmässigen Anspruch auf einen amtlichen Rechtsbeistand.
Gestützt auf das soeben Erwähnte sowie mit Blick auf den Wortlaut von Art. 132 Abs. 3 StPO («jedenfalls dann nicht») folgt, dass nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen ist, wenn die im Gesetz genannten Schwellenwerte nicht erreicht sind. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Formulierung von Abs. 2 der vorgenannten Bestimmung durch die Verwendung des Worts «namentlich» zum Ausdruck bringt, dass nicht ausgeschlossen ist, neben den beiden genannten Kriterien (kein Bagatellfall; tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre) weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
4.3 Die Beschwerdekammer schliesst sich den Ausführungen der Verteidigung an. Es liegt zwar kein Grund für eine notwendige Verteidigung vor. Die Voraussetzungen für die Beiordnung einer amtlichen Verteidigung sind jedoch erfüllt. Zunächst einmal ist die Beschwerdeführerin mittellos im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO (siehe dazu Beschwerdeschrift S. 5 f.). Des Weiteren liegen die von Rechtsanwältin B. beschriebenen Schwierigkeiten insbesondere rechtlicher Natur vor, denen die Beschwerdeführerin alleine nicht gewachsen wäre: Vorliegend stellt nicht nur die relative Komplexität des Sachverhalts, sondern auch die (faktische) Verknüpfung von zwei Verfahren eine Schwierigkeit für die Beschwerdeführerin dar. Bedeutungsvoll ist ebenfalls die nicht einfache und entscheidende Abgrenzung in Bezug auf den subjektiven Tatbestand und das Mass der gebotenen Sorgfalt.
Die Abgrenzungsfragen in diesem Zusammenhang sind in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ziemlich komplex und werden wohl darüber entscheiden, ob die Beschwerdeführerin verurteilt oder freigesprochen werden wird. Des Weiteren ist die Beschwerdeführerin seit Jahren gesundheitlich angeschlagen und befindet sich psychisch und physisch in einem labilen Zustand. Insgesamt ist zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person eine amtliche Verteidigung – wenn auch knapp – geboten.
Obergericht Bern, Urteil BK 20 51 vom 25.2.2020
Sozialversicherungsrecht
Observierung mit Ortungsgerät nur als ultima ratio
Beim Einsatz eines Ortungsgeräts von Seiten der Versicherung handelt es sich um das letzte Mittel zur Überwachung von Versicherten.
Sachverhalt:
Ein Mann aus dem Kanton St. Gallen bezog Krankentaggelder der Visana. Die Krankenkasse hatte Zweifel an der Krankheit des Versicherten und beauftragte eine Firma damit, ihn zu observieren. Gleichzeitig stellte sie beim Versicherungsgericht St. Gallen ein Gesuch, den Mann mit einem Ortungsgerät überwachen zu dürfen, um seinen Aufenthaltsort zu bestimmen.
Aus den Erwägungen:
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet der Antrag der Gesuchstellerin auf richterliche Genehmigung des Einsatzes von technischen Instrumenten zur Standortbestimmung nach Art. 43b ATSG. Beabsichtigt der Versicherungsträger, eine Observation mit technischen Instrumenten zur Standortbestimmung anzuordnen, so unterbreitet er gemäss Art. 43b Abs. 1 ATSG dem zuständigen Gericht einen Antrag mit: a. der Angabe des spezifischen Ziels der Observation; b. den Angaben zu den von der Observation betroffenen Personen; c. den vorgesehenen Observationsmodalitäten; d. der Begründung der Notwendigkeit des Einsatzes technischer Instrumente zur Standortbestimmung und der Erläuterung, warum bisherige Abklärungen ohne diese Instrumente erfolglos waren, aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden; e. der Angabe von Beginn und Ende der Observation sowie der Frist, innerhalb der sie durchzuführen ist sowie f. den für die Genehmigung wesentlichen Akten.
Die Präsidentin oder der Präsident der zuständigen Abteilung des zuständigen Gerichts entscheidet als Einzelrichterin beziehungsweise als Einzelrichter innerhalb von 5 Arbeitstagen nach Erhalt mit kurzer Begründung über den Antrag des Versicherungsträgers; sie oder er kann die Aufgabe an eine andere Richterin oder einen anderen Richter übertragen (Art. 43b Abs. 2 ATSG). Gemäss Art. 43b Abs. 3 ATSG kann sie oder er die Genehmigung befristet oder mit Auflagen erteilen oder eine Ergänzung der Akten oder weitere Informationen verlangen.
Zunächst ist die Frage der Notwendigkeit des Einsatzes technischer Instrumente zur Standortbestimmung zu prüfen. Gemäss Art. 43b Abs. 1 lit. d ATSG muss der Antrag die Notwendigkeit des Einsatzes von technischen Instrumenten zur Standortbestimmung begründen. Es besteht eine qualifizierte Begründungspflicht, weil der Antrag eine Erläuterung enthalten muss, warum bisherige Abklärungen ohne diese Instrumente erfolglos waren, aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden. Auf diese Weise verdeutlicht der Gesetzgeber, dass der Einsatz technischer Instrumente zur Standortbestimmung subsidiär zur gewöhnlichen Observation mittels Bild- und Tonaufzeichnungen sein soll, die ihrerseits subsidiär zu weniger invasiven Abklärungsmassnahmen ist (BSK ATSG-Thomas Gächter /Michael Meier, N 12 zu Art. 43b).
Aus dem Observationsauftrag vom 17. Februar 2020 ergibt sich, dass die Gesuchstellerin im Besitz von Informationen ist, wonach der Gesuchsgegner längere Strecken mit dem Auto habe zurücklegen können. So sei er beispielsweise von seinem Wohnort nach X. und retour gefahren. Generell zeige sich, dass der Gesuchsgegner beinahe täglich mit dem Auto unterwegs sei. Bereits aus diesen Ausführungen wird die nicht näher begründete Behauptung der Gesuchstellerin, es fehle «an nachvollziehbaren Zuzugsorten» widerlegt, nachdem der Gesuchsgegner offenbar seine Fahrten – zumindest teilweise – vom Wohnort aus startete. Weder aus den Ausführungen der Gesuchstellerin noch den eingereichten Unterlagen geht hervor, dass der Gesuchsgegner nicht am Wohnort lokalisiert bzw. nicht dort angetroffen werden könnte. Zudem legte die Gesuchstellerin weder schlüssig dar noch ist ersichtlich, dass es unmöglich oder unverhältnismässig schwer wäre, vom Gesuchsgegner nähere Informationen über seinen regelmässigen Aufenthaltsort, seinen Arbeitsort, seine Arbeitswege einzuholen. Jedenfalls fehlen jegliche Hinweise auf erfolglose Abklärungsbemühungen seitens der Gesuchstellerin.
Nach dem Gesagten ist ein Lokalisations- bzw. Wahrnehmungsnotstand im Sinn von Art. 43b ATSG, der das (letzte) Mittel eines Einsatzes von technischen Instrumenten zur Standortbestimmung ausnahmsweise zu rechtfertigen vermag, nicht ausgewiesen. Hinzu kommt, dass die Gesuchstellerin im Gesuch nicht darlegte, weshalb ordentliche Abklärungsmassnahmen (wie etwa das Einholen von näheren geografischen Auskünften bezüglich Arbeitsort und Arbeitswegen oder bezüglich zukünftiger medizinischer Behandlungstermine) oder weniger eingriffsintensive Beobachtungsalternativen (wie etwa Vereinbarung von persönlichen Gesprächen der Gesuchstellerin mit dem Gesuchsgegner am Wohnort oder am Sitz der Gesuchstellerin, in deren zeitlichem und geografischem Umfeld eine Observation durchgeführt werden könnte) nicht ausreichend wären.
Zwar könnte die Observation mit dem Einsatz von technischen Instrumenten wie einem GPS-Peilsender in einem Fall wie dem vorliegenden (bei dem die Gesuchstellerin häufige, auch längere Autofahrten des Versicherten vermutet) allenfalls kostengünstiger gehalten werden. Dieses Interesse der Versicherung wiegt jedoch offenkundig nicht schwer genug, um den erheblichen Eingriff in die Privatsphäre des Gesuchsgegners zu rechtfertigen.
Gemäss den vorstehenden Erwägungen ist das Gesuch um Genehmigung des Einsatzes technischer Instrumente zur Standortbestimmung abzuweisen.
Versicherungsgericht Kanton St. Gallen, Entscheid UV2020/13 vom 21.2.2020