Sozialversicherung
Prozessuale Chancengleichheit für Versicherte
Ordnet ein Sozialversicherer eine Expertise an, hat er das im Bereich der Invaliden- wie Unfallversicherung in Form einer beim kantonalen Versicherungsgericht anfechtbaren Zwischenverfügung zu tun.
Sachverhalt:
Eine Unfallversicherte war der Ansicht, zur Beurteilung ihres Schadens nach einem Auffahrunfall fehle den von der Helsana Unfall AG vorgeschlagenen Gutachtern die nötige Unabhängigkeit. Auf diesen Einwand hin erliess die Helsana eine Zwischenverfügung, worin sie an ihrem Vorschlag festhielt. Die Betroffene erhob Beschwerde ans kantonale Sozialversicherungsgericht und verlangte ein ordentliches Einigungsverfahren. Zudem sei die Helsana im Sinne einer vorsorglichen Massnahme zu verpflichten, die angeordnete Begutachtung bis zur rechtskräftigen Klärung der Angelegenheit auszusetzen. Weiter sei festzustellen, dass die vorgeschlagenen Gutachter die Unabhängigkeitskriterien gemäss Art. 6 EMRK nicht erfüllen und ein allenfalls angesetztes Mahn- und Bedenkzeitverfahren bis zum rechtskräftigen Entscheid über das vorliegende Verfahren zu sistieren.
Das Sozialversicherungsgericht schrieb das Gesuch um vorsorgliche Massnahmen im Sinne einer Aussetzung der interdisziplinären Begutachtung als gegenstandslos geworden ab, trat auf das Gesuch um vorsorgliche Massnahmen im Sinne einer Sistierung eines allfälligen Mahn- und Bedenkzeitverfahrens nicht ein und wies die Beschwerden ab. Die Betroffene zog dieselben Rechtsbegehren mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht weiter.
Aus den Erwägungen:
6. Was die Rügen im Zusammenhang mit der Anordnung der interdisziplinären Begutachtung durch die Dres. med. Koch, Cotar und Cichon anbelangt, welche durch die Zwischenverfügung der Helsana vom 29. November 2011 erfolgt ist, stellt sich zunächst die Eintretensfrage, prüft doch das Bundesgericht von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (BGE 135 III 1 E. 1.1, S. 3 mit Hinweisen).
6.1 Mit BGE 137 V 210 hat das Bundesgericht im Zusammenhang mit der Einholung von Administrativ- und Gerichtsgutachten bei Medizinischen Abklärungsstellen (Medas) die bisherige Rechtsprechung, wonach der Anordnung einer Begutachtung durch den Sozialversicherer kein Verfügungscharakter zukommt (BGE 132 V 93), geändert und festgehalten, dass die (bei fehlendem Konsens zu treffende) Anordnung einer Expertise in die Form einer Zwischenverfügung zu kleiden ist, welche dem Verfügungsbegriff gemäss Art. 5 VwVG entspricht und die beim kantonalen Versicherungsgericht (bzw. Bundesverwaltungsgericht) anfechtbar ist (BGE 137 V 210 E. 3.4.2.6 und 3.4.2.7, S. 256 f.). Es stellt sich vorliegend zunächst die Frage, ob diese anlässlich der Überprüfung einer Medas-Begutachtung im Rahmen der Invalidenversicherung vorgenommene Rechtsprechungsänderung auch in der Unfallversicherung gilt. Andernfalls wäre auf die Beschwerde von vornherein nicht einzutreten.
Die Frage ist auch insofern klärungsbedürftig, als die Praxis dazu uneinheitlich ist. Während einige Unfallversicherer seit Erlass von BGE 137 V 210 eine Begutachtung mittels Zwischenverfügung anordnen und der versicherten Person die Gutachterfragen vorgängig zustellen, vertreten andere Unfallversicherer, insbesondere die Suva, den Standpunkt, das im Bereich der Invalidenversicherung ergangene Grundsatzurteil könne im Bereich der Unfallversicherung nicht zur Anwendung kommen (vgl. Markus Hüsler, «Gilt das Urteil auch für die Unfallversicherung?», in: HAVE 2/2012, S. 205 ff.).
6.1.1 Anlass von BGE 137 V 210 war die nähere Prüfung der Sach- und Rechtslage im Umfeld der Medas im Lichte der auf das von Prof. Dr. iur. Jörg Paul Müller und Dr. iur. Johannes Reich verfasste «Rechtsgutachten zur Vereinbarkeit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur medizinischen Begutachtung durch Medizinische Abklärungsstellen betreffend Ansprüche auf Leistungen der Invalidenversicherung mit Art. 6 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten» vom 11. Februar 2010 abgestützten Rügen. Der in diesem Urteil vollzogenen Rechtsprechungsänderung lagen im Wesentlichen die Sorge um das Fairnessgebot im Allgemeinen und die prozessuale Chancengleichheit (Waffengleichheit) im Besonderen zugrunde.
Das Bundesgericht hielt - nicht IV-spezifisch, sondern generell - fest, im Verfahren um Sozialversicherungsleistungen bestehe ein relativ hohes Mass an Ungleichheit der Beteiligten (zugunsten der Verwaltung), indem der versicherten Person mit oftmals nur geringen finanziellen Mitteln eine spezialisierte Fachverwaltung mit erheblichen Ressourcen, besonders ausgebildeten Sachbearbeitern und juristischen und medizinischen Fachpersonen gegenüberstehe (E. 2.1.2.2, S. 229 f). Beim Feststellen struktureller Nachteile, von welchen Leistungsansprecher der Sozialversicherung typischerweise betroffen seien - so das Bundesgericht weiter - bedürfe es gegebenenfalls struktureller Korrektive (E. 2.1.2.3, S. 230).
Wohl sind einige der in BGE 137 V 210 E. 2.4 (S. 247 ff.) erwähnten potenziellen Risiken für sachfremde Einflüsse auf die gutachterliche Unabhängigkeit und auf die Gutachtenergebnisse - wie im erwähnten Beitrag von Markus Hüsler zu Recht erwähnt wird (vgl. Markus Hüsler, a.a.O., S. 207) - durch das in der Invalidenversicherung herrschende System bedingt, so namentlich durch die freie Wahl der Gutachterstelle bei der Auftragsvergabe und durch die für alle Medas sowie polydisziplinären Gutachten vereinbarten identischen Auftragspauschalen. Die in BGE 137 V 210 vorgesehenen Korrektive der Vergabe von Medas-Begutachtungsaufträgen nach dem Zufallsprinzip sowie einer Mindestdifferenzierung des Gutachtenstarifs beziehen sich daher auf das Verfahren in der Invalidenversicherung.
Ob und inwieweit diese Korrektive auf das in der Unfallversicherung herrschende System überhaupt anwendbar sind, braucht an dieser Stelle nicht geprüft zu werden. Was hingegen das Fairnessgebot und die prozessuale Chancengleichheit anbelangt, gelten die erwähnten Feststellungen des Bundesgerichts bezüglich eines relativ hohen Masses an Ungleichheit der Beteiligten - entgegen der Auffassung der Suva (vgl. Markus Hüsler, a.a.O., S. 207) - ebenfalls im System der Unfallversicherung, was eine latente Gefährdung der Verfahrensfairness auch in der Unfallversicherung zur Folge hat. Die diesbezüglichen Korrektive zur Stärkung der Partizipationsrechte müssen daher - sofern nicht IV-spezifisch - auch im Verfahren der Unfallversicherung gelten.
6.1.2 Sowohl im Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung wie auch in jenem der Unfallversicherung gelten grundsätzlich dieselben Verfahrensbestimmungen, namentlich die hier einschlägigen Art. 43-49 ATSG. Es kann daher nicht angehen, dass in den beiden Sozialversicherungszweigen Invalidenversicherung und Unfallversicherung daraus abgeleitet unterschiedliche Verfahrens-, Gehörs- und Partizipationsrechte gelten.
6.1.3 Die den beiden sozialrechtlichen Abteilungen im Verfahren nach Art. 23 Abs. 1 BGG unterbreiteten Fragen (siehe BGE 137 V 210 Sachverhalt C.ff, S. 217 f.) sind denn auch «neutral» formuliert und lassen keinen Zweifel daran entstehen, dass die Rechtsprechungsänderung jedenfalls auch für die Unfallversicherung gelten soll. Dies rechtfertigt sich entgegen der Auffassung der Suva (Markus Hüsler, a.a.O., S. 206 f.) einerseits wegen der oben erwähnten latenten Gefährdung der Verfahrensfairness auch in der Unfallversicherung, andererseits wegen der in beiden Bereichen anwendbaren Bestimmungen Art. 43-49 ATSG.
6.1.4 Zusammenfassend ist somit als Zwischenergebnis festzuhalten, dass auch im Bereich der Unfallversicherung eine Begutachtung bei Uneinigkeit durch eine beim kantonalen Versicherungsgericht (bzw. Bundesverwaltungsgericht) anfechtbare Zwischenverfügung anzuordnen ist und dass der versicherten Person vorgängige Mitwirkungsrechte in dem Sinne zustehen, dass sie sich zu den Gutachterfragen äussern kann. Die dabei zu beachtenden Modalitäten richten sich sinngemäss nach BGE 137 V 210 E. 3.4.2.9, S. 258.
6.2 Bezüglich Eintreten stellt sich als Nächstes die Frage, ob kantonale Entscheide bzw. solche des Bundesverwaltungsgerichts über Beschwerden gegen (Zwischen-) Verfügungen der Unfallversicherer betreffend Gutachtensanordnung mit Beschwerde an das Bundesgericht weiterziehbar sind.
6.2.1 Im jüngst ergangenen, zur Publikation bestimmten Urteil 9C_950/2011 vom 9. Mai 2012 hat das Bundesgericht entschieden, dass kantonale Entscheide über Beschwerden gegen Verfügungen der IV-Stellen betreffend die Einholung von medizinischen Gutachten nicht ans Bundesgericht weiterziehbar sind, sofern nicht formelle Ausstandsgründe beurteilt worden sind, und dass die formelle Ablehnung eines Sachverständigen regelmässig nicht allein mit strukturellen Umständen begründet werden kann, wie sie in BGE 137 V 210 behandelt worden sind.
6.2.2 Auch diesbezüglich gibt es keinen Grund, für das Verfahren im Bereich der Unfallversicherung etwas Abweichendes vorzusehen.
6.3 Da die Ablehnung der Sachverständigen vorliegend mit strukturellen Umständen gemäss BGE 137 V 210 begründet wurde und im angefochtenen Entscheid nicht formelle Ausstandsgründe beurteilt worden sind, kann nach dem Gesagten auf die Beschwerde gegen die mit Zwischenverfügung vom 29. November 2011 angeordnete Begutachtung nicht eingetreten werden. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
Urteil 8C_336/2012 der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 13.8.2012
Sozialversicherung
Alte Medas-Gutachten bei Zweifeln ersetzen
Medas-Gutachten, die nach altem Recht eingeholt wurden, entsprechen nicht dem heutigen Standard. Das ist bei der Beweiswürdigung von solchen Expertisen zu beachten. Erwecken objektive Kriterien erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit und Schlüssigkeit einer solchen ärztlichen Feststellung, muss ein Gerichtsgutachten eingeholt werden.
Sachverhalt:
Das Obergericht des Kantons Uri hatte die IV-Stelle angewiesen, in einem IV-Fall die Akten zu ergänzen, nämlich ein Medas-Gutachten einzuholen. Aufgrund dieses Gutachtens hat die IV-Stelle einen Rentenanspruch von A. am 31. August 2011 abgewiesen; ebenso entschied anschliessend das Obergericht. Nun verlangt A. vom Bundesgericht, dass ihr eine Invalidenrente zugesprochen wird.
Das Bundesgericht kann im Rahmen einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nur prüfen, ob das kantonale Gericht zur Beurteilung und definitiven Verneinung des Rentenanspruches abschliessend auf das interdisziplinäre Medas-Gutachten vom 15. Februar 2011 abstellen durfte. Das Obergericht Uri ging davon aus. Die Beschwerdeführerin A. war gegenteiliger Meinung und belegte dies mit einem Parteigutachten von F., einem Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie.
Aus den Erwägungen:
2.2 Mit BGE 137 V 210 hat das Bundesgericht die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Einholung von Medas-Gutachten durch die Invalidenversicherung neu konkretisiert. In casu wurde die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 21. Mai 2010 zur Medas-Begutachtung aufgeboten, deren psychiatrisch-psychologische, neurologische und rheumatologische Untersuchungen am
3., 17. und 24. Juni 2010 erfolgten; das Gutachten seinerseits datiert vom 15. Februar 2011. In Anbetracht dieses Verfahrensablaufs konnten die Mitwirkungsrechte der versicherten Person nach der neuen Rechtsprechung (BGE 137 V 210 E. 3.4.2.6, S. 256, und E. 3.4.2.9, S. 258) demnach noch nicht zum Tragen kommen. Zwar führt dieser Umstand, wie die Vorinstanz an sich zu Recht festgehalten hat (angefochtener Entscheid S. 16 E. 6e, f), nicht zwangsläufig zu einer neuen Begutachtung; denn es wäre unverhältnismässig, wenn nach den alten Regeln eingeholte Gutachten ungeachtet ihrer jeweiligen Überzeugungskraft den Beweiswert einbüssten (BGE 137 V 210 E. 6 Ingress S. 266).
2.3 Allerdings ist dem Umstand, dass ein nach altem Standard in Auftrag gegebenes Gutachten eine massgebende Entscheidungsgrundlage bildet, bei der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen (Urteile 9C_942/2011 vom 6. Juli 2012 E. 5.2 und 9C_776/2010 vom 20. Dezember 2011 E. 3.3). In dieser Übergangssituation lässt sich die beweisrechtliche Situation der versicherten Person mit derjenigen bei versicherungsinternen medizinischen Entscheidungsgrundlagen vergleichen (BGE 134 V 465 E. 4, S. 467), wo selbst schon relativ geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen genügen, um eine neue Begutachtung anzuordnen.
2.4 Der Fall der Beschwerdeführerin zeigt exemplarisch auf, wie ungesichert und umstritten die diagnostische Einordnung von Schmerzstörungen - namentlich auch unter dem Blickwinkel des neuen Diagnosecodes F 45.41 - ist, ganz abgesehen von der seitens der Sachverständigen höchst kontrovers eingeschätzten Schwere der Symptomatik und der Folgenabschätzung für die Arbeits(un)fähigkeit. Die Diskrepanzen sind hier eklatant. Wenn auch abweichende Auffassungen behandelnder Ärzte oder von Parteigutachtern regelmässig keinen Grund bilden, von den Ergebnissen der Administrativbegutachtung abzuweichen (BGE 124 I 170 E. 4, S. 175; Urteile 9C_24/2008 vom 27. Mai 2008 E. 2.3.2, I 701/05 vom 5. Januar 2007 E. 2 in fine und I 506/00 vom 13. Juni 2001 E. 2b), verhält es sich doch anders, wenn objektiv fassbare Gesichtspunkte ins Feld geführt werden, welche erhebliche Zweifel auslösen. So verhält es sich hier. Die Sache ist daher an das kantonale Gericht zur Einholung eines Gerichtsgutachtens zurückzuweisen. Die Vorinstanz kann damit eine Medas beauftragen, wenn ihr dies als zweckmässig erscheint (BGE 137 V 210 E. 4.4.1.1-4.4.1.5, S. 263-265).
Urteil 9C_495/2012 der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes vom 4.10.2012
Strafprozessrecht
Berufungsgericht nicht zuständig für Entlassungsgesuch
Trotz Weiterzug eines Strafurteils bleibt für die Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug die kantonale Strafvollzugsbehörde zuständig.
Sachverhalt:
Ein wegen schwerer Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gesprochener und zu einer Freiheitsstrafe verurteilter Mann zog das entsprechende Kreisgerichtsurteil bis ans Bundesgericht weiter. Den Strafvollzug trat er vorzeitig an.
Während das Verfahren beim Bundesgericht hängig war, beantragte er beim Kantonsgericht, bis spätestens am 25. Juni 2012 aus dem vorzeitigen Strafvollzug entlassen zu werden. Die Staatsanwaltschaft war damit einverstanden, und das Amt für Justizvollzug bestätigte, dass per diesem Datum zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüsst sein werden. Nun stellte sich die Frage, wer für den vorzeitigen Strafvollzug zuständig ist: Das Bundesgericht teilte dem Amt für Justizvollzug mit, dass die Einreichung einer Beschwerde an das Bundesgericht nicht zur Folge habe, dass es auch gleich (erstinstanzlich) für die Haftentlassung zuständig sei.
Aus den Erwägungen:
3. Während des Gerichtsverfahrens obliegt es gemäss Art. 236 Abs. 1 StPO der Verfahrensleitung, den Antritt des vorzeitigen Strafvollzugs zu bewilligen. Während des Berufungsverfahrens ist die Verfahrensleitung analog zur Regelung bei der Sicherheitshaft (Art. 233 StPO) zur Anordnung der Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug zuständig (BSK StPO-Forster, Art. 233 N 1; BSK StPO-Härri, Art. 236 N 20; Hug, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Zürich 2010, Art. 236 N 11).
Nach Art. 233 StPO ist die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts «während eines Verfahrens vor dem Berufungsgericht» (vgl. den Wortlaut des Randtitels) zuständig für Entlassungsentscheide. Mit anderen Worten besteht diese Zuständigkeit während der Rechtshängigkeit des Berufungsverfahrens (BSK StPO-Forster, Art. 233 N 2). Die StPO verwendet den Begriff der Rechtshängigkeit in Art. 328 StPO, bestimmt allerdings nur deren Beginn (Art. 328 Abs. 1 StPO) und nicht deren Ende. Die Botschaft zur Strafprozessordnung hält indessen fest, dass die Artikel 80-83 die Vorschriften zum Abschluss eines Strafverfahrens enthalten (BBl 2005 1156, bezogen auf die Art. 78-81 des Gesetzesentwurfs, die inhaltlich den heute geltenden Art. 80-83 StPO entsprechen).
Diesem Grundsatz folgend wird mit der Eröffnung des begründeten Urteils das Berufungsverfahren abgeschlossen. Damit endet auch die Zuständigkeit der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts zum Entscheid über die Haftentlassung. Nach der Regelung der StPO werden Entscheide, gegen die kein Rechtsmittel «nach diesem Gesetz» (d.h. der StPO) zulässig ist, mit ihrer Ausfällung (formell) rechtskräftig (Art. 437 Abs. 3 StPO). Wird gegen einen Entscheid der Berufungsinstanz, mit dem eine unbedingte Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Massnahme ausgesprochen wurde, beim Bundesgericht eine Strafrechtsbeschwerde eingereicht, so wird ab Rechtshängigkeit die Vollziehbarkeit der im Berufungsentscheid angeordneten Rechtsfolgen bis zum Entscheid über die Beschwerde gehemmt (Art. 103 Abs. 2 lit. b BGG).
Die materielle Rechtskraft des Berufungsentscheids ist entsprechend bis zum Zeitpunkt der Ausfällung des Entscheids des Bundesgerichts hinausgeschoben (Art. 61 BGG; Nicolas von Werdt, Handkommentar BGG, N 2 zu Art. 103). An der formellen Rechtskraft des Entscheides ändert sich hingegen nichts (BSK BGG-Aemisegger/ Forster, Art. 103 N 23a). «Mit dem Institut der aufschiebenden Wirkung werden durch ein vorinstanzliches Urteil angeordnete Rechtsfolgen bis zum endgültigen Entscheid des Bundesgerichts einstweilen suspendiert. Gerade im Bereich unbedingter Freiheitsstrafen soll mit der gesetzlichen Suspensivwirkung verhindert werden, dass durch den umgehenden Vollzug nur schwer gutzumachende Nachteile geschaffen werden» (6B_371/2008 E.3.2).
Seit das begründete Urteil in der vorliegenden Strafsache den Parteien am 9. Dezember 2011 eröffnet wurde, ist das Strafverfahren nicht mehr beim Berufungsgericht hängig und dessen Verfahrensleitung ist nicht mehr zuständig zur Anordnung der Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug.
4. Aus den Äusserungen des Bundesgerichts in seinem Schreiben an das Amt für Justizvollzug geht hervor, dass sich auch das Bundesgericht zur Behandlung des vorliegenden Gesuchs erstinstanzlich nicht als zuständig erklären dürfte. Bereits in seinem Entscheid 1B_92/2009 vom 21. April 2009 hat es festgehalten, dass ein Gesuch um Haftentlassung einer Beurteilung im Rahmen von Art. 103 BGG (aufschiebende Wirkung) bzw. Art. 104 BGG (andere vorsorgliche Massnahmen) von vornherein nicht zugänglich ist.
Im gleichen Sinn hat es unter der Herrschaft des OG und der BStP entschieden: Die Einreichung einer Nichtigkeitsbeschwerde oder staatsrechtlichen Beschwerde gegen ein Strafurteil habe nicht zur Folge, dass die Zuständigkeit insbesondere zur Anordnung einer Verhaftung oder Haftentlassung den kantonalen Behörden entzogen und auf das Bundesgericht übertragen werde (BGE 107 Ia 3, Regeste Ziff. 1). Vielmehr bleibe «die Zuständigkeit des Urteilskantons an sich in vollem Umfange bestehen» (BGE 107 Ia 3 E.2.).
Da somit trotz Weiterzugs eines Strafurteils ans Bundesgericht die Zuständigkeit zur Anordnung von Haft oder einer Haftentlassung und damit auch zur Anordnung der Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug bei den kantonalen Behörden verbleibt (vgl. auch BSK BGG-Meyer / Dormann, Art. 103 N 27 und Fn 61), eine kantonale Zuständigkeit der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts nach Eröffnung des begründeten Entscheides mangels einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage aber ausscheidet und der Berufungsentscheid mit der Eröffnung formell in Rechtskraft erwachsen ist, erscheint es sachgerecht, den Entscheid über die Entlassung aus dem vorläufigen Strafvollzug nach Abschluss des Berufungsverfahrens der für den Strafvollzug zuständigen Behörde zuzuweisen. Im Kanton St. Gallen ist dies das Amt für Justizvollzug (Art. 19 Abs. 1 lit. b EGStPO). Wäre der Berufungsentscheid auch materiell rechtskräftig, hätte es im vorliegenden Fall angesichts des vom Gesuchsteller bereits erstandenen Freiheitsentzugs eine bedingte Entlassung (Art. 86 StGB) zu prüfen (Art. 59 Abs. 1 lit. g Ziff. 3 EGStPO). Die Zuständigkeit alleine mit dem Hinweis auf die gesetzliche Suspensivwirkung der beim Bundesgericht eingereichten Beschwerde (Art. 103 Abs. 2 lit. b BGG) zu verneinen, würde den Sinn dieses Rechtsinstituts ins Gegenteil verkehren.
5. Nachdem die Zuständigkeit der Verfahrensleitung verneint und auf das Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug nicht eingetreten wird, wird das Gesuch an das Amt für Justizvollzug des Kantons St. Gallen weitergeleitet (Art. 91 Abs. 4 StPO analog).
Entscheid ST.2011.2 des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 13.6.2012
Beschuldigter muss keinen Kostenvorschuss zahlen
Ergreift eine beschuldigte Person ein Rechtsmittel, darf die kantonale Rechtsmittelbehörde keinen Kostenvorschuss verlangen. Nur die Privatklägerschaft muss von Gesetzes wegen eine Sicherheit leisten.
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft St. Gallen hatte Anlass, den Personenwagen von X. zu beschlagnahmen und gegen X. ein Strafverfahren einzuleiten. Das Fahrzeug wurde ihm nämlich von seinem Vater Y. verkauft, obwohl es amtlich gepfändet war. Da es der Polizei nicht gelang, das Auto ordentlich einzuziehen, wurde das Fahrzeug zur Fahndung ausgeschrieben. Schliesslich konnte es Y. anlässlich einer Ausreisekontrolle beim Strassenzollamt St. Margrethen abgenommen werden.
Gegen den Beschlagnahmebefehl erhob X. bei der Anklagekammer des Kantons St. Gallen Beschwerde und verlangte gleichzeitig, es sei ihm unentgeltliche Rechtspflege und amtliche Verteidigung zu gewähren. Der Präsident der Anklagekammer wies die finanziellen Anliegen ab und gab dem Gesuchsteller zehn Tage Zeit, eine Einschreibgebühr von Fr. 500.- zu überweisen, sonst würde auf seine (materielle) Beschwerde nicht eingetreten. Der Beschwerdeführer bezahlte diese Gebühr zwar, gelangte aber betreffend die finanziellen Aspekte des Verfahrens mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
3.2 Der Beschwerdeführer rügt, die ihm auferlegte Einschreibgebühr verstosse gegen Bundesrecht. Nach Art. 383 StPO könne einzig von der Privatklägerschaft, nicht aber von der beschuldigten Person eine Sicherheit verlangt werden.
3.3 Gemäss Art. 383 StPO kann die Verfahrensleitung der Rechtsmittelinstanz die Privatklägerschaft unter Vorbehalt der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Art. 136 StPO verpflichten, innert einer Frist für allfällige Kosten und Entschädigungen Sicherheit zu leisten (Abs. 1). Wird die Sicherheit nicht fristgerecht geleistet, so tritt die Rechtsmittelinstanz auf das Rechtsmittel nicht ein (Abs. 2).
Art. 3 der Gerichtskostenverordnung des Kantons St. Gallen vom 9. Dezember 2010 (sGS/SG 941.12; in Kraft ab dem 1. Januar 2011) mit dem Randtitel «Einschreibgebühren im Strafverfahren» bestimmt, dass die Rechtsmittelinstanz eine Einschreibgebühr von Fr. 500.- erhebt, wenn die beschuldigte Person im Strafverfahren ein Rechtsmittel ergreift.
3.4 Bei der Einschreibgebühr nach Art. 3 der kantonalen Gerichtskostenverordnung handelt es sich um einen Kostenvorschuss und damit um eine Sicherheitsleistung im Sinne von Art. 383 Abs. 1 StPO (vgl. insoweit auch Urteil des Bundesgerichts 1B_39/2010 vom 30. März 2010 E. 4).
Nach dem Konzept der Schweizerischen Strafprozessordnung kann zwar die Privatklägerschaft, nicht aber die beschuldigte Person zu einer Sicherheitsleistung verpflichtet werden (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1308 f.; vgl. auch Niklaus Schmid, a.a.O., Art. 383 N. 1), d.h. die beschuldigte Person kann erst im Verfahren vor Bundesgericht zu einer Vorschussleistung angehalten werden (Art. 62 f. BGG; Martin Ziegler, Basler Kommentar StPO, 2011, Art. 383 N. 1). Beim Beschlagnahmeverfahren handelt es sich zwar um ein Nebenverfahren (vgl. E. 2 hiervor). Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Beschwerdeführer im gesamten Strafverfahren als beschuldigte Person (Art. 104 Abs. 1 lit. a StPO) gilt und weder Privatkläger (Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO) noch anderer Verfahrensbeteiligter (Art. 105 StPO) ist. Davon geht im Übrigen auch die Vorinstanz aus, da die Einschreibgebühr gemäss Art. 3 der kantonalen Gerichtskostenverordnung dann zu erheben ist, wenn die beschuldigte Person ein Rechtsmittel ergreift.
Da die beschuldigte Person nach der StPO nicht zur Leistung eines Kostenvorschusses verpflichtet werden kann, verstösst die in Art. 3 der kantonalen Gerichtskostenverordnung vorgeschriebene Erhebung einer Einschreibgebühr von Fr. 500.- gegen Bundesrecht. Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen.
Urteil 1B_332/2012 der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 15.8.2012
Bundesstrafgericht zuständig für Haftentlassungsgesuch
Ist beim Bundesgericht eine Beschwerde gegen ein Strafurteil des Bundesstrafgerichts hängig, ist die laufende Haft ein strafprozessualer Freiheitsentzug und kein vorzeitiger Strafvollzug. Ein Haftentlassungsgesuch hat das Bundesstrafgericht zu beurteilen.
Sachverhalt:
Das Bundesstrafgericht verurteilte am 22. Juli 2011 eine Frau zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten, unter Anrechnung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft von 464 Tagen. Die Verurteilte erhob gegen das Strafmass Beschwerde beim Bundesgericht.
Die Frau befand sich seit Mitte April 2010 in Untersuchungshaft. Nach dem Strafurteil konnte sie den vorzeitigen Strafvollzug am 4. August 2011 antreten. Anfang Mai 2012 stellte sie aufgrund guter Führung ein Haftentlassungsgesuch per 3. Juli 2012 nach Verbüssung von zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe.
Da die Zuständigkeit für Entscheide über die Aufhebung von Sicherheitshaft während eines beim Bundesgericht hängigen Beschwerdeverfahrens nicht gesetzlich geregelt ist, hatte das Bundesstrafgericht erst die Zuständigkeit zu prüfen.
Aus den Erwägungen:
1.1 Gemäss Art. 236 Abs. 1 StPO kann einer beschuldigten Person bewilligt werden, eine Freiheitsstrafe vorzeitig anzutreten, wenn der Stand des Verfahrens dies zulässt. Die Inhaftierten können sich auf die einschlägigen Verfahrensgarantien von Art. 31 BV berufen (BGE 133 I 270 E. 2, S. 275 mit Hinweisen) und jederzeit ein Begehren um die Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug stellen (BGE 117 la 72 E. 1 d, S. 79 f.; Urteil des Bundesgerichts 1 B_51/2008 vom 19. März 2008, E. 2). Dieses Gesuch darf nur abgewiesen werden, wenn strafprozessuale Haftgründe fortdauern und die Dauer der Haft bzw. des Strafvollzugs nicht in die Nähe der konkret zu erwartenden Strafe gerückt ist (BGE 133 I 270 E. 3.4.2, S. 281; Urteil 1 B_379/2011 vom 2. August 2011, E. 2.1).
Der vorzeitige Strafvollzug stellt eine Massnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er bietet der beschuldigten Person bereits vor der rechtskräftigen Urteilsfällung verbesserte Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Strafvollzugs (BGE 133 I 270 E. 3.2.1; Hug, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen StPO, Zürich / Basel / Genf 2010, Art. 236 StPO N. 4). Für den vorzeitigen Strafvollzug ist, auch wenn er in einer Strafanstalt erfolgt, grundsätzlich das Regime der Untersuchungshaft massgebend (BGE, a.a.O., E. 3.2.1; Urteil 1 B_200/2012 vom 20. April 2012, E. 2.1; Härri, Basler Kommentar, Schweizerische StPO, Basel 2010, Art. 236 StPO N.20; Hug, a.a.O., Art. 223 StPO N. 4). Die Beschwerde gegen das Urteil der Strafkammer vom 22. Juli 2011 ist nach wie vor bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hängig. Demnach ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, sodass es sich bei der Haft der Gesuchstellerin nach wie vor um strafprozessualen Freiheitsentzug handelt. Auf ihr Gesuch um (bedingte) Haftentlassung finden demnach die Vorschriften über die Sicherheitshaft (Art. 220-223 und 229-236 StPO) Anwendung.
1.2 Die Gesuchstellerin befindet sich seit dem 10. August 2011 im vorzeitigen Strafvollzug. Das Gericht prüft seine Zuständigkeit im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesuch von Amts wegen. Gemäss Art. 233 StPO hat die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts innert fünf Tagen über ein Haftentlassungsgesuch zu entscheiden. Die Vorschriften der StPO finden auch auf Verfahren vor dem Bundesstrafgericht Anwendung, jedoch ist gegen Urteile der Strafkammer kein ordentliches Rechtsmittel im Sinne der StPO gegeben. Sie können weder mit der Beschwerde (Art. 393 ff. StPO) noch mit der Berufung (Art. 398 ff. StPO) angefochten, sondern als abschliessende Entscheide mit Beschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden (Thommen, Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl., Basel 2011, Art. 80 N. 17; Schmid, Die Strafrechtsbeschwerde nach dem Bundesgesetz über das Bundesgericht - eine erste Auslegeordnung, ZStR 124 [2006], S. 160, 171; vgl. auch Art. 380 StPO).
Das Bundesgericht ist jedoch kein Berufungsgericht im Sinne von Art. 233, 398 ff. StPO: Zum einen stellt die Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht kein ordentliches Rechtsmittel im Sinne der StPO dar, sondern es handelt sich um ein ausserordentliches Rechtsmittel, auf welches ausschliesslich die Vorschriften des BGG Anwendung finden. Zum anderen enthält das BGG keine Vorschriften zur Aufhebung von (bereits bestehenden) Zwangsmassnahmen. Es ermöglicht zwar dem Instruktionsrichter die aufschiebende Wirkung eines Urteils von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei anzuordnen sowie andere vorsorgliche Massnahmen zu treffen, um den bestehenden Zustand zu erhalten (Art. 103 Abs. 3 BGG) oder bedrohte Interessen einstweilen sicherzustellen (Art. 104 BGG). Ein Gesuch um bedingte Entlassung bezweckt aber gerade nicht den Erhalt, sondern eine Änderung des Status quo (so auch Thommen, a.a.O., Art. 103 N. 20). Die Zuständigkeit für Entscheide über Aufhebung der Sicherheitshaft während eines beim Bundesgericht hängigen Beschwerdeverfahrens (in Bundeskompetenz) ist gesetzlich nicht geregelt.
Das Bundesgericht hat diese Frage für bundesgerichtliche Verfahren - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden und auch in der einschlägigen Literatur findet sich diesbezüglich lediglich bei Foster ein Hinweis in einer Fussnote. Er vertritt die Ansicht, dass bei der Bundesgerichtsbarkeit unterstehenden Strafverfahren die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 BGG an die Stelle der Berufung nach StPO trete und die verfahrensleitende Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts abschliessend über Haftentlassungsgesuche entscheide (Forster, Basler Kommentar, Schweizerische StPO, Art. 233 StPO, S. 1534 Fn 4).
Gegen diese Ansicht spricht zunächst, dass sie im Gesetz keinerlei Stütze findet. Zudem vertritt das Bundesgericht in ständiger Praxis die Ansicht, dass mit der Einreichung einer Beschwerde die Verfahrensherrschaft nicht auf das Bundesgericht übergehe, sondern beim Sachgericht verbleibe, dessen Entscheid angefochten wird. So hat es sich ausdrücklich für unzuständig erklärt, Haftentlassungsgesuche zu beurteilen, die während Beschwerdeverfahren gegen letztinstanzliche kantonale Urteile erhoben wurden und die Sache zur Entscheidung an die kantonalen Gerichte zurückverwiesen (Urteil des Bundesgerichts 1 B_100/2010 vom 26. April 2010, Sachverhalt lit. A; Präsidialverfügung der II. Strafkammer des Zürcher Obergerichts SB100320-0/Z2 vom 25. Juli 2011, S. 3).
Die vorliegende Sachverhaltskonstellation entspricht derjenigen auf kantonaler Ebene. Für die Zuständigkeit des Sachgerichts zum Entscheid über Haftentlassungsgesuche spricht des Weiteren, dass nur so der Anspruch auf doppelte gerichtliche Überprüfung gewährleistet ist und dass das Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht auf die Überprüfung der richtigen Rechtsanwendung durch die unteren Gerichte ausgerichtet ist. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist es angezeigt, dass die Strafkammer des Bundesstrafgerichts als das die Verfahrensherrschaft innehabende letztinstanzliche Sachgericht für Haftentscheide während eines hängigen Beschwerdeverfahrens vor Bundesgericht zuständig ist.
Beschluss SN.2012.13 der Strafkammer des Bundesstrafgerichtes vom 20.6.2012
Zivilprozessrecht
Kollegenkopie verletzt das Klienteninteresse
Die direkte Zustellung einer Rechtsmittelschrift durch einen Anwalt an die Gegenpartei unterläuft die gesetzlich gewollte Gleichbehandlung der Parteien und kann die Interessen der eigenen Klienten verletzen, wenn für die Reaktion der Gegenseite auf die Rechtsschrift gesetzliche Fristen gelten.
Sachverhalt:
Eine Rechtsanwältin hatte ihre Berufungsschrift nicht nur im Doppel dem Obergericht Zürich, sondern auch direkt dem Gegenanwalt zur Kenntnis zugestellt. Das Obergericht äussert sich nun auf seiner Website zu dieser Usanz und verweist auf einen nachträglich erschienenen Aufsatz von Hans Nater und Martin Rauber zur «Zustellung von Gerichtseingaben durch das Gericht oder Anwälte?» in SJZ 108/2012, S. 408 ff.
Aus den Erwägungen:
Die Kollegenkopie mag unter Anwälten zwar üblich sein, verletzt aber unter neuem Prozessrecht die Pflicht zur Wahrung der Interessen des eigenen Klienten. Bekanntlich sind neu die Fristen sowohl zum Erklären und Begründen als auch zum Beantworten der Rechtsmittel gesetzliche, die nicht erstreckt werden können. Nach Eingang einer Rechtsmittelschrift kontrolliert das Gericht zuerst die Prozessvoraussetzungen, zieht die Akten bei, verlangt allenfalls den Vorschuss für die Gerichtskosten und prüft dann (wie hier), ob über das Rechtsmittel ohne Einholen einer Antwort entschieden werden kann. Das kann Tage bis Wochen dauern. In dieser Zeit gibt das Gericht dem Rechtsmittelgegner keinen Einblick in die Rechtsmittelbegründung, weil er sonst mehr Zeit für seine Antwort hätte als sein Widerpart für die Begründung. Wer als Anwältin dem Gegner direkt die Rechtsmittelschrift zustellt, bevorzugt damit den Gegner zulasten des eigenen Klienten und unterläuft die Entscheidung der Rechtsmittelinstanz, ob sie eine Antwort einholen wolle. Wäre das Studium einer solchen Antwort dem Gegenanwalt zu entschädigen, müsste erwogen werden, den entsprechenden Betrag der Anwältin des Rechtsmittelklägers (persönlich) als unnötige Kosten im Sinne von Art. 108 ZPO aufzuerlegen.
Urteil LC120025 der II. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 27.8.2012
Bestätigung der digitalen?Zustellung genügt in Zürich
Solange die Zustellplattform des Zürcher Obergerichts eine elektronische Eingabe nicht automatisch bestätigt, darf man davon ausgehen, die Frist sei eingehalten, wenn die eigene Zustellplattform den digitalen Versand quittiert hat.
Sachverhalt:
Der Rechtsvertreter der Berufungsklägerin reichte die Berufungsbegründung als elektronische Eingabe ein. Er versandte sie, digital signiert, am 26. April 2012 um 23:51 Uhr per E-Mail von seinem Computer. Da dies kurz vor dem Fristablauf um Mitternacht war (Art. 314 Abs. 1 ZPO), stellt sich die Frage, ob die elektronische Eingabe rechtzeitig erfolgte.
Aus den Erwägungen:
2.1 Gemäss Art. 4 der Verordnung über die elektronische Übermittlung im Rahmen von Zivil- und Strafprozessen sowie von Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren vom 18. Juni 2010 (SR 272.1) sind elektronische Eingaben an eine Behörde an die Adresse auf der von ihr verwendeten (vom Bund anerkannten) Zustellplattform zu senden.
2.2 Art. 143 Abs. 2 ZPO legt fest, dass die Einreichung einer fristgebundenen elektronischen Eingabe rechtzeitig erfolgt ist, wenn der Empfang bei der Zustelladresse des Gerichts spätestens am letzten Tag der Frist durch das Informatiksystem bestätigt worden ist (vgl. S. 3 f. der Erläuterungen des Bundesamtes für Justiz zu obgenannter Übermittlungsverordnung). Mit dem «betreffenden Informatiksystem» beziehungsweise der «Zustelladresse des Gerichts» ist die Adresse «kanzlei.obergericht@gerichte-zh.ch» auf der Zustellplattform des Obergerichts (zurzeit IncaMail) gemeint.
2.3 Gemäss Gesetzestext und Botschaft zur ZPO muss der Eingang der elektronischen Eingabe noch innert Frist vom empfangenden Gericht (allenfalls automatisch) bestätigt worden sein und es gilt (im Unterschied zu schriftlichen Eingaben, wo das Expeditionsprinzip gilt) das Empfangsprinzip (Botschaft ZPO, BBl 2006, S. 7308). Die Berufungsklägerin trägt folglich, wenn sie für ihre Eingabe den elektronischen Versandweg wählt - nach erklärtem Willen des Gesetzgebers - das Übermittlungsrisiko bis zum Eintreffen ihrer elektronischen Eingabe auf der Zustellplattform des Gerichts (Art. 143 Abs. 2 ZPO; Botschaft ZPO, BBl 2006, S. 7308; vgl. auch KUKO ZPO-Hoffmann-Nowotny, Art. 143 N 9 m.w.H.). Im Übrigen kann auf die Erwägungen in der Präsidialverfügung vom 9. Mai 2012 sowie in der Verfügung vom 24. Mai 2012 verwiesen werden.
3. Der Rechtsvertreter der Berufungsklägerin ist Vertragspartner der Zustellplattform PrivaSphere AG, weshalb er seine elektronische Eingabe am 26. April 2012, 23:51 Uhr von seinem Computer an seine Zustellplattform (PrivaSphere) sandte (diese Zeitangabe des E-Mail-Programms des Absenders ist allerdings nicht verlässlich, da unter Umständen manipulierbar, vgl. dazu und auch zum gesamten technischen Aufbau des nachfolgend beschriebenen Versandprozederes https://www.privasphere. com/hp/index.php?id=212&L=1&ref=GAC_501, letztmals besucht am 5. Juli 2012). Seine Zustellplattform (PrivaSphere) leitete die Sendung in der Folge an die Zustellplattform des Obergerichts (IncaMail) weiter. Dem Rechtsvertreter der Berufungsklägerin wurde von seiner Zustellplattform (PrivaSphere) am 26. April 2012 um 23:51:24 Uhr MESZ eine automatische Bestätigung (Versandbestätigung / Belegexemplar / Archivkopie) zugestellt, dass die elektronische Eingabe bei PrivaSphere eingetroffen war und am 26. April 2012 um 23:51:11 Uhr MESZ (eGov Sendedatum, nach Art. 12 des Bundesgesetzes über die elektronische Signatur, ZertES, beglaubigte Zeitsignatur, vom Absender nicht manipulierbar) von PrivaSphere weiterversandt wurde. Die Zustellplattform des Obergerichts (IncaMail) hingegen liess dem Rechtsvertreter der Berufungsklägerin erst eine automatisch erstellte Empfangsbestätigung zukommen, als die elektronische Eingabe durch einen Mitarbeiter des Obergerichts am 27. April 2012 um 7:34:26 MESZ und damit nach Fristablauf angenommen worden war (die genannte Empfangsbestätigung wurde von IncaMail mit Zeitsignatur vom 27. April 2012, 7:34:50 beglaubigt).
4. Die ZPO verlangt in Art. 143 Abs. 2 (wie bereits ausgeführt) das fristgerechte Eingehen der elektronischen Eingabe auf der Zustellplattform des Obergerichts sowie die Ausstellung einer entsprechenden Empfangsbestätigung vor Fristablauf durch die Zustellplattform des Obergerichts. Ersteres hat die Berufungsklägerin mittels einer Bestätigung von IncaMail nachgewiesen: Ihre Eingabe hat die Zustellplattform des Obergerichts gemäss IncaMail am 26. April 2012 um 23:51:11 Uhr erreicht und wurde nur Hundertstelsekunden später, um 23:51:38 MESZ ans Empfängersystem des Obergerichts ausgegeben.
Damit hat die Berufungsklägerin aber noch nicht die vom Gesetz verlangte, vor Fristablauf ausgestellte Bestätigung der Zustellplattform des Obergerichts vorgelegt. Das Eintreffen der Eingabe auf der Zustellplattform des Obergerichts wird dem Absender aufgrund der derzeitigen technischen Ausgestaltung des Datenverkehrs zwischen den Zustellplattformen nicht dokumentiert, bzw. erst wenn die elektronische Eingabe durch einen Mitarbeiter des Obergerichts angenommen bzw. abgelehnt wird. Auf diesen Zeitpunkt abzustellen wäre (nicht nur im Vergleich mit Eingaben per Post) äusserst unzweckmässig. So würde die Fristwahrung bei digitalen Eingaben willkürlich von der Anwesenheit des Gerichtspersonals bzw. seiner Bedienung des Computersystems abhängig gemacht: Das Instrument der elektronischen Eingabe würde dadurch praktisch unbrauchbar, müsste sich der Absender einer elektronischen Eingabe doch stets versichern, dass beim empfangenden Gericht ein Mitarbeiter am Computer sitzt, der die Eingabe vor Fristablauf annimmt.
Darum und zur Vermeidung eines überspitzten Formalismus ist deshalb einstweilen und solange die Zustellplattform des Obergerichts dem Absender einer elektronischen Eingabe keine Eingangsbestätigung im Sinne von Art. 143 Abs. 2 ZPO zustellt, lediglich auf den fristgerechten Eingang von elektronischen Eingaben bei der Zustellplattform des Obergerichts abzustellen und auf das Erfordernis der Ausstellung einer entsprechenden Bestätigung vor Fristablauf durch die Zustellplattform einstweilen zu verzichten. Die Berufung wurde folglich fristgerecht erhoben.
Urteil LY120016 der II. Zivilkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 11.7.2012
Gerichte des Bundes aktuell
Volle TV-Gebühr trotz Werbeflut
Ein frustrierter Fernsehzuschauer muss die vollen Empfangsgebühren der Billag bezahlen, obwohl er sich über die häufige Werbung ärgert. Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Beschwerde gegen die verweigerte Gebührenreduktion abgewiesen. Es erinnert in seinem Entscheid daran, dass die ganze Gebühr unabhängig vom gebotenen Inhalt geschuldet ist. Zumindest räumt das Gericht ein, dass das Anliegen nicht völlig ohne Interesse sei, der Betroffene allerdings den «richtigen Kanal» wählen und direkt an die SRG/SSR idée suisse hätte gelangen sollen.
A-1661/2012 vom 14.8.2012
Suizid-Ankündigung als Drohung
Die Ankündigung des eigenen Selbstmordes gegenüber Familienmitgliedern kann als Drohung (Art. 180 StGB) bestraft werden. Im konkreten Fall hat das Bundesgericht das Urteil gegen einen Mann bestätigt, der gegenüber seiner getrennt lebenden Gattin geäussert hatte, er fahre jetzt nach Hause und «lade durch». Laut dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung ist die Ankündigung geeignet, «das Sicherheitsgefühl einer Ehepartnerin mit zwei gemeinsamen, noch relativ kleinen Kindern in hohem Masse zu beeinträchtigen». Der Betroffene hatte sich erfolglos auf das Recht auf Leben (Art. 10 BV) berufen, welches ein Recht auf Selbstmord beinhalte. Sollte ein solches bestehen, liesse sich daraus laut Gericht aber nicht der Anspruch ableiten, seine Angehörigen ängstigen zu dürfen.
6B_192/2012 vom 10.9.2012
Ex-Skinhead darf nicht in die Rekrutenschule
Ein ehemaliger Skinhead darf nicht in die RS einrücken. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Einschätzung der Fachstelle für Personensicherheitsprüfung (PSP) bestätigt, dass er wegen seiner Kontakte zur rechtsextremen Szene ein Sicherheitsrisiko darstellt. Der Mann war bis mindestens Ende 2008 als Skinhead im rechtsextremen Milieu in Erscheinung getreten und unter anderem von der Polizei angehalten worden, als er die 1.-August-Veranstaltung von Neonazis auf dem Rütli besuchen wollte. Laut Gericht dauert es gemäss Einschätzung der Fachstelle PSP rund fünf Jahre, bis sich Betroffene aus ihrem früheren Leben als Rechtsextreme lösen können. Im konkreten Fall sei nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass es zu einem Geschehnis kommen würde, das dem Ansehen der Armee abträglich sein könnte. Es sei auch nicht Zweck der Armee, bestimmten Rekruten eine bessere Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen.
A-518/2012 vom 15.8.2012
Opfer als einziger Zeuge: Verurteilung rechtens
Ein Autolenker ist zu Recht einzig auf Basis der Aussagen der betroffenen Fussgängerin wegen Missachtung des Vortritts verurteilt worden. Er war in einer signalisierten Begegnungszone unterwegs gewesen, wo Fussgänger grundsätzlich Vortritt haben. Nach Angaben einer Frau fuhr er dabei ungebremst auf sie zu, sodass sie sich mit einem Sprung zur Seite habe in Sicherheit bringen müssen. Laut Bundesgericht durfte die Zürcher Justiz aufgrund der Aussagen der Fussgängerin davon ausgehen, dass der Autolenker tatsächlich mit deutlich übersetzter Geschwindigkeit gefahren ist und sie dabei durch die Missachtung des Vortrittsrechts konkret gefährdet hat.
6B_275/2012 vom 26.7.2012
Verkehrsdelinquent: U-Haft wegen Wiederholungsgefahr
Das Bundesgericht hat die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft gegen einen notorischen Verkehrsdelinquenten bestätigt, weil ernsthaft zu befürchten ist, dass er bei einer Freilassung weitere schwere Delikte, insbesondere neue Trunkenheitsfahrten mit weiteren Verkehrsunfällen begehen könnte. Diese drohenden Verbrechen oder schweren Vergehen seien klarerweise als «erheblich sicherheitsgefährdend» im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO einzustufen. Erst nach Vorliegen eines verkehrspsychologischen Gutachtens wird neu zu prüfen sein, inwieweit der Gefahr weiterer schwerer Delikte mit geeigneten Ersatzmassnahmen für Haft begegnet werden könnte. Der Betroffene hatte zuletzt in Basel in betrunkenem Zustand eine Fahrradlenkerin angefahren und dabei getötet, anschliessend beging er Fahrerflucht.
1B_435/2012 vom 8.8.2012
Kein Markenschutz für Lego-Steine
Der Lego-Baustein kann für seine Form auch in der Schweiz keinen Markenschutz beanspruchen. Das Bundesgericht hat der kanadischen Konkurrenzfirma Mega Brands Inc. recht gegeben. Die Richter in Lausanne hatten das Zürcher Handelsgericht 2004 aufgefordert abzuklären, ob die Form der Lego-Steine für Steck-Bauklötze technisch notwendig sei, was einen markenrechtlichen Schutz ausschliesst. Die Zürcher Richter kamen gestützt auf Gutachten und Versuche zum Schluss, dass alle möglichen Alternativformen mit höheren Herstellungskosten verbunden wären und die Gestalt der Lego-Steine damit nicht schutzfähig sei, was vom Bundesgericht nun bestätigt wurde.
4A_20/2012 vom 3.7.2012
Ausschaffung:?Warten auf den Gesetzgeber
Der infolge der Ausschaffungsinitiative eingeführte Art. 121 BV soll erst angewendet werden, wenn die dazu vorgesehenen gesetzlichen Ausführungsbestimmungen erlassen sind. Eine Mehrheit von vier Richtern der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung hat in öffentlicher Beratung eine direkte Anwendung der fraglichen Norm abgelehnt. In den konkreten Fällen wurden die Beschwerden von zwei Ausländern abgewiesen, die nach Begehung einer Vergewaltigung beziehungsweise wegen Drogendelikten die Schweiz verlassen müssen. Einer dritten Person, die nur wegen einem einmaligen Betäubungsmitteldelikt verurteilt wurde, hat das Bundesgericht recht gegeben.
2C_828/2011, 2C_926/2011 und 2C_162/2012 vom 12.10.12; schriftliche Begründung ausstehend
Kein Parkieren im Fahrverbot
Ein Fahrverbot untersagt auch das Anhalten und Parkieren auf der fraglichen Strasse. Das Bundesgericht hat die Busse gegen einen Jäger bestätigt, der seinen Wagen im Wallis eine Woche auf dem Wendeplatz einer nur mit Tagesbewilligung zu befahrenden Strasse abgestellt hatte. Laut dem Urteil der strafrechtlichen Abteilung ist die Strasse nach Ablauf der Tagesbewilligung zu verlassen. Wer sein Auto darüber hinaus abstellt, darf gebüsst werden, auch wenn er für den Tag der Heimfahrt wiederum eine Tagesbewilligung zu lösen beabsichtigt.
6B_847/2011 vom 21.8.2012
Kantonales Hanfkonkordat annulliert
Das Bundesgericht hat das von sechs Westschweizer Kantonen und vom Tessin ratifizierte Konkordat über den legalen Hanfanbau annulliert. Laut Gericht darf nur der Bund Regeln zum Umgang mit Hanf erlassen. Die sehr detaillierte Betäubungsmittelgesetzgebung lasse den Kantonen keinen Spielraum für eigene Regeln in Bezug auf den legalen Hanfhandel und -anbau. Wenn das Betäubungsmittelgesetz Hanf mit einem THC-Gehalt von über einem Prozent verbiete, so bedeute dies nicht, dass die Kantone für Hanf mit einem geringeren THC-Gehalt eigene Regeln aufstellen könnten. Das letzten März in Kraft getretene Konkordat sollte den betreffenden Kantonen erlauben, den Anbau und Handel mit legalem Hanf zu kontrollieren. Die Vereinbarung sah eine Meldepflicht für Hanf anbauende Bauern vor. Handeltreibende sollten über eine entsprechende Bewilligung verfügen und Hanfgeschäfte in einem Vertrag schriftlich festhalten.
2C_698/2011 vom 5.10.2012; schriftliche Begründung ausstehend
«Vogue» ist eine berühmte Marke
Die Bezeichnung «Vogue» des bekannten Modemagazins gilt in der Schweiz als berühmte Marke, womit einem Uhrenhersteller die Verwendung von «Vogue My Style» versagt bleibt. Das Bundesgericht erinnert daran, dass der Inhaber einer berühmten Marke deren Gebrauch für jede Art von Waren oder Dienstleistungen verbieten kann, wenn ein solcher Gebrauch die Unterscheidungskraft der Marke gefährdet oder deren Ruf ausnützt oder beeinträchtigt (Art. 15 MSchG). Daraus folgt laut Gericht, dass die Herausgeber von «Vogue» auch in Bezug auf die fraglichen Uhren Anspruch auf Markenschutz haben.
4A_128/2012 vom 7.8.2012 pj
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
<?Der Verkehrsteilnehmer, der bei einem Unfall lediglich einen Sachschaden erlitten hat, gilt nicht als «geschädigt» im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG. Die betroffene Person kann deshalb nicht als Privatkläger Beschwerde gegen das Strafurteil betreffend Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Ziff. 1 SVG) gegen die andere am Unfall beteiligte Partei führen.
1B_432/2011 vom 20.9.2012
<?Anwälte dürfen sich zur Berufsausübung in einer Kapitalgesellschaft (also in einer Aktiengesellschaft oder einer GmbH) zusammenschliessen. Das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwälte (BGFA) verlangt einzig, dass die Anwaltstätigkeit organisatorisch so strukturiert sein muss, dass sie unabhängig erfolgen kann. Das ist sichergestellt, wenn eine Anwalts-AG vollständig durch Anwälte beherrscht wird.
2C_237/2011 vom 7.9.2012
<?Die Domain-Verwalterin Switch darf auf ihrer eigenen Homepage Werbung für ihre Tochterfirma «switchplus» betreiben. Switch ist im «Retail-Bereich» nicht an die Grundrechte und damit auch nicht an das Gebot der Gleichbehandlung der Wettbewerbsteilnehmer gebunden.
2C_271/2012 vom 14.8.2012
Zivilrecht
<?Bei Streitigkeiten aus den Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung, für die die Kantone eine einzige kantonale Instanz bezeichnet haben, ist kein vorgängiges Schlichtungsverfahren durchzuführen. Denn dass Art. 7 ZPO in Art. 198 ZPO keine Erwähnung als Ausnahme gefunden hat, ist ein offensichtliches Versehen des Gesetzgebers.
4A_184/2012 vom 18.9.2012
<?Die Grunddienstbarkeit am Dach eines Terrassenhauses umfasst das Anbringen einer sich anschmiegenden Fotovoltaik-Anlage (Art. 674 ZGB).
5A_245/2012 vom 13.9.2012
<?Grundsatz zur Gewährung der aufschiebenden Wirkung für die Berufung gegen den vorsorglichen Massnahmeentscheid über die Zuteilung der Kinderobhut im Trennungsfall: In der Regel ist nur dem Gesuch desjenigen Elternteils stattzugeben, der die frühere Hauptbezugsperson gewesen ist.
5A_303/2012 vom 30.8.2012
<?Die Bezeichnung «Rassist» für eine Person, die sich gegen die Verbreitung des Islams und für den Erhalt der Schweizer Leitkultur ausspricht, ist sachlich falsch und persönlichkeitsverletzend.
5A_82/2012 vom 29.8.2012
<?Art. 229 Ziff. 3 ZPO, wonach das Gericht bei der Abklärung des Sachverhalts von Amtes wegen neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung zu berücksichtigen hat, gilt nur für das erstinstanzliche Verfahren.
4A_228/2012 vom 28.8.2012
<?Die Anschlussberufung muss der Gegenpartei (ebenso wie die Berufung) unter Ansetzung einer Frist von 30 Tagen zur Stellungnahme zugestellt werden. Analoge Anwendung von Art. 311 und 312 ZPO.
5A_206/2012 vom 9.8.2012
<?Eine Vereinbarung über die Scheidungsfolgen kann auch unter der Geltung des BGG vom Bundesgericht selbst genehmigt werden (für den Fall, dass sich die Parteien erst nach der Einreichung ihrer Beschwerde geeinigt haben).
5A_123/2012 vom 28.6.2012
Strafrecht
<?Eine Urkundenfälschung (Art. 251 StGB) durch Abänderung und Weiterversand kann auch an einem E-Mail ohne elektronische Signatur begangen werden. Die Erkennbarkeit des Absenders ergibt sich bereits aus der Absenderadresse und dem Inhalt des E-Mails.
6B_130/2012 vom 22.10.2012
<?Dem Privatkläger, dessen Beteiligung sich auf die Beantragung einer Bestrafung beschränkt, können die erstinstanzlichen Kosten bei Verfahrenseinstellung oder Freispruch nur in besonderen Fällen auferlegt werden (Art. 427 StPO). Verzichtet der Betroffene auf eine Teilnahme an der zweitinstanzlichen Verhandlung, kann er nicht zur Übernahme von Kosten oder zur Zahlung einer Parteientschädigung verpflichtet werden.
6B_93/2012 vom 26.9.2012
Sozialversicherungsrecht
<?Die neuen Bestimmungen im Berner Sozialhilfegesetz zur erleichterten Informationsbeschaffung durch die Behörden sind verfassungskonform. Das gilt insbesondere für die Pflicht von Sozialhilfeersuchenden, die Behörden zum Einholen von nötigen Auskünften zu bevollmächtigen, wobei die verweigerte Vollmachterteilung jedoch nicht dazu führen darf, dass auf ein Gesuch um Sozialhilfe nicht eingetreten wird.
8C_949/2011 vom 4.9.2012
<?Bei verspätetem Strafantritt darf eine IV-Rente für die Zeit zwischen dem angeordneten und dem tatsächlichen Vollzugsbeginn nicht sistiert werden.
(8C_289/2012 vom 30.8.2012)
<?Die Abrechnung eines allfälligen Überschusses bei der Sozialhilfe mit unregelmässigem Einkommen (hier Taggelder der IV) kann monatsübergreifend erfolgen (Kanton ZH). Offengelassen wurde, wie lange die Zeitspanne einer solchen Verrechnung maximal dauern darf.
(8C_325/2012 vom 24.8.2012)
<?Die im Kanton Bern von über 65-jährigen Personen verlangte einkommensabhängige Beteiligung an den Kosten für spitalexterne Pflegeleistungen (Spitex) stellt keine Altersdiskriminierung (Art. 8 BV) dar.
8C_44/2012 vom 31.8.2012
<?Überzeitarbeit kann nicht in Form von zusätzlichem Leistungslohn entschädigt werden (Art. 13 und Art. 71 lit. b ArG). Die Oberärzte des Zürcher Universitätsspitals können deshalb neben den Prämien aus dem Honorarpool auch eine vollständige Entschädigung für Überzeit beanspruchen.
(8C_844/2011 vom 23.8.2012)
<?Die Übernahme der Krankenkassenkosten im Rahmen der Nothilfe zugunsten einer abgewiesenen Asylbewerberin darf nicht an die Bedingung geknüpft werden, dass sie in eine kantonale Kollektivunterkunft zieht.
(8C_65/2012 vom 21.8.2012)
<?Die vom Bundesgericht in BGE 137 V 210 aufgestellten Grundsätze bezüglich Medas-Begutachtungen im Rahmen der Invalidenversicherung gelten auch im Bereich der Unfallversicherung: Bei Uneinigkeit ist demnach eine anfechtbare Zwischenverfügung zu erlassen und der betroffenen Person sind Mitwirkungsrechte in Bezug auf die Gutachterfragen zu gewähren.
(8C_336/2012 vom 13.8.2012)
<?Kantonale Gerichte dürfen auf Revisionsgesuche nicht einzig mit der Begründung nicht eintreten, dass gegen den zu revidierenden Entscheid vor Bundesgericht eine Beschwerde hängig sei. Die betroffene Partei hat das Bundesgericht bei der Einreichung ihres Revisionsgesuches um Sistierung des höchstrichterlichen Verfahrens zu ersuchen.
(8C_45/2012 vom 11.7.2012) pj
Strassburg aktuell
Schweiz im Fall Nada verurteilt
Die Grosse Kammer des Gerichtshofs hat die Beschwerde des Geschäftsmanns Youssef Nada gutgeheissen. Nada hatte sich nach der Einstellung eines 2001 gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahrens in der Schweiz vergeblich darum bemüht, von der Liste jener Personen gestrichen zu werden, die mit Al-Qaida oder den Taliban in Verbindung gebracht werden (Anhang zur Verordnung des Bundesrates vom 2. Oktober 2000 über Massnahmen gegenüber Personen und Organisationen mit Verbindungen zu Osama bin Laden, der Gruppierung Al-Qaida oder den Taliban; SR 946.203). Dadurch war Nada die Einreise in die Schweiz verboten (was angesichts seines Wohnsitzes in der vom Kanton Tessin umgebenen italienischen Mini-Exklave Campione faktisch einen Hausarrest bedeutete) und wurden seine gesamten Gelder in der Schweiz gesperrt.
Das Bundesgericht hatte am 14. November 2007 geurteilt (BGE 133 II 450), die Schweiz sei an die Sanktionenbeschlüsse des Uno-Sicherheitsrats gebunden und könne Nada daher nicht selbständig von der Liste streichen. Dies gehe nur über das Delisting-Verfahren beim Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats, bei dem die Schweiz Nada unterstützen müsse.
Der Gerichtshof befand einstimmig, die Schweiz hätte trotz der Uno-Vorgaben einen genügenden eigenen Spielraum gehabt, das langjährige Ein- und Durchreiseverbot weniger rigoros auszugestalten. Die schweizerischen Behörden hätten der besonderen Situation (einmalige geografische Lage der italienischen Mini-Exklave Campione, Gesundheitszustand und Alter Nadas) nicht genügend Rechnung getragen. Dadurch missachteten sie Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) in Verbindung mit Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde).
Für seine Auslagen muss die Schweiz dem in Strassburg durch einen englischen Rechtsanwalt vertretenen Geschäftsmann eine Entschädigung von 30 000 Euro bezahlen.
Urteil der Grossen Kammer
N°10593/08 «Nada c. Schweiz» vom 12.9.2012; für eine Analyse des Falles siehe etwa
http://echrblog.blogspot.ch/2012/09/nada-grand-chamber-judgment.html
Isolationshaft diskriminiert homosexuellen Häftling
Nachdem sich ein homosexueller Häftling über die Schikanierung durch heterosexuelle Mitgefangene beklagt und eine Inhaftierung mit anderen Homosexuellen gewünscht hatte, setzte ihn die Gefängnisleitung für insgesamt acht Monate in strenge Einzelhaft. Die unwürdigen Haftbedingungen in der kleinen, dreckigen und düsteren Zelle missachteten nach einstimmiger Ansicht des EGMR das Verbot grausamer und unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK). Da die Isolationshaft nach Auffassung der Mehrheit (6 gegen 1 Stimme) eher seine sexuelle
Orientierung sanktionierte als seinen Schutz bezweckte, war sie darüber hinaus diskriminierend (Art. 14 EMRK).
Urteil der 2. Kammer N° 24626/09 «X c. Türkei» vom 9.10.2012
Adresse der Schauspielerin gehört nicht in die Zeitung
Die Publikation der genauen Wohnadresse in den Massenmedien kann den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) auch dann missachten, wenn es sich um eine in der Öffentlichkeit bekannte Schauspielerin handelt. Der Gerichtshof hat die Beschwerde der Schauspielerin Yasemin Alkaya einstimmig gutgeheissen, deren präzise Adresse die Tageszeitung «Aksam» drei Tage nach einem Einbruch in ihre Privatwohnung publiziert hatte. Die türkische Ziviljustiz wies die persönlichkeitsrechtliche Klage der seither immer wieder in ihrer Wohnung gestörten Schauspielerin ab. Die Richter missachteten dadurch die staatliche Pflicht zum Schutz von Art. 8 EMRK.
Der Gerichtshof schloss in seinem einstimmigen Urteil zwar nicht aus, dass ein Medienbericht über den Einbruch bei einer Prominenten einen gewissen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse (etwa über das Phänomen der Kriminalität) zu leisten vermöge. Es sei aber schleierhaft, weshalb sich die Zeitung ohne Einverständnis der Betroffenen entschloss, die exakte Wohnanschrift zu veröffentlichen. Da die türkische Justiz die nötigen Abwägungen zwischen den Privatinteressen der Schauspielerin und den (öffentlichen) Interessen an einer Publikation unterlassen hatte, handelte sie konventionswidrig.
Urteil der 2. Kammer N° 42811/06 «Alkaya c. Türkei» vom 9.10.2012
Unschuldsvermutung: Verletzung zu spät gerügt
Ein neuer (Un-)Zulässigkeitsentscheid dokumentiert, wie wichtig es gerade für Anwälte und Anwältinnen ist, eine Konventionsverletzung bereits im schweizerischen Verfahren ausreichend zu rügen. In Strassburg ist ein Luzerner Arbeitnehmer bereits an der Zulässigkeitshürde gescheitert. Er war im Juli 2001 fristlos entlassen worden, weil er nach Auffassung seines Arbeitgebers einen Parkhausbenutzer durch Manipulation der Parkhaussoftware mehr als ein halbes Jahr gratis hatte ausfahren lassen. Nachdem der Arbeitgeber Strafanzeige eingereicht hatte, war der Verdächtige durch f