Kindesschutzrecht
Kinder haben einen Anspruch auf Reisedokumente
Das Kindeswohl umfasst auch Ausbildung, Entfaltungsmöglichkeiten und Verwandtschaftspflege im Ausland. Die Eltern sind verpflichtet, die im Kindesinteresse stehenden Reisedokumente zu beantragen.
Sachverhalt
Drei Geschwister im Alter von 15 und 17 Jahren aus dem Kanton St. Gallen leben unter der Obhut ihrer Mutter. Die Eltern sind geschieden und haben das gemeinsame Sorgerecht. Der Vater verweigerte auf dem Formular der Passbehörde seine Zustimmung zur Beantragung von Reisepässen für seine Kinder. Er ist um die Sicherheit seiner Kinder besorgt und will nur zustimmen, wenn er die Reisepläne kennt. Mutter und Kinder argumentierten, sie möchten ihre Verwandten in Kanada besuchen sowie Sprach- und Trainingsreisen unternehmen, wobei sie sich bei der Wahl der Länder alle Optionen offenhalten möchten. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, die Verwaltungsrekurskommission und das Kantonsgericht St. Gallen heissen den Antrag der Mutter gut.
Aus den Erwägungen
III 4. a) Die elterliche Sorge ist ein unverfügbares, zweckgebundenes und fremdnütziges Pflichtrecht, das die Gesamtheit der elterlichen Verantwortlichkeit und Befugnisse gegenüber dem Kind umfasst, insbesondere mit Bezug auf die Erziehung, die gesetzliche Vertretung und die Vermögensverwaltung des Kindes. Im Vordergrund steht die Pflichtbindung der Eltern. Die Rechtfertigung der Befugnisse findet sich nicht im Machtanspruch der Eltern, sondern in den Bedürfnissen des Kindes nach Schutz und Unterstützung in der Entwicklung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit.
b) Bei gemeinsamer elterlicher Sorge haben sich die Eltern über die Entscheidungen zu einigen, die sie gemeinsam zu fällen haben. Der Gesetzgeber hat es zwar abgelehnt, ein spezielles Verfahren für die Lösung von Konflikten bei der Ausübung der elterlichen Sorge einzurichten. Nimmt der Elternkonflikt jedoch eine solche Dimension an, dass das Kindeswohl gefährdet erscheint, stehen die Massnahmen des Kindesschutzes (Art. 307 ff. ZGB) zur Verfügung. Eine Kindeswohlgefährdung ist zu bejahen bei anhaltenden Konflikten um Entscheidungen in nicht alltäglichen oder nicht dringlichen Angelegenheiten, welche das Kind in seinen Beziehungen zu beiden Elternteilen belasten.
Ebenfalls muss die Blockierung eines für den Schutz der Gesundheit, die Weiterführung der Ausbildung oder die Sicherstellung der angemessenen Pflege und Erziehung des Kindes notwendigen Entscheides zu Kindesschutzmassnahmen führen (BSK ZGB-Schwenzer / Cottier, 6. Aufl., Art. 301, N 3g f. m.w.H.). Eine Kindeswohlgefährdung muss sodann nicht akut vorliegen oder sich verwirklicht haben. Im Sinne der Prävention verlangt der Kindesschutz, vorausschauend zu handeln. Elterliches Handeln bzw. das kontinuierliche Zurückstehen und Gewährenlassen im Rahmen der Entwicklung der Kinder hat sich am Kindeswohl zu orientieren.
Konflikte bei Berufswahlentscheidungen oder fehlende Bereitschaft zur Förderung können das Kindeswohl gleich gefährden wie auch gefühllos-rohe oder überbetont fürsorglich-verhätschelnde Behandlung (BSK ZGB-Breitschmid, 6. Aufl., Art. 307, N 5 und 18). Die elterliche Entscheidungskompetenz steht unter Vorbehalt der eigenen Handlungsfähigkeit des Kindes. Die Pflicht, den Kindern der Reife entsprechend Freiheiten und Lebensgestaltung zu gewähren, schränkt die elterliche Entscheidungskompetenz mit zunehmendem Alter und zunehmender Reife der Kinder ein (BSK ZGB-Schwenzer / Cottier, Art. 301, N 3).
c/aa) Die 17-jährige C. wie auch die 15-jährigen Zwillinge D. und E. sind in Bezug auf die Ausstellung von Pässen urteilsfähig und bekundeten ihren Willen klar und bestimmt. So hielten sie fest, dass sie im Rahmen ihrer Ausbildung Sprachaufenthalte absolvieren möchten. Sie wollen nicht, dass ihr schulisches Fortkommen und damit auch ihre berufliche Karriere unnötig erschwert werden. C. ist im Leichtathletikkader und kann an Trainingslagern im Ausland teilnehmen, für welche je nach Land ebenfalls eine Reisebewilligung erforderlich ist. Bei D., der die Kantonsschule in F. besucht, ist ein Sprachaufenthalt im englischsprachigen Raum obligatorisch.
Die Kantonsschule empfiehlt aus verschiedenen Gründen explizit England als Wahl für einen Sprachaufenthalt. Gemäss Angaben der Mutter wollen die Kinder sodann auch unbeschränkt reisen und ihre Verwandten in Kanada besuchen. Illusorische, schädliche oder missbräuchliche Beweggründe der Mutter sowie C., D. und E. sind insgesamt nicht ersichtlich. Auch Anzeichen einer allfälligen Kindesentführung durch die Mutter liegen nicht vor.
bb) Die Weigerung des Vaters, seine Zustimmung zur Passbeantragung zu erteilen, ist vorliegend weder sachlich begründet noch nachvollziehbar. Vielmehr liegt sein Motiv – worauf bereits die Vorinstanz zutreffend hinwies – im Verhältnis zur Mutter begründet, indem diese ihn (behauptungsgemäss) nicht in Entscheidungen einbezieht. Ein solches Verhalten des Vaters widerspricht dem Wesen der elterlichen Sorge, mit der für die Kinder zu sorgen ist. Der Vater scheint sein Zustimmungsrecht zum Passantrag offenbar als Druckmittel zur Erlangung von Informationen einzusetzen.
Es ist darauf hinzuweisen, dass jeder Schweizer Staatsangehörige einen Anspruch auf einen Ausweis je Ausweisart und damit auf einen Schweizer Reisepass hat (vgl. Art. 1 Abs. 1 AwG). Solche Ausweise dienen einerseits zum Nachweis der Schweizer Staatsangehörigkeit und andererseits der eigenen Identität (vgl. Art. 1 Abs. 2 AwG). Es kann nicht angehen, dass Kinder bzw. vorliegend Jugendliche aufgrund eines Elternkonflikts über keine Reisepässe verfügen und sie dadurch in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden. Ausserdem käme es – obwohl der Obhutsinhaber alleine entscheiden könnte (vgl. dazu OGer BE KES 21 386 vom 24. September 2021, E. 5.3) – zu einer faktischen Zustimmungspflicht für Ferienreisen in Zielländer, welche für die Einreise einen Reisepass voraussetzen.
Durch sein Verhalten verhinderte der Vater bereits den in England geplanten Sprachaufenthalt von C. und blockierte damit nicht nur einen Teil ihrer Ausbildung, sondern bot auch für eine Möglichkeit, ihre Entwicklung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu unterstützen, keine Hand.
cc) Aufgrund des ausdrücklich geäusserten Wunsches der Kinder und insbesondere mit Blick auf deren Wohl (Ausbildung, Entfaltungsmöglichkeiten und Verwandtschaftspflege in Kanada) hat das einseitige Interesse des Vaters zurückzustehen. Vielmehr ist er anzuhalten, seine Kinder zu unterstützen und sie in ihrem schulischen und beruflichen Fortkommen und ihrer Selbständigkeit zu fördern. Wie die Vorinstanz zutreffend festhielt, belastete der Vater, indem er die Zustimmung zur Ausstellung eines Reisepasses ohne nachvollziehbaren Grund verweigerte und dadurch die Ausbildung von C. teilweise blockierte, das ohnehin bereits angespannte Verhältnis zu seinen Kindern indessen noch weiter, was bei den vorliegenden Umständen als Kindeswohlgefährdung zu qualifizieren ist.
d) Zusammenfassend ist nicht zu beanstanden, dass die Kesb die Zustimmung zur Beantragung von Reisepässen für C., D. und E. durch die Mutter erteilte.
Kantonsgericht St. Gallen, Entscheid KES.2024.24/25/26 vom 24.10.2024
Arbeitsrecht
Kompliment zum Aussehen kein Grund für “Fristlose”
Die Facebook-Nachricht eines Angestellten an eine Mitarbeiterin, er finde sie attraktiv, rechtfertigt keine fristlose Kündigung.
Sachverhalt
Ein 53-jähriger Verkaufsberater arbeitete drei Jahre bei einer Aargauer Firma. Er kündigte den Vertrag. Vier Tage später schickte er einer 20-jährigen Mitarbeiterin über Facebook eine Nachricht: «Aber du bist wirklich eine wunderschöne Frau», mit küssendem Emoji, und «Leider für mich unerreichbar», mit einem Affen-Emoji, das sich mit beiden Händen die Augen zuhält.
Zudem kam es am selben Tag am Arbeitsplatz zu einem Streit zwischen den beiden. Der Vorgesetzte befragte beide und kündigte dem Verkaufsberater danach fristlos. Begründung: Er habe die Frau sexuell belästigt. Das Bezirksgericht Kulm und das Obergericht Aargau beurteilen die fristlose Entlassung als ungerechtfertigt und sprechen dem Mann den Lohn für die Kündigungsfrist und 4275 Franken Entschädigung zu, was einem halben Monatslohn entspricht.
Aus den Erwägungen
2.2 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist eine fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber nur bei besonders schweren Verfehlungen des Arbeitnehmers gerechtfertigt. Diese müssen einerseits objektiv geeignet sein, die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zu zerstören oder zumindest so tiefgreifend zu erschüttern, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten ist, und anderseits auch tatsächlich dazu geführt haben.
Sind die Verfehlungen weniger schwerwiegend, müssen sie trotz Verwarnung wiederholt vorgekommen sein. Zu berücksichtigen ist sodann auch die verbleibende Zeit bis zur ordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses (BGE 142 III 579, E. 4.2). Je kürzer diese Dauer ist, umso gewichtiger muss der angeführte Grund sein, um zur fristlosen Entlassung zu berechtigen (Urteil des Bundesgerichts 4A_177/2023 vom 12. Juni 2023, E. 3.1.3).
Sexuelle Belästigungen einer Arbeitnehmerin durch einen Arbeitnehmer am Arbeitsplatz oder wiederholte sexistische Bemerkungen eines Arbeitnehmers am Arbeitsplatz (auch in Abwesenheit der betroffenen Arbeitnehmerin) gegenüber Arbeitskollegen am Arbeitsplatz können ein wichtiger Kündigungsgrund i.S.v. Art. 337 OR sein (vgl. Urteile des Bundesgerichts 4A_238/2007 vom 1. Oktober 2007, E. 4.2 f.; 4A_251/2009 vom 29. Juni 2009, E. 2.1 f. [in casu verneint]; 4A_124/2017 vom 31. Januar 2018, E. 4.1 f. [in casu verneint]).
2.3.3 Es erscheint zweifelhaft, ob es sich bei der an E. versendeten Facebook-Nachricht, dass sie eine wirklich wunderschöne Frau, für den Kläger aber unerreichbar sei, zusammen mit dem Kuss-Emoji und dem Affen-Emoji um eine sexuelle Belästigung handelt, geht es doch inhaltlich in erster Linie um ein Kompliment, ohne dass dafür eindeutig sexuell konnotierte Worte oder Emojis verwendet worden wären. Auch die telefonische Aussage des Klägers gegenüber F., dass er E. «nicht nur am Telefon» wolle, erlaubt nicht nur eine Interpretation als eindeutig sexuelle Belästigung, zumal nicht klar ist, ob der Kläger davon ausgegangen ist, F. werde diese Aussage an E. weiterleiten, oder ob sich F. selbst (sexuell) belästigt fühlte.
Ob die Facebook-Nachricht und das Telefonat je für sich oder zusammen eine sexuelle Belästigung darstellen, kann letztlich aber offen bleiben. Denn auch wenn dies zu bejahen wäre, ist die von der Beklagten getroffene Massnahme der fristlosen Kündigung unverhältnismässig.
2.3.4 Der Kläger hatte gegenüber E. keine Vorgesetztenfunktion, mit der eine erhöhte Verantwortung und Sorgepflicht einhergegangen wäre (vgl. BGE 130 III 28, E. 4.1 sowie Urteil des Bundesgerichts 4A_105/2018 vom 10. Oktober 2018, E. 3.1 und 3.2.1, wonach das Verhalten der Kadermitglieder wegen des besonderen Vertrauens und der Verantwortung, die ihre Stellung im Unternehmen mit sich bringt, strenger zu beurteilen ist).
Die Beklagte hat unbestritten von einer Verwarnung und anderen durchaus möglichen Massnahmen abgesehen. Inwieweit die dem Kläger vorgeworfenen Pflichtverletzungen die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zerstört oder zumindest so tiefgreifend erschüttert haben, dass der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht mehr zuzumuten war, ist nicht ersichtlich. Das Absehen von einer Verwarnung und anderen Massnahmen lässt sich vorliegend nicht mit der Schwere der Vorwürfe begründen.
Nach dem Gesagten erweist sich die von der Beklagten ausgesprochene fristlose Kündigung als ungerechtfertigt, und ihre Berufung ist in diesem Punkt abzuweisen.
Obergericht Aargau, Urteil ZOR.2024.18 vom 9.9.2024
Auftrag
Treuhänder muss Mehrwertsteuersätze kennen
Ein Solothurner Treuhänder verletzt seine Sorgfaltspflicht, wenn er die Steuer auf mehrwertsteuerbefreite Umsätze zahlt. Die Kundin hat Anspruch auf Schadenersatz.
Sachverhalt
Eine Solothurner Firma erbringt Lebensberatungen über eine Telefonnummer. Die Swisscom zahlte ihr das vereinbarte Entgelt jeweils mehrwertsteuerbefreit aus. Das war auf den Abrechnungen so deklariert. Ein Treuhänder war für die Mehrwertsteuerabrechnung der Firma zuständig. Er bemerkte die steuerbefreiten Zahlungen nicht, deklarierte die Umsätze und zahlte die Mehrwertsteuer an die Steuerbehörde. Das Amtsgericht in Dornach SO und das Obergericht verurteilen den Treuhänder, der Firma 32 760 Franken Schadenersatz zu zahlen.
Aus den Erwägungen
4.1 Das Amtsgericht hielt in seiner Urteilsbegründung vorab als unbestritten fest, dass zwischen der Klägerin und dem Beklagten ein mündliches Auftragsverhältnis bestanden habe. Dieses habe die Erstellung des Jahresabschlusses, das Führen der Buchhaltung, das Erstellen der Mehrwertsteuerabrechnung und das Ausfüllen der privaten sowie geschäftlichen Steuererklärung umfasst. Die Klägerin habe jeweils von der Swisscom monatliche Abrechnungen erhalten. Die Geschäftsführerin der Klägerin habe diese bezahlt, gesammelt und quartalsweise an den Beklagten übermittelt.
Dieser habe in der Folge jeweils die Mehrwertsteuerabrechnungen erstellt. Ebenfalls unbestritten sei, dass die Klägerin grundsätzlich mehrwertsteuerpflichtig gewesen sei. Sodann sei beidseits anerkannt, dass es bei der Swisscom-Rechnung ab August 2009 (ausgestellt im September 2009) einen Wechsel beim ausgewiesenen Mehrwertsteuersatz von 7,6 Prozent auf 0,0 Prozent gegeben habe.
4.2 Gestützt auf diesen Sachverhalt erwog das Amtsgericht, der Beklagte sei Treuhänder mit Fachausweis und langjähriger, über 20-jähriger Berufserfahrung.
Von einem durchschnittlich sorgfältigen Treuhänder sei zu erwarten, dass er Rechnungen prüfe bzw. plausibilisiere; hätte er dies gemacht, hätte er den fraglichen Wechsel des Mehrwertsteuersatzes entdecken müssen, womit auch nicht falsch abgerechnet worden wäre. Damit habe der Beklagte sorgfaltspflichtswidrig und fahrlässig gehandelt. Es sei ohne weitere Begründung erstellt, dass die Vertragsverletzung kausal für den Schadenseintritt sei.
6. Der Berufungskläger stellt mit diesen Vorbringen gar nicht in Abrede, dass er seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist. Vielmehr versucht er, die Verantwortung für das Nichtbemerken der Änderung der Rechnungsstellung durch die Swisscom auf die Berufungsbeklagte abzuschieben. Seiner Auffassung nach ist die Berufungsbeklagte dafür verantwortlich, dass die Umstellung nicht bemerkt und die Mehrwertsteuer weiterhin abgezogen wurde.
Er übersieht dabei, dass er gerade deshalb mit der Abrechnung der Mehrwertsteuer beauftragt worden war, weil die Geschäftsführerin der Berufungsbeklagten diesbezüglich unkundig war. Aus diesem Grund hat sie damit einen Fachmann beauftragt. Der Berufungskläger ist Treuhänder mit Fachausweis und langjähriger Berufserfahrung. Er wurde von einer Laiin als Experte beigezogen.
Bei dieser Sachlage musste sich das Amtsgericht nicht weiter mit den Sorgfaltspflichten befassen, welche die Geschäftsführung der Berufungsbeklagten zu übernehmen hat. Wie die Vorinstanz zutreffend festhält, erhellt ohne weitere Begründung, dass die Vertragsverletzung des Berufungsklägers adäquat kausal für den Schadenseintritt war. Von einer Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch ein Selbstverschulden der Berufungsbeklagten kann keine Rede sein.
Obergericht Solothurn, Urteil ZKBER.2024.55 vom 10.12.2024
Versicherungsvertrag
Nur einmal Geld für zwei Covid-Schliessungen
Eine Epidemieversicherung muss die Versicherungssumme einmal pro Epidemie, nicht für jede Betriebsschliessung einzeln leisten.
Sachverhalt
Die Betriebsversicherung eines Restaurants deckte bei einer Epidemie bis zu 100'000 Franken Erwerbsausfall. Das Restaurant musste während der Corona-Epidemie auf Anordnung des Bundesrats von März bis Mai 2020 und von Dezember 2020 bis April 2021 schliessen. Für die erste Schliessung zahlte die Versicherung 67'246 Franken, für die zweite Schliessung nur noch 32'754 Franken. Der Wirt hatte jedoch bei der zweiten Schliessung einen Erwerbsausfall von 120'000 Franken. Er forderte für die zweite Schliessung die volle Versicherungssumme von 100'000 Franken. Das Handelsgericht Zürich wies seine Klage ab. Es habe sich um dieselbe Epidemie und daher nur um einen einzigen Versicherungsfall gehandelt.
Aus den Erwägungen
3.3 Die vom Bundesrat ab dem 28. Februar 2020 angeordneten und hernach stufenweise angepassten Massnahmen bezweckten alle die Eindämmung von Covid-19. Die Parteien sind sich einig, dass spätestens im Zuge der ersten Schliessung der Restaurants der Versicherungsfall eingetreten ist. Auch wenn der Bundesrat nach der ersten Schliessung mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip und die konkrete Situation zunächst die Öffnung von Restaurants unter Auflagen wieder gestattete und im späteren Verlauf eine zweite Schliessung anordnete, bleibt dies ein einheitliches Massnahmenpaket zur Bekämpfung derselben Krankheit, und es liegen keine neuen Massnahmen vor, die zu einem zusätzlichen Versicherungsfall führen (vgl. in dieser Hinsicht auch Urteil des Bundesgerichts 4A_303/2022 vom 17. Oktober 2022, E. 6.2).
Nicht von Bedeutung sein kann in diesem Zusammenhang, ob die jeweiligen Massnahmen stets in derselben Verordnung oder in neuen Verordnungen erlassen wurden bzw. sich auf unterschiedliche Rechtsgrundlagen stützen. Einerseits änderte dies nichts daran, dass es sich durchgehend um Massnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 handelte. Andererseits betrifft die unterschiedliche Rechtsgrundlage im Wesentlichen die Unterscheidung zwischen der besonderen Lage nach Art. 6 EpG und der ausserordentlichen Lage gemäss Art. 7 EpG.
Handelsgericht Zürich, Urteil HG210141 vom 17.4.2024
Datenschutz
Mietgericht ist nicht zuständig für Datenauskünfte
Fordert ein Mieter vom Vermieter einzig Zugang zu seinen Personendaten nach Datenschutzgesetz, sind nicht die Mietgerichte, sondern die ordentlichen Gerichte zuständig.
Sachverhalt
Ein Mieter verlangte von der Vermieterin Einsicht in alle ihn betreffende Daten. Das Mietgericht Uster ZH trat nicht auf die Klage ein. Das Obergericht Zürich bestätigte den Entscheid.
Aus den Erwägungen
3.4.1 Der Berufungskläger verlangt mit seiner Klage nach Art. 15 Abs. 4 DSG gestützt auf Art. 8 DSG (vgl. Art. 25 nDSG i.V.m. Art. 243 Abs. 2 lit. d ZPO) von der Berufungsbeklagten die Erteilung von Auskunft über alle im Zusammenhang mit dem erwähnten Mietverhältnis stehenden Daten. In rechtlicher Hinsicht stützt er sich einzig auf datenschutzrechtliche Bestimmungen. Für Streitigkeiten zur Durchsetzung des Auskunftsrechts nach Art. 25 DSG sieht das Bundesrecht in Art. 243 Abs. 2 lit. d ZPO das vereinfachte Verfahren vor.
Im Kanton Zürich entscheidet das Einzelgericht erstinstanzlich über alle Streitigkeiten im vereinfachten Verfahren gemäss Art. 243 ZPO, die nicht einer anderen Instanz zugewiesen sind (vgl. § 24 lit. a GOG). Einer anderen Instanz – nämlich dem Mietgericht – zugewiesen sind namentlich Streitigkeiten aus Mietverhältnissen (Art. 253a OR) für Wohnräume.
Eine solche Streitigkeit aus Mietverhältnis liegt vor, wenn sich der Klagegegenstand (Anspruch) aus einem Mietverhältnis herleitet und damit dem entspricht, was unter die Vertragsklage fällt. Mit einer Vertragsklage werden alle materiell-rechtlichen Ansprüche geltend gemacht, die aus einer solchen Vertragsbeziehung fliessen (z.B. Mietzinsforderung etc.), Folge einer einst bestehenden Vertragsbeziehung sind (z.B. Rückerstattungsansprüche, Schadenersatz aus dem Dahinfallen des Vertrags, Kündigungsschaden etc.) oder das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen des Vertrags selbst betreffen (vgl. ZK OR-Higi, 4. Aufl. 1996, Art. 274, N 44 ff. m.w.H.; s.a. Hauser /Schweri / Lieber, GOG-Kommentar, 2. Aufl. 2017, § 21, N 3; siehe bereits Hauser / Schweri, GVG-Kommentar, Zürich 2002, § 18, N 2 [zum gleich lautenden § 18 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes, das bis 1. Januar 2011 in Kraft war]).
Zwar finden die Bestimmungen des Datenschutzgesetzes auch im Rahmen eines Mietverhältnisses Anwendung (vgl. BGE 142 III 263, E. 2.2.1). Im Mietrecht (Art. 253 ff. OR) gibt es jedoch – anders als im Arbeitsrecht, das in Art. 328b OR den Persönlichkeitsschutz einer arbeitnehmenden Person in Hinblick auf die Datenschutzgesetzgebung konkretisiert – keine besondere Bestimmung über die Bearbeitung von Personendaten einer mietenden Partei durch die vermietende Partei (vgl. BGE 142 III 263, E. 2.2.1). Und damit besteht insbesondere keine Bestimmung, die einen (materiell-rechtlichen) Datenauskunftsanspruch als Wirkung des Abschlusses eines Mietvertrags vorsehen würde.
Es kann somit nicht gesagt werden, der vom Berufungskläger mit seiner Klage geltend gemachte Datenauskunftsanspruch sei ein materiell-rechtlicher Anspruch, der aus einer (Miet-)Vertragsbeziehung fliesse oder sich daraus herleite. Dieser Anspruch ist auch keine Folge einer einst bestehenden (Miet-)Vertragsbeziehung, und die Streitigkeit betrifft auch nicht das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen des (Miet-)Vertrages. Die Klage des Berufungsklägers stellt somit keine Vertragsklage dar.
3.4.2 Daran vermag auch der Entscheid des Mietgerichts Zürich (MD190008- L/Z1 vom 12. Juni 2019 [ZMP 2019 Nr. 15]) nichts zu ändern, den der Berufungskläger auch im Berufungsverfahren zur Begründung seines Standpunktes anführt. In jenem Entscheid wurden mehrere zusätzliche Begrifflichkeiten eingeführt, um verständlich zu machen, was unter einer Streitigkeit aus einem Mietverhältnis im Sinne von § 21 Abs. 1 lit. a GOG zu verstehen sei: Im Leitsatztitel (Regeste) wird erwähnt, das Mietgericht sei sachlich zuständig, wenn neben einer datenschutzrechtlichen auch eine «mietvertragliche Grundlage» in Betracht komme (vgl. ZMP 2019 Nr. 15, S. 1).
In den Erwägungen wird einerseits ausgeführt, das Mietgericht sei sachlich zuständig, wenn der Streitgegenstand in einem «weiteren Sinne mietrechtlicher Natur» sei (a.a.O. S. 2). Andererseits wird festgehalten, wenn ein Anspruch «im Kontext des Wohnungsmietverhältnisses» stehe, sei das Mietgericht hierfür sachlich zuständig (vgl. a.a.O. S. 2). Es erscheint insbesondere mit Blick auf die Rechtssicherheit wenig überzeugend, die Begrifflichkeit der «Streitigkeiten aus Mietverhältnis», die das Gesetz verwendet, im Rahmen der Rechtsprechung durch neue, interpretationsbedürftige Begrifflichkeiten wie «in einem weiteren Sinne mietrechtlicher Natur» oder «im Kontext des Mietverhältnisses» zu ersetzen.
Zumal unter diese Begrifflichkeiten insbesondere auch etwa Streitigkeiten zu subsumieren wären, in welchen die Inanspruchnahme des Fachwissens der Mietgerichte und die Anwendung der Sozialschutznormen des Mietrechts nicht gerechtfertigt wäre oder die gar in die Zuständigkeit von Strafgerichten fallen würden. Aus diesem Entscheid des Mietgerichts Zürich können somit – unabhängig davon, ob er hier einschlägig ist oder nicht – keine weiteren Aufschlüsse gewonnen werden, die zur Klärung der sachlichen Zuständigkeit von Mietgerichten beitragen.
3.4.4 Nach dem Gesagten hat sich das Mietgericht Uster zu Recht als sachlich unzuständig erachtet.
Obergericht Zürich, Urteil NG230016 vom 5.3.2024
Anwaltsrecht
Verweis wegen unzulässiger Doppelvertretung
Ein Anwalt darf in einem Sachverhalt nicht zwei Parteien mit unterschiedlichen Interessen vertreten. Nicht entscheidend ist, dass sich die beiden Parteien nicht im gleichen Prozess gegenüberstanden.
Sachverhalt
Eine Frau aus dem Kanton Solothurn beauftragte einen Anwalt, sie gegenüber der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zu vertreten. Später stellte sich heraus, dass die Mandantin auch die Antragstellerin in einem Strafverfahren wegen Ehrverletzungsdelikten war, in dem der Anwalt die Beschuldigte vertrat. Die Anwaltskammer des Kantons Solothurn erteilte dem Anwalt einen Verweis wegen einer unzulässigen Doppelvertretung. Dieser erhob dagegen beim Obergericht Solothurn ohne Erfolg Beschwerde.
Aus den Erwägungen
5. Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer sowohl die Anzeigerin in einem Kesb-Verfahren als auch Frau […] in einem Strafverfahren, in welchem die Anzeigerin Privatklägerin war, vertrat. Obschon es sich bei den beiden Mandaten nicht um die gleiche Streitsache handelt, ist dadurch eine unzulässige Doppelvertretung per se nicht ausgeschlossen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist der Begriff «dieselbe Rechtssache» nicht darauf beschränkt, dass der Anwalt in demselben Verfahren und hinsichtlich derselben Beteiligten tätig wird. Massgebend ist die ganze in Betracht kommende Rechtsangelegenheit mit allen ihren straf- und zivilrechtlichen Beziehungen, mithin also die Identität des anvertrauten Sachverhalts, mag dieser auch in Verfahren verschiedener Art und verschiedener Zielrichtung von Bedeutung sein.
Findet sich das ursprünglich vor dem Anwalt ausgebreitete Lebensverhältnis in seinem Tatsachen- und materiellen Rechtsgehalt auch nur teilweise in dem Dienst für die Gegenpartei wieder, so ist dieselbe Rechtssache betroffen, wobei gleichgültig ist, ob das Verfahren, die Verfahrensart, die Rechtsgebiete oder der rechtliche Gesichtspunkt gewechselt haben.
Der Anwalt darf auch keinen Dritten vertreten, dessen Interessen diejenigen eines Klienten in irgendeiner Weise beeinträchtigen könnten. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich bereits dann um eine unzulässige Doppelvertretung, wenn der Anwalt mit der Annahme eines Mandats Gefahr läuft, Interessen eines Dritten, den er bereits in einer anderen Angelegenheit vertritt, zu verletzen (vgl. Urteile des Bundesgerichts 2C_688/2009 vom 25. März 2010, E. 3.1; 2C_121/2009 vom 7. August 2009, E. 5.1).
Für die Bejahung eines Interessenkonflikts genügt es, dass sich der Anwalt in seinen Entscheidungen für den Klienten nicht frei fühlt, weil diese seine eigenen oder die Interessen Dritter tangieren könnten, mit denen der Anwalt aus irgendwelchen Gründen verbunden ist (vgl. Fellmann, a.a.O., Art. 12, N 84). Die Vorbringen des Beschwerdeführers sind demnach weder zielführend noch überzeugend.
Der Beschwerdeführer vertrat die Anzeigerin vom 21. Januar 2022 bis 13. Oktober 2022. Als Wahlverteidiger von Frau […] wurde der Beschwerdeführer nach der Strafanzeige von […] als Mandatsträger in das Strafverfahren involviert. Nachdem auch die Anzeigerin Frau […] am 23. Mai 2022 aufgrund deren Aussagen vor Dritten, die Kesb werde der Anzeigerin das Kind wegnehmen, anzeigte, wurden die Strafverfahren vereinigt.
Selbst wenn der Beschwerdeführer die Parteien somit nicht in der Strafsache vertrat, kann nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung von derselben Rechtssache gesprochen werden, weil sich die strafrechtlich monierte Äusserung von Frau […], die Kesb wolle der Anzeigerin das Kind wegnehmen, ebengerade auf das Kesb-Verfahren der Anzeigerin hinsichtlich kindesschutzrechtlicher Massnahmen bezieht. Wenn auch in den Einvernahmen Frau […] keine Frage zum Kesb-Verfahren gestellt worden sein soll, so ist ein möglicher Informationsfluss trotzdem wahrscheinlich.
Indem es beim Strafverfahren um den Tatbestand der Verleumdung ging, hätte der Beschwerdeführer zur Bestreitung des Vorwurfs gegen Frau […] Kenntnisse aus dem Kesb-Verfahren der Anzeigerin verwenden können. Insbesondere ob tatsächlich kindesschutzrechtliche Massnahmen getroffen werden und dadurch ein Tatbestandsmerkmal der Verleumdung ebengerade nicht gegeben ist. Durch die obgenannten Ausführungen war daher eine unzulässige Doppelvertretung gegeben. Durch die Vertretung von Frau […] im Strafverfahren, wobei die Anzeigerin Parteistellung innehatte, und dem gleichzeitigen Vertreten der Anzeigerin im Kesb-Verfahren lief der Beschwerdeführer Gefahr, die Interessen von Frau […] und/oder der Anzeigerin nicht genügend vertreten zu können, weil ihre Interessen gegenläufig waren.
Er musste durch die Doppelvertretung Handlungen jeweils gegen und für die Anzeigerin vornehmen. Dadurch konnte sich der Beschwerdeführer für keine der Klientinnen voll einsetzen, ohne einen Loyalitätskonflikt herbeizuführen. Dass dies unmittelbare Auswirkungen auf die Mandatsverhältnisse hatte, ist durch die Doppelvertretung immanent und nicht von der Hand zu weisen.
Eine Realisierung dieser Gefahr ist nicht erforderlich. Bei einer Doppelvertretung spielt es entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keine Rolle, ob der Beschwerdeführer prozessierte oder nur beratend tätig war. Ein unzulässiger Interessenkonflikt kann auch ohne prozessuale Doppelvertretung vorliegen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_814/2014 vom 22. Januar 2015, E. 4.1.4). Die Anwaltskammer ging somit berechtigterweise von einer unzulässigen Doppelvertretung aus, wodurch der Beschwerdeführer die Berufsregeln nach Art. 12 lit. c BGFA verletzte. Die Beschwerde ist somit abzuweisen.
6.3 Bei Art. 12 lit. c BGFA handelt es sich um eine zentrale Berufsregel. Die Mandanten müssen sich darauf verlassen können, dass man sich für sie und ihre Interessen unbeeinflusst einsetzt. Der Beschwerdeführer hat sich über die gebotenen Regeln hinweggesetzt. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz nicht mehr von einem leichtesten Verstoss ausgeht, für welchen noch eine Verwarnung in Frage käme. Diese Einschätzung ist aufgrund der Aktenlage augenscheinlich nicht als übermässig streng zu würdigen. Der Verweis bewegt sich im Rahmen des grossen pflichtgemässen Ermessens, das den kantonalen Behörden bei der Bestimmung der Disziplinarsanktion zukommt.
Verwaltungsgericht Solothurn, Urteil VWBES.2024.112 vom 3.12.2024
Ausländerrecht
Nach 59 Jahren keine Wegweisung wegen Sozialhilfe
Eine jahrzehntelange Sozialhilfeabhängigkeit wegen Suchterkrankung rechtfertigt bei einer in der Schweiz geborenen 59-jährigen Ausländerin ohne vorherige Verwarnung keine Wegweisung.
Sachverhalt
Eine 59-jährige Italienerin wurde in der Schweiz geboren und lebte nie in Italien. Sie hatte eine Lehre als Coiffeuse gemacht, jedoch im Erwerbsleben nie Fuss gefasst. Sie ist alkohol- und drogenabhängig und bezieht seit 21 Jahren Sozialhilfe. Das solothurnische Migrationsamt entzog ihr die Niederlassungsbewilligung und forderte sie auf, das Land zu verlassen. Das Verwaltungsgericht Solothurn hob den Entscheid auf. Nach knapp 60 Jahren im Land sei vor einer Wegweisung aus der Schweiz eine Verwarnung angemessen.
Aus den Erwägungen
2.1 Für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und ihre Familienangehörigen hat das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) nur insoweit Geltung, als das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten über die Freizügigkeit (FZA) keine abweichenden Bestimmungen enthält oder das AIG günstigere Bestimmungen vorsieht (Art. 2 Abs. 2 AIG und Art. 12 FZA).
2.3 Nach Art. 6 Abs. 6 Anhang I FZA verliert ein Vertragsausländer bei unfreiwilliger Beendigung der Erwerbstätigkeit nicht unmittelbar seinen Arbeitnehmerstatus und damit sein Aufenthaltsrecht. Ein Vertragsausländer kann diesen Status aber verlieren, wenn er entweder (1) freiwillig arbeitslos geworden ist oder (2) aufgrund seines Verhaltens feststeht, dass keinerlei ernsthafte Aussichten (mehr) darauf bestehen, dass er in absehbarer Zeit eine andere Arbeit finden wird oder (3) sein Verhalten gesamthaft als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden muss, da er seine Bewilligung (etwa) gestützt auf eine fiktive bzw. zeitlich kurze Erwerbstätigkeit einzig zum Zweck erworben hat, von günstigeren Sozialleistungen als im Heimat- oder in einem anderen Vertragsstaat zu profitieren (vgl. BGE 141 II 1, E. 2.2.1 mit Hinweisen).
Ist der ursprünglich unfreiwillig arbeitslos gewordene Vertragsausländer 18 Monate arbeitslos geblieben und hat er seinen Anspruch auf Arbeitslosengelder ausgeschöpft, ist praxisgemäss von fehlenden Aussichten auf eine neue Stelle auszugehen (vgl. BGE 147 II 1, E. 2.1.3; Urteile des Bundesgerichts 2C_168/2021 vom 23. November 2021, E. 4.5.1; 2C_755/2019 vom 6. Februar 2020, E. 4.4.1 mit Hinweisen).
2.4 Gemäss Art. 7 lit. c FZA i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Anhang I FZA haben Staatsangehörige einer anderen Vertragspartei nach Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit ein Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei. Personen, die sich auf das Verbleiberecht berufen können, behalten damit ihre erworbenen Rechte als Arbeitnehmerinnen resp. Arbeitnehmer gemäss FZA, obschon sie den Arbeitnehmerstatuts nicht mehr für sich in Anspruch nehmen können. Gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. b Satz 1 der Verordnung Nr. 1251/70, auf welche Art. 4 Abs. 2 Anhang I FZA verweist, besteht ein Verbleiberecht für den «Arbeitnehmer, der infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aufgibt, wenn er sich seit mindestens zwei Jahren im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ständig aufgehalten hat».
2.7 Die Niederlassungsbewilligung kann nach Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG widerrufen werden, wenn die Ausländerin oder der Ausländer oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist. Nach geltender Praxis ist der Widerrufsgrund nach Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG erfüllt, wenn konkret die Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Sozialhilfeabhängigkeit besteht; blosse finanzielle Bedenken genügen nicht. Neben den bisherigen und den aktuellen Verhältnissen ist auch die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung auf längere Sicht abzuwägen. Ein Widerruf soll in Betracht kommen, wenn eine Person hohe finanzielle Leistungen erhalten hat und nicht damit gerechnet werden kann, dass sie in Zukunft für ihren Lebensunterhalt sorgen wird (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_357/2023 vom 12. Juli 2024, E. 4.1).
4.1 Unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin seit dem 1. September 2003 und somit seit mehr als 21 Jahren Sozialhilfe bezieht, wobei die Sozialhilfeunterstützung weiterhin andauert. Dadurch entstand bis zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Entscheids ein Negativsaldo in Höhe von Fr. 391'584.85. Die Beschwerdeführerin absolvierte zwar eine Lehre als Coiffeuse. Danach konnte sie im hiesigen Arbeitsmarkt nicht Fuss fassen, zumal sie – zumindest im Kanton Solothurn – seit dem Jahr 2003 Sozialhilfe bezieht und ab dem Jahr 2011 leidglich sporadisch einer Erwerbstätigkeit im Stundenlohn nachging. Die Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass sie durch ihre Drogen- und Alkoholsucht ein Verbleiberecht nach Art. 7 lit. c FZA i.V.m. Art. 4 Anhang I FZA innehaben soll, zielen ins Leere.
Die Drogenabhängigkeit durch den Heroinkonsum wurde letztmals im Jahr 2022 attestiert. Gemäss einem aktuellen Arztzeugnis leidet die Beschwerdeführerin an einer Alkoholkrankheit. Bei dauernder Arbeitsunfähigkeit besteht ein bedingungsloses Verbleiberecht dann, wenn Staatsangehörige der EU oder Efta wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit dauernd arbeitsunfähig geworden sind und Anspruch auf eine Rente eines schweizerischen Versicherungsträgers haben oder nach zweijährigem ständigem Aufenthalt in der Schweiz aus einem anderen Grund dauerhaft arbeitsunfähig werden.
Die unselbständige Erwerbstätigkeit muss gerade infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit aufgegeben worden sein, was nicht der Fall ist, wenn der Arbeitnehmerstatus bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bereits entfallen war (vgl. BGE 141 II 1, E. 4.2.3). Bei der Drogen- und Alkoholsucht handelt es sich nicht um eine Berufskrankheit, weshalb die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Suchtkrankheit kein Verbleiberecht aus Art. 7 lit. c FAZ ableiten kann. Gestützt auf die obgenannten Ausführungen hat die Beschwerdeführerin somit kein Verbleiberecht nach FZA.
4.2 Da der Beschwerdeführerin somit kein freizügigkeitsrechtlicher Anspruch auf einen Aufenthalt in der Schweiz zukommt, steht Art. 5 Anhang I FZA einem Widerruf ihrer Niederlassungsbewilligung EU/Efta nicht entgegen.
5.2 Wie obgenannt ausgeführt hat die Beschwerdeführerin kein Verbleiberecht nach FZA. Des Weiteren erfüllt sie mindestens einen Widerrufsgrund. Der Beschwerdeführerin war zumindest seit dem Schreiben vom 20. November 2023 bewusst, dass ihre finanzielle Situation – insbesondere ihr Sozialhilfebezug – migrationsrechtlich ein Thema war, wobei sie spätestens nach Gewährung des rechtlichen Gehörs um die möglichen Folgen ihres Sozialhilfebezugs wusste. Trotzdem hat sich ihre soziale oder wirtschaftliche Situation nicht massgeblich verändert, indem sie sich bis anhin nicht hinreichend bemühte, sich (durch Anhängigmachen eines IV-Verfahrens) von der Sozialhilfe zu lösen bzw. eine Schuldensanierung zu initiieren.
Nichtsdestotrotz ist die Beschwerdeführerin in der Schweiz geboren und hält sich deshalb seit rund 60 Jahren hierzulande auf. In einem anderen Land wie bspw. Italien war sie nie wohnhaft. Sie hat in der Schweiz die Schule besucht, eine Lehre gemacht und eine Familie gegründet.
Bis anhin wurde die Beschwerdeführerin nicht formell verwarnt, sondern die Niederlassungsbewilligung wurde ihr nach einem bald 60-jährigen Aufenthalt in der Schweiz entzogen. Eine Verwarnung muss zwar nicht immer einem Bewilligungswiderruf vorangehen, und es kann nicht angehen, dass die Behörde verpflichtet ist, jeden im Lande weilenden Ausländer ständig (zu) beaufsichtigen und ihn zurechtzuweisen, wenn sein Verhalten sich der Grenze des Zulässigen nähert (vgl. Schindler Benjamin, in: Caroni Martina / Gächter Thomas / Thurnherr Daniela [Hrsg.], Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Bern 2010, Art. 96, N 19). Allerdings ist insbesondere bei einem langfristigen Aufenthalt eher zu verlangen, dass die Person verwarnt wird (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_283/2011 vom 30. Juli 2011, E. 2.3).
Das Verhalten der Beschwerdeführerin erfordert klar ausländerrechtliche Konsequenzen. Eine Wegweisung ist angesichts des langen Aufenthalts der Beschwerdeführerin jedoch (noch) nicht verhältnismässig, wohingegen eine Verwarnung klar angemessen und verhältnismässig erscheint. Es ist anzunehmen, dass eine Verwarnung die erforderliche und angemessene Wirkung hat, der Beschwerdeführerin eindrücklich aufzuzeigen, dass sie ihr Verhalten nachhaltig ändern muss, ansonsten sie bei einer fehlenden Verbesserung der Situation aus der Schweiz weggewiesen wird.
Verwaltungsgericht Solothurn, Urteil VWBES.2024.232 vom 17.12.2024