Zivilprozessrecht
Glaubhaftmachen:Blosses Behaupten genügt nicht
Wenn der Richter dank Belegen zur Überzeugung kommt, dass mehr Punkte für als gegen eine Tatsache sprechen, ist eine Behauptung glaubhaft. Ein Grundstückkäufer muss seinen Anspruch auf eine Verfügungsbeschränkung im Grundbuch nur glaubhaft machen.
Sachverhalt:
Eine Stiftung kaufte von einer Aktiengesellschaft mit öffentlich beurkundetem Kaufvertrag eine Liegenschaft. Es wurde vertraglich vereinbart, dass die Käuferin (spätere Gesuchstellerin) als Eigentümerin ins Grundbuch eingetragen wird, sobald die Verkäuferin (Gesuchsgegnerin) Umbau- und Sanierungsmassnahmen erbracht hat und die Käuferin diese schriftlich bestätigt sowie die zweite Kaufpreistranche bezahlt hat. Da sich die Parteien später nicht einig waren, ob die Massnahmen korrekt vorgenommen wurden, beantragte die Käuferin die Vormerkung einer Verfügungsbeschränkung im Grundbuch zur Sicherung ihres Eigentumsübertragungsanspruchs. Das Handelsgericht Bern hatte nun zu entscheiden, ob dieser Anspruch glaubhaft gemacht werden konnte.
Aus den Erwägungen:
1. Gemäss Art. 960 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB können im Grundbuch Verfügungsbeschränkungen für einzelne Grundstücke aufgrund einer amtlichen Anordnung zur Sicherung streitiger oder vollziehbarer Ansprüche vorgemerkt werden. Unter Ansprüchen im Sinne dieser Bestimmung sind solche obligatorischer Natur zu verstehen, welche sich auf das betreffende Grundstück selbst beziehen und die, wenn endgültig anerkannt, zu einem Grundbucheintrag führen. Namentlich kann der Anspruch auf Eigentumsübertragung gestützt auf einen Kaufvertrag durch die Vormerkung einer Verfügungsbeschränkung gesichert werden (Schmid, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch II, Art. 457- 977 ZGB, Art. 1 - 61 SchlT ZGB, Honsell / Vogt / Geiser [Hrsg.], Basel 2011, 4. Auflage, N. 3 zu Art. 960 ZGB; BGE 104 II 170 E. 5, S. 176).
Art. 960 ZGB enthält keine Bestimmungen zum Verfahren, in welchem eine solche Anordnung zu ergehen hat. Dazu ist das Prozessrecht beizuziehen. Dieses bestimmt ebenfalls, ob die Anordnung von weiteren Voraussetzungen abhängig ist, wie beispielsweise vom Nachweis einer Gefährdung oder einer Sicherheitsleistung (vgl. Homberger, in: Zürcher Kommentar, Sachenrecht, Besitz und Grundbuch, Art. 919-977 ZGB, Zürich 1938, N. 16 zu Art. 960 ZGB). Die schweizerische Zivilprozessordnung sieht für derartige amtliche Anordnungen das summarische Verfahren um Erlass einer vorsorglichen Massnahme gemäss Art. 261 ff. ZPO vor. Gemäss Art. 262 lit. c. ZPO kann Inhalt einer vorsorglichen Massnahme jede gerichtliche Anordnung sein, die geeignet ist, einen drohenden Nachteil abzuwenden, insbesondere eine Anweisung an eine Registerbehörde (vgl. Huber, a.a.O., N. 32 zu Art. 262 ZPO).
2. Gemäss Artikel 261 Abs. 1 ZPO trifft das Gericht die notwendigen vorsorglichen Massnahmen, wenn die gesuchstellende Person glaubhaft macht, dass ein ihr zustehender Anspruch verletzt ist oder eine Verletzung zu befürchten ist (lit. a) und ihr aus der Verletzung ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht (lit. b). Dabei muss die Gesuchstellerin sowohl das Bestehen eines materiellen Anspruchs und dessen Verletzung als auch den drohenden, nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteil sowie auch die zeitliche Dringlichkeit nur glaubhaft machen (Huber, a.a.O., N. 25 zu Art. 261 ZPO). Der Richter würdigt frei, ob die Voraussetzungen glaubhaft gemacht worden sind (Sprecher in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Basler Kommentar, Spühler / Tenchio / Infanger [Hrsg.], Basel 2010, N. 77 zu Art. 261 ZPO).
Das Beweismass der Glaubhaftmachung verlangt mehr als blosses Behaupten. Die Behauptungen müssen vielmehr mit konkreten Anhaltspunkten oder Indizien untermauert und durch Belege gestützt werden (BGer vom 6. Juni 2003, 4P.64/2003 E. 3.3; Willi, «Glaubhaftmachung und Glaubhaftmachungslast», in: sic! 4/2011 S. 215 ff.). Nach dem Definitionsvorschlag von Berger-Steiner ist eine Tatsachenbehauptung dann glaubhaft, «wenn der Richter auf der Grundlage der verfügbaren Beweismittel zur Überzeugung kommt, dass mehr für als gegen die Verwirklichung der behaupteten Tatsache spricht.
Oder anders ausgedrückt: Der Richter muss davon überzeugt sein, dass die Verwirklichung der behaupteten Tatsachen wahrscheinlicher ist als ihre Nichtverwirklichung. Für das Erreichen der Schwelle zur einfachen Wahrscheinlichkeit genügt somit bereits ein blosses Wahrscheinlichkeitsübergewicht zugunsten der Sachverhaltsdarstellung des Hauptbeweisführers» (Berger-Steiner, «Beweismass und Privatrecht», in: ZBJV 4/2008 S. 269 ff., S. 299 f.).
3. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die im Kaufvertrag festgelegten Bedingungen für die Eintragung der Gesuchstellerin als neue Eigentümerin der Liegenschaft erfüllt sind, das heisst insbesondere die Umbau-/Sanierungsarbeiten vertragskonform erbracht sind. Gemäss Ausführungen der Gesuchstellerin ist dies Thema einer vor dem Regionalgericht Oberland hängigen vorsorglichen Beweisführung. Die Gesuchstellerin hat glaubhaft dargetan, dass dieser Umstand dazu geführt hat, dass sie die im Kaufvertrag vom 16. Oktober 2008 vereinbarte schriftliche Bestätigung der Umbau-/Sanierungsarbeiten gegenüber der Gesuchsgegnerin nicht abgegeben hat und aus diesem Grund die zweite Tranche des Kaufpreises nicht bezahlt hat. Der Gesuchstellerin gelang es somit, glaubhaft darzutun, dass ihr ein im Sinne von Art. 960 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB streitiger obligatorischer Anspruch gegenüber der Gesuchsgegnerin zusteht, welcher grundsätzlich zur Vormerkung einer Verfügungsbeschränkung im Grundbuch berechtigt. Die Glaubhaftmachung eines «streitigen» Anspruchs genügt gemäss Art. 960 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB für einen Anspruch auf Vormerkung einer Verfügungsbeschränkung im Grundbuch. Keine höheren Anforderungen dürfen in diesem Zusammenhang an die Glaubhaftmachung der Verletzung oder der drohenden Verletzung eines Anspruches gemäss Art. 261 Abs. 1 lit. a ZPO gestellt werden. Art. 960 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB geht in diesem Sinne als lex specialis vor.
Urteil HG 12 39 des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 3.5.2012
Ein Gesuch um Begründung hemmt die Vollstreckung
Die Kompetenz zum Aufschub der Vollstreckbarkeit eines Entscheids, der mit Beschwerde anfechtbar ist, steht der oberen Instanz zu. Diese aber kann dazu erst Stellung nehmen, wenn die Begründung des vorinstanzlichen Entscheids bekannt ist.
Sachverhalt:
Das Bezirksgericht Zürich verweigerte die Rechtsöffnung für eine Forderung um Parteientschädigung, die eine Schlichtungsbehörde festgesetzt, aber noch nicht begründet hatte. Der Kläger ist der Ansicht, bereits der unbegründete Entscheid sei rechtskräftig und vollstreckbar, da die Beklagte keine aufschiebende Wirkung verlangt habe. Das Bezirksgericht war der gegenteiligen Ansicht. Ein gerichtlicher Entscheid sei nicht vollstreckbar in der Zeitspanne von der mündlichen Eröffnung mit Aushändigung eines Dispositivs bis zur Zustellung der schriftlichen Entscheidbegründung. Das Obergericht hat sich zu dieser Frage nun ausführlich geäussert.
Aus den Erwägungen:
3. Streitgegenstand im vorliegenden Beschwerdeverfahren ist die Rechtsfrage, ob ein mündlich und im Dispositiv eröffneter, indes noch nicht schriftlich begründeter Entscheid bereits im Sinne von Art. 80 Abs. 1 SchKG vollstreckbar ist und damit zur Rechtsöffnung berechtigt oder ob die Vollstreckbarkeit gehemmt ist, wenn eine schriftliche Ausfertigung verlangt wurde respektive noch verlangt werden kann.
3.4 Gegen einen erst im Dispositiv eröffneten Entscheid kann die unterlegene Partei zunächst nur das Begehren um Begründung stellen (Art. 239 Abs. 2 ZPO). Erst gegen den begründeten Entscheid ist das Rechtsmittel zulässig (Art. 311, 321 ZPO). Es wäre nicht sinnvoll, wenn die mit dem Entscheid nicht zufriedene Partei schon Beschwerde erheben könnte resp. müsste, bevor sie die (einzig relevante schriftliche) Begründung für den erstinstanzlichen Entscheid erfahren hat. Die Beschwerde muss direkt umfassend begründet eingereicht werden (Art. 321 Abs. 1 ZPO), was eine Auseinandersetzung mit den Entscheidgründen der ersten Instanz verlangt.
Ein zweiter Schriftenwechsel ist im Beschwerdeverfahren nicht vorgesehen. Auf ein verfrüht eingereichtes und damit offensichtlich unzulässiges Rechtsmittel würde nicht eingetreten (Art. 312 Abs. 1 bzw. 322 Abs. 1 ZPO). Entsprechend ist bis zur schriftlichen Begründung des erstinstanzlichen Entscheids die Beschwerdeinstanz (noch) nicht kompetent zu entscheiden, ob die Vollstreckung vorläufig aufzuschieben ist oder nicht (Art. 325 Abs. 2 ZPO).
Nach dem klaren Wortlaut von Art. 325 Abs. 2 Satz 1 ZPO kann bei Entscheiden, die der Beschwerde unterliegen, nur die Rechtsmittelinstanz die Vollstreckbarkeit aufschieben; der erkennenden ersten Instanz fehlt dafür die Zuständigkeit. Dies bringt das Problem mit sich, dass während der Zeit bis zur Begründung und Anfechtbarkeit keine Instanz vorhanden ist, die die Vollstreckbarkeit eines erst im Dispositiv eröffneten Entscheids aufschieben könnte. Darauf wies bereits die Vorinstanz hin.
3.6 Der Beschwerdeführer bringt vor, dass auch während anhängig gemachtem Beschwerdeverfahren bis zum Entscheid über ein Gesuch um Aufschiebung der Vollstreckung die Rechtsöffnung erteilt werden könne, was ebenfalls hingenommen werde. Dies trifft zwar zu, doch ist diesem Vorbringen entgegenzuhalten, dass dann die Zuständigkeit der Rechtsmittelinstanz bereits begründet ist und die obere Instanz rasch einen Entscheid über die Aufschiebung der Vollstreckung fällen kann, nötigenfalls unter Anordnung sichernder Massnahmen oder einer Sicherheitsleistung (Art. 325 Abs. 2 ZPO).
Die Gefahr, dass trotzdem innert dieser kurzen Zeit bereits definitive Rechtsöffnung erteilt sein könnte, besteht damit zwar noch immer, jedoch nur während absehbarer, kurzer Zeit. Und falls just in dieser kurzen Phase definitive Rechtsöffnung erteilt würde, so würden diese und allfällige weitere Vollstreckungshandlungen mit der Aussetzung der Vollstreckbarkeit ex tunc, d. h. rückwirkend seit Eröffnung des Entscheides, hinfällig (BGE 127 III 569 und 127 III 571; Volkart, Dike-Komm-ZPO, Art. 325 N 7; BSK SchKG I, D. Staehlin, Art. 80 N 8 m. w. H.).
3.7 D. Staehlin vertritt im Basler Kommentar die Ansicht, dass ein Entscheid, gegen den keine Berufung (Art. 308 ff. ZPO) erhoben werden kann, auch dann vollstreckbar werde, wenn er ohne schriftliche Begründung gemäss Art. 239 Abs. 1 ZPO eröffnet wurde. Nach diesem Autor ist die nachfolgende schriftliche Begründung gemäss Art. 239 Abs. 2 ZPO nicht massgebend, der Antrag auf Ausfertigung der schriftlichen Begründung hemme den Eintritt der Vollstreckbarkeit nicht (BSK SchKG I, Art. 80 N 7; vgl. auch ders. in Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger, a.a.O., Art. 239 N 35).
Würde der Lehrmeinung von D. Staehlin gefolgt, könnte der erstinstanzlich Verpflichtete zwar (u. a.) noch negative Feststellungsklage nach Art. 85a SchKG erheben. Dann stünde die angerufene (erste) Instanz beim Entscheid über die vorläufige Einstellung der Betreibung aber wiederum vor dem Problem, dass sie ohne Kenntnis der Motive für den vorangegangenen Sachentscheid nicht zu beurteilen vermag, ob die Klage «sehr wahrscheinlich begründet» im Sinne von Art. 85a Abs. 2 SchKG ist oder nicht.
Abgesehen davon, dass auch dies keineswegs im Interesse der Prozessökonomie läge, würde es auch zur widersinnigen Situation führen, dass ein erstinstanzliches Gericht über die Aussichten eines Rechtsmittels gegen einen erstinstanzlichen Entscheid (u. U. desselben Gerichts) befinden müsste.
3.8 Ferner fragt sich auch, ob eine solch direkte Vollstreckung mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV vereinbar wäre. Teilgehalt von Art. 29 Abs. 2 BV ist der Anspruch, dass ein gerichtlicher Entscheid begründet wird. Sinn und Zweck der Begründungspflicht legen nahe, dass diese Begründung nicht erst erfolgen darf, nachdem der Entscheid möglicherweise bereits vollstreckt ist (vgl. zu dieser Thematik BSK BGG-Ehrenzeller, Art. 112 N 14 sowie BGE 129 I 232 E. 3.2). Hierfür sind weder eine besondere Dringlichkeit noch andere Gründe, die ein derart rigides Vorgehen sachlich rechtfertigen, ersichtlich.
3.9 Die ZPO enthält keine explizite Regelung zur Frage, ob ein erst mündlich und im Dispositiv eröffneter Entscheid schon vollstreckbar ist, obgleich eine schriftliche Begründung verlangt wurde oder noch verlangt werden kann.
Anders als die ZPO enthält das Bundesgesetz über das Bundesgericht (BGG) für das gleiche Problem eine Regelung: Art. 112 Abs. 2 BGG schreibt vor, dass stets dann, wenn eine Vorinstanz des Bundesgerichts einen Entscheid ohne Begründung eröffnet, die Parteien innert 30 Tagen eine vollständige Ausfertigung (mit Begründung) verlangen können. Erst ab Erhalt der vollständigen Ausfertigung beginnt die Beschwerdefrist zu laufen (Art. 100 Abs. 1 BGG).
Bedeutsam ist nun, dass gemäss Satz 3 von Art. 112 Abs. 2 BGG der kantonale Entscheid nicht vollstreckbar ist, solange nicht entweder die genannte dreissigtägige Frist unbenützt abgelaufen oder die begründete Ausfertigung des Entscheids eröffnet worden ist. Dementsprechend ist der Entscheid bis zur Zustellung der Motive selbst dann nicht vollstreckbar, wenn die Beschwerde ans Bundesgericht keine aufschiebende Wirkung hat (Art. 103 BGG; BSK BGG-Ehrenzeller, Art. 112 N 13 m. w. H.).
Es geht bei Art. 112 Abs. 2 BGG vornehmlich darum, dass sich die Rechtsmittelinstanz nicht gestützt auf das blosse Dispositiv des angefochtenen Entscheids über vorsorgliche Massnahmen - also etwa über die Aussetzung der Vollstreckbarkeit - soll aussprechen müssen (vgl. Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001, 4351). Diese Problematik stellt sich hier genauso.
Aus den vorstehenden Erwägungen erheischt Art. 112 Abs. 2 Satz 3 BGG allgemeine Wirkung. Analog dieser Regelung ist auch einem unter der ZPO ergangenen, beschwerdefähigen Entscheid die Vollstreckung zu versagen, solange nicht entweder die zehntägige Begründungsfrist (Art. 239 Abs. 2 ZPO) unbenützt abgelaufen oder die begründete Ausfertigung des Entscheids eröffnet worden ist.
Die Beschwerde ist damit abzuweisen.
Urteil RT120039-O/U der I. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 11.6.2012
Anwälte sollen ganzes Honorar erhalten
Grundsätzlich erhält eine in eigener Sache prozessierende Partei keine Prozessentschädigung. Anders im Falle eines Anwaltes, der sich ein höheres Honorar für seine Arbeit als unentgeltlicher Rechtsvertreter erstritten hat. Sonst würde sein eben aufgebessertes Honorar gleich wieder um die Prozesskosten geschmälert.
Sachverhalt:
Der unentgeltlich eingesetzte Rechtsbeistand H. erhielt in einem invalidenversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren eine Entschädigung für sieben Arbeitsstunden à Fr. 200.-, zuzüglich Barauslagen von Fr. 80.- und 8 Prozent MwSt., total Fr. 1598.40. Dieser Betrag reichte ihm nicht und so zog er die Sache ans Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich weiter, wo er ein höheres Honorar erhielt, nämlich Fr. 2073.60. Da ihm aber für seine Aufwendungen vor kantonaler Instanz keine Prozessentschädigung bezahlt wurde, gelangte er ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2. Die Vorinstanz begründete die Verweigerung der Prozessentschädigung im kantonalen Verfahren damit, gemäss ihrer Praxis werde grundsätzlich dann keine Prozessentschädigung gesprochen, wenn jemand seine Interessen im Beschwerdeverfahren selber wahrnehme, unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Anwalt oder um einen juristischen Laien handle (Zünd / Pfiffner Rauber, Gesetz über das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 2009, S. 338, Rz. 5 mit Hinweisen).
Die vom Beschwerdeführer zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichts betreffe Fälle von Pflichtverteidigern in Strafverfahren. Zudem trage der Beschwerdeführer hier kein Prozessrisiko, weil das Verfahren kostenlos sei; auch könne der Aufwand zur Beschwerdebegründung in Grenzen gehalten werden, weil die Untersuchungsmaxime gelte. Bei einem Streitwert von Fr. 475.20 läge die Prozessentschädigung bei Obsiegen im Zivilprozess unter Fr. 100.-. Es bestehe demnach kein Grund, von der bisherigen Praxis abzuweichen.
3. Die Verweigerung einer Prozessentschädigung unter den vorliegend gegebenen Umständen verstösst gegen das Willkürverbot (Art. 9 BV). Wie sich der Beschwerdeführer mit Recht darauf beruft, hat zwar nach der Rechtsprechung eine in eigener Sache prozessierende Partei grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (BGE 110 V 72 E. 7, S. 81 f.). Macht allerdings der um sein Honorar streitende unentgeltliche Rechtsvertreter den Anspruch auf eine Entschädigung für die Erfüllung einer Aufgabe geltend, die er im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Auftragsverhältnisses wahrnimmt, steht ihm sowohl im bundesgerichtlichen (BGE 125 II 518 E. 5.5 S. 519) als auch im kantonalen Beschwerdeverfahren, im Rahmen des erforderlichen Aufwandes und des Obsiegens, eine Parteientschädigung zu (Urteil 8C_676/2010 vom 11. Februar 2011 E. 6 [plädoyer 5/11, S. 55] mit Hinweisen auf weitere Urteile).
Würde der Beschwerdeführer für seinen Aufwand im Rechtsmittelverfahren, das zur Erlangung der ihm von der Vorinstanz zugesprochenen Erhöhung des Honorars notwendig war, gar nicht entschädigt, würde das ihm für die Tätigkeit als unentgeltlicher Rechtsanwalt zustehende Honorar faktisch geschmälert (Urteil 5D_145/2007 vom 5. Februar 2008).
4. Die Rüge ist darum begründet und damit die Beschwerde gutzuheissen. Die Vorinstanz hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Prozessentschädigung zuzusprechen. Für deren Bemessung wird sie vom gerichtsüblichen Stundenansatz ausgehen und sie nach dem angemessenen Aufwand (ohne Berücksichtigung eines Streitwertes) festlegen.
5. Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Hingegen hat der Beschwerdeführer, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, Anspruch auf eine Parteientschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Urteil 9C_334/2012 der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes vom 30.6.2012
Strafprozessrecht
Verdacht auf Arglist zwingt zur Strafuntersuchung
Wenn ein Unternehmen und eine Mitarbeiterin möglicherweise arglistig handeln, darf die Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung nicht einstellen. Arglist liegt nur dann nicht vor, wenn ein Opfer elementare Vorsichts-regeln nicht beachtet hat.
Sachverhalt:
X. rief häufig eine kostenpflichtige Telefonnummer (4 Franken pro Minute) an, die er von einer Kontaktanzeige hatte. Insgesamt kostete ihn das rund 50 000 Franken. Bei F., die unter dem Pseudonym «Z.» die Anrufe entgegengenommen hatte, handelte es sich aber um eine Callcenter-Mitarbeiterin, die ihm dies zwar sagte, aber auch durchblicken liess, dass sie privat selber auf Partnersuche sei. In Wirklichkeit wollte sie wohl im Interesse ihres Arbeitgebers, der B. AG, hohe Verbindungskosten generieren.
Im Mai 2005 hatte X. einen Arbeitsunfall, mit Schädelbruch und Hirnblutungen. Gemäss dem Bericht der Rehaklinik vom November 2008 war X. nun eingeschränkt in seiner Handlungsplanung und Stressbelastung und hatte Sprachschwierigkeiten; er habe aber keine Störung mit Krankheitswert. Im Februar 2006 rief er «Z.» erneut für insgesamt Fr. 36 000.- an.
Im August 2009 erstatte X. Strafanzeige, doch die Staatsanwaltschaft stellte im Januar 2010 die Untersuchung ein. Den Rekurs gegen diese Einstellungsverfügung wies das Obergericht des Kantons Zürich im August 2011 ab, da er die Rekursantwort nicht bestritten habe. Vor Bundesgericht verlangt X. nun, das Strafverfahren wieder aufzunehmen und Anklage zu erheben.
Aus den Erwägungen:
4. Der bereits altrechtlich unter der Herrschaft der kantonalen Prozessordnungen in Kraft stehende Grundsatz «in dubio pro duriore» (z.B. Urteil 6B_879/2010 vom 24. März 2011) fliesst aus dem Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV und Art. 2 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 319 Abs. 1 und Art. 324 Abs. 1 StPO; zur amtlichen Publikation bestimmtes Urteil 1B_687/2011 vom 27. März 2012 E. 4.2).
Er bedeutet, dass eine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit bzw. offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden darf. Bei der Beurteilung dieser Frage verfügen die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz über einen gewissen Spielraum, den das Bundesgericht mit Zurückhaltung überprüft.
Hingegen ist (sofern die Erledigung mit einem Strafbefehl nicht in Frage kommt) Anklage zu erheben, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch (Urteil 1B_687/2011 E. 4.1.1; BGE 137 IV 219 E. 7.1-7.2, S. 226 f.). Falls sich die Wahrscheinlichkeiten eines Freispruches oder einer Verurteilung in etwa die Waage halten, drängt sich in der Regel, insbesondere bei schweren Delikten, ebenfalls eine Anklageerhebung auf (Urteil 1B_687/2011 E. 4.1.2).
5.1 Die Erfüllung des Tatbestands des Betruges erfordert eine arglistige Täuschung. Betrügerisches Verhalten ist strafrechtlich erst relevant, wenn der Täter mit einer gewissen Raffinesse oder Durchtriebenheit täuscht. Einerseits muss sich aus der Art und Intensität der angewendeten Täuschungsmittel eine erhöhte Gefährlichkeit ergeben (betrügerische Machenschaften, Lügengebäude). Einfache Lügen, plumpe Tricks oder leicht überprüfbare falsche Angaben genügen demnach nicht.
Andererseits erfolgt die Eingrenzung des Betrugstatbestands über die Berücksichtigung der Eigenverantwortlichkeit des Opfers. Danach ist ausgehend vom Charakter des Betrugs als Beziehungsdelikt, bei dem der Täter auf die Vorstellung des Opfers einwirkt und dieses veranlasst, sich selbst durch die Vornahme einer Vermögensverfügung zugunsten des Täters oder eines Dritten zu schädigen, zu prüfen, ob das Opfer den Irrtum bei Inanspruchnahme der ihm zur Verfügung stehenden Selbstschutzmöglichkeiten hätte vermeiden können.
Wer sich mithin mit einem Mindestmass an Aufmerksamkeit selbst hätte schützen beziehungsweise den Irrtum durch ein Minimum zumutbarer Vorsicht hätte vermeiden können, wird strafrechtlich nicht geschützt. Dabei ist die jeweilige Lage und Schutzbedürftigkeit des Betroffenen im Einzelfall entscheidend. Besondere Fachkenntnis und Geschäftserfahrung des Opfers sind in Rechnung zu stellen.
Auch unter dem Gesichtspunkt der Opfermitverantwortung erfordert die Erfüllung des Tatbestands indes nicht, dass das Täuschungsopfer die grösstmögliche Sorgfalt walten lässt und alle erdenklichen Vorkehren trifft. Arglist scheidet lediglich aus, wenn es die grundlegendsten Vorsichtsmassnahmen nicht beachtet. Entsprechend entfällt der strafrechtliche Schutz nicht bei jeder Fahrlässigkeit des Opfers, sondern nur bei Leichtfertigkeit (BGE 128 IV 18 E. 3a; BGE 126 IV 165 E. 2a; BGE 122 IV 146 E. 3a mit Hinweisen).
Arglist wird nach all dem - soweit das Opfer sich nicht in leichtfertiger Weise seiner Selbstschutzmöglichkeiten begibt - in ständiger Rechtsprechung bejaht, wenn der Täter ein ganzes Lügengebäude errichtet (BGE 119 IV 28 E. 3c) oder sich besonderer Machenschaften oder Kniffe (manœuvres frauduleuses; mise en scène; BGE 133 IV 256 E. 4.4.3;
132 IV 20 E. 5.4 mit Hinweisen) bedient.
Ein Lügengebäude und damit Arglist ist nicht schon gegeben, wenn verschiedene Lügen bloss aneinandergereiht werden, sondern erst wenn die Lügen von besonderer Hinterhältigkeit zeugen und derart raffiniert aufeinander abgestimmt sind, dass sich auch das kritische Opfer täu-
schen lässt.
Ist das nicht der Fall, scheidet Arglist jedenfalls dann aus, wenn sowohl das vom Täter gezeichnete Bild als Ganzes wie auch die falschen Angaben für sich allein in zumutbarer Weise überprüfbar gewesen wären und schon die Aufdeckung einer einzigen Lüge zur Aufdeckung des ganzen Schwindels geführt hätte. Unter diesen Umständen ist es für den Getäuschten mitunter sogar leichter, den Schwindel zu entdecken, als wenn der Täter nur eine einzige falsche Angabe gemacht hätte (vgl. auch BGE 119 IV 28 E. 3c).
Arglist ist aber auch bei einfachen falschen Angaben gegeben, wenn deren Überprüfung nicht oder nur mit besonderer Mühe möglich oder nicht zumutbar ist, oder wenn der Täter den Getäuschten von der möglichen Überprüfung abhält oder nach den Umständen voraussieht, dass dieser die Überprüfung der Angaben aufgrund eines besonderen Vertrauensverhältnisses unterlassen werde (Zusammenfassung der Rechtsprechung in BGE 135 IV 76 E. 5.2).
5.3 Fraglich kann sein, ab welchem Zeitpunkt der Anrufer den Schwindel bei elementarer Vorsicht hätte bemerken müssen. Wenn in dieser Situation die auf den Anruf vorbereitete, als Callcenter-Mitarbeiterin in der Führung von (professionellen) Telefongesprächen geübte «Z.» dem sich mit einer Vermittlungsagentur verbunden wähnenden, unbedarften Beschwerdeführer zwar
einerseits eröffnete, Callcenter-Mitarbeiterin zu sein, ihm anderseits aber ausdrücklich sagte oder jedenfalls zu verstehen gab, auch sie sei auf Partnersuche und an der Fortsetzung des Gesprächs im eigenen Privatinteresse interessiert, so hatte er wohl während einer je nach den konkreten Umständen kürzeren oder längeren Gesprächsdauer kaum Anlass, an den lauteren Absichten seiner Gesprächspartnerin zu zweifeln.
Für die zweite Phase der Gespräche nach dem Unfall ist nicht von vornherein auszuschliessen, dass die (offensichtlich schon vorher nicht besonders ausgeprägte) Urteilskraft des Beschwerdeführers als Folge des erlittenen Hirntraumas geschwächt und er dadurch von «Z.» abhängig wurde. Sollte sie diese Schwäche erkannt und gezielt ausgenützt haben, liegt auch für das Geschehen in der Zeit ab Februar 2006 das Vorliegen eines Betrugs durchaus im Bereich des Denkbaren.
Zusammenfassend steht bei dieser Sachlage nicht fest, dass die am Betrieb des Callcenters Beteiligten bzw. dafür Verantwortlichen nicht arglistig und damit tatbestandsmässig im Sinne des Betrugsvorwurfs gehandelt haben. Es bestehen im Gegenteil gewichtige Indizien dafür, dass Arglist bejaht werden müsste, zumal das Bundesgericht an die Fähigkeit verliebter Opfer, Lügengeschichten kritisch zu hinterfragen, keine hohen Anforderungen stellt (zum Beispiel BGE 128 IV 255 oder insbesondere das Urteil 6S.123/2005 vom 24. Juni 2005, in dem Arglist bejaht wurde im Fall des Kunden einer Animierdame, die sich von ihm für den Abbruch einer vorgetäuschten Schwangerschaft bezahlen liess.).
Damit ist die Einstellung des Verfahrens mit dem Grundsatz «in dubio pro duriore» nicht vereinbar, die Rüge ist begründet.
6. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Sache ist zur Fortsetzung der Strafuntersuchung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Da diese das Verfahren in Bezug auf alle in Betracht fallenden Straftatbestände fortzuführen haben wird, brauchen die weiteren, den Wucher und das UWG betreffenden Rügen nicht behandelt zu werden.
Urteil 1B_591/2011 der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes vom 18.6.2012
Verwaltungsverfahrensrecht
Observation zur Überprüfung von Arztbericht zulässig
Finden Ärzte keine ausreichende Erklärung für Beschwerden, darf die Versicherung eine Observation durchführen, ohne dass konkrete Indizien für ein unredliches Verhalten vorliegen.
Sachverhalt:
Diverse ärztliche Abklärungen ergaben, dass eine Versicherte mehr aus psychischen Gründen als wegen körperlichen Symptomen zwischen 50 und 100 Prozent arbeitsunfähig war. Eine einmonatige Observation entkräftete diese invalidisierenden Diagnosen, da die Versicherte im Alltag einen gesunden Eindruck machte. Die Observationsergebnisse wurden ihr dann in Abwesenheit eines Facharztes mitgeteilt. Ihr wurde aber im Voraus nicht gesagt, dass es sich nicht bloss um ein Standortgespräch handelt, sondern dass sie mit neuen Beweisen konfrontiert wird und deshalb einen Rechtsvertreter mitbringen könnte. Das Gespräch selber verlief nicht fair, auch weil sie gedrängt wurde, eine leistungsabweisende Verfügung zu akzeptieren.
Die Betroffene (im Folgenden Beschwerdegegnerin) erhob Beschwerde und stellte die Aussagekraft von Observationsberichten im Allgemeinen in Frage sowie Sinn und Zweck des von der Beschwerdegegnerin durchgeführten Standort- und Konfrontationsgesprächs.
Aus den Erwägungen:
1. Es ist von Amtes wegen zu prüfen, ob die Observation zulässig war. In BGE 137 I 327 hat das Bundesgericht unter anderem festgehalten, die Durchführung einer Observation könne geboten sein, wenn beispielsweise Hinweise auf widersprüchliches Verhalten der versicherten Person, Zweifel an der Redlichkeit derselben, bei Inkonsistenzen anlässlich der medizinischen Untersuchung, Aggravation, Simulation oder Selbstschädigung vorlägen; dass von den Ärzten im dort zu beurteilenden Fall eine erhebliche Symptomausweitung festgestellt worden sei beziehungsweise die Schmerzen als nur teilweise somatisch erklärbar qualifiziert worden seien, genüge, um die durchgeführte Observation als geboten zu qualifizieren (E. 5.4.2).
Diese Ausführungen können nur so verstanden werden, als bereits bei Vorliegen somatisch nicht hinreichend erklärbarer Beschwerden oder bei Feststellung von Symptomausweitung oder Aggravation grundsätzlich ohne Weiteres eine Observation angeordnet werden kann. Konkret fassbare Indizien oder Verdachtsmomente auf bewusst widersprüchliches oder unredliches Verhalten werden mithin offenbar nicht verlangt. Ob damit dem Umstand, dass eine Observation regelmässig einen doch erheblichen Eingriff in die Grundrechte der versicherten Person darstellt, genügend Rechnung getragen wird, erscheint fraglich.
Der erwähnte Entscheid wurde denn auch - nicht nur aus diesem Grund - in der Lehre kritisiert (Lucien Müller, «Observation von IV-Versicherten: Wenn der Zweck die Mittel heiligt», in: Jusletter vom 19. Dezember 2011). Im vorliegenden Fall lagen «konkrete Anhaltspunkte (...), die Zweifel an den geäusserten gesundheitlichen Beschwerden oder der geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit aufkommen lassen» (BGE 137 I 327 E. 5.4.2.1, S. 332 f.) gemäss Akten insofern vor, als die Beschwerdeführerin Beschwerden geltend machte, für welche die Ärzte keine hinreichende somatische Erklärung fanden. Im Lichte der oben erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist aber die Zulässigkeit der Observation dennoch zu akzeptieren.
2. Eine Observation dient naturgemäss einem anderen Zweck als eine medizinische Untersuchung: Während Letztere insbesondere die Fragen, ob ein Gesundheitsschaden vorliegt und wie sich dieser allenfalls auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt, zu beantworten hat, soll Erstere verifizieren oder falsifizieren, dass sich die versicherte Person im (vermeintlich unbeobachteten) Alltag übereinstimmend zur Untersuchungssituation verhält. Es geht also nicht darum, anhand von Observationsergebnissen eine Arbeitsfähigkeitsschätzung abzugeben, sondern darum, die Zuverlässigkeit von medizinischen Beurteilungen mittels vergleichender Beobachtung ausserhalb einer Untersuchungssituation zu überprüfen. Mittels Würdigung der Observationsergebnisse wird daher in erster Linie die Frage beantwortet, ob auf die vorhandenen medizinischen Berichte abgestellt werden kann.
Vorliegend belegen die Observationsergebnisse hinsichtlich des Verhaltens der Beschwerdeführerin eine erhebliche Diskrepanz zwischen Untersuchungssituation und Alltag, sodass die Zuverlässigkeit der zuvor erstellten medizinischen Berichte und des Gutachtens in Zweifel zu ziehen sind. Die Fähigkeit der Beschwerdeführerin, selbst ein Motorfahrzeug - auch über längere Strecken und unter erschwerten Bedingungen (Autobahnbaustelle) - zu lenken, verschiedene Besorgungen zu erledigen, stark frequentierte Geschäfte aufzusuchen und sich in völlig unauffälliger Weise mit Bekannten zu unterhalten, lässt sich mit dem in den erwähnten Untersuchungssituationen präsentierten Zustand nur schwerlich vereinbaren. Auf die entsprechenden Berichte beziehungsweise Arbeitsfähigkeitsschätzungen kann daher nicht abgestellt werden.
4.1 Des Weiteren stellt sich die Frage nach Sinn und Zweck des von der Beschwerdegegnerin durchgeführten Standort- und Konfrontationsgesprächs. Freilich ist die betroffene Person über die Observation und deren Ergebnisse in Kenntnis zu setzen und hat sie Anspruch auf Wahrung ihrer Gehörsrechte.
Da eine fachärztliche Beurteilung in Kenntnis der Observationsergebnisse und allenfalls nach neuerlicher Untersuchung regelmässig notwendig ist, stellt sich aber die Frage, weshalb die Beschwerdegegnerin das entsprechende Gespräch nicht in Anwesenheit eines Facharztes durchführt. Dieser könnte gezielte Fragen stellen, die es ihm erlauben würden, anschliessend eine medizinisch fundierte Beurteilung abzugeben, und anstelle eines reinen Gesprächsprotokolls läge diesfalls eine medizinische Beurteilung vor, die allenfalls sogar diBeurteilung des Rentenanspruchs rechtsgenüglich erlauben würde.
Bei solchem Vorgehen würde sich auch nicht die Frage stellen, ob der Versicherten strafprozessuale Rechte zuzuerkennen wären, denn es würde sich beim entsprechenden Gespräch nicht um eine eigentliche Einvernahme, sondern einerseits um eine Form der Wahrung der Gehörsrechte und andererseits um eine medizinische Untersuchung unter Beizug der Observationsergebnisse im Sinne fremdanamnestischer Angaben handeln.
4.2 Vorliegend hat die Beschwerdeführerin unabhängig davon, ob sie zumindest bewusstseinsnah in Untersuchungssituationen ein anderes Verhalten als im Alltag gezeigt hat, Anspruch darauf, von Seiten der Versicherungsträger - als Bundesrecht vollziehende Behörden - fair behandelt zu werden. Dazu kann gehören, die Beschwerdeführerin im Vorfeld darauf hinzuweisen, dass nicht nur ein «Standortgespräch» geplant sei, sondern sie mit neuen Beweisen konfrontiert werden soll und entsprechend der Beizug eines Rechtsvertreters zu prüfen sei.
Es entspricht nicht einem fairen Verhalten, dass die Beschwerdegegnerin in der «Einvernahme» mit Sätzen wie: «Ich bin schockiert über Ihren tatsächlichen Gesundheitszustand», ein bewusst falsches Bild ihrer Einschätzung vermittelt, die Beschwerdeführerin ohne genügende Beweise der Täuschung bezichtigt («Wir wissen, dass Sie die Ärzte und Gutachter über Ihren Gesundheitszustand getäuscht haben!») und sie noch in diesem Gespräch zur Zusicherung drängen will, eine leistungsabweisende Verfügung zu akzeptieren.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Sache zu weiteren Abklärungen und anschliessender Neuverfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.
Entscheid IV 2011/142 des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22.5.2012
Gerichte des Bundes aktuell
Kriterien für einen Ladendiebstahl
Wer seinen Grosseinkauf nicht spätestens an der letzten Innenkasse des Geschäfts bezahlt, begeht einen Diebstahl. Eine Baslerin hatte siebzig Artikel im Gesamtwert von 300 Franken im Einkaufswagen verstaut und das Geschäft durch die Drehtür verlassen. Als sie von zwei Ladendetektivinnen angehalten wurde, erklärte sie ihnen, dass sie noch Gemüse vom Aussenstand brauche und sämtliche Artikel gleich dort habe bezahlen wollen. Das Bundesgericht hat aber die Verurteilung der Kundin wegen Diebstahls bestätigt. Laut dem Gericht hätten die vielen mitgeführten Waren an der Aussenkasse mit ihrer bloss kleinen Abstellfläche gar nicht sinnvoll und effizient eingescannt und abgerechnet werden können.
Es sei deshalb offensichtlich, dass die Waren in einem solchen Fall spätestens an der letzten Kasse im Innern des Geschäfts bezahlt werden müssten.
6B_100/2012 vom 5.6.2012
Rüffel für Ems-Chemie wegen Bagatellstrafantrag
Die Ems-Chemie muss sich vom Bundesstrafgericht klare Worte für ihr Verhalten im Verfahren um die angebliche Verletzung des Geschäftsgeheimnisses durch einen ehemaligen Mitarbeiter gefallen lassen. Das Gericht hat der Ems-Chemie einen Teil der Verfahrens- und Anwaltskosten der Gegenpartei auferlegt. Gemäss der Urteilsbegründung aus Bellinzona hätte das Unternehmen aus dem Kanton Graubünden auf den Strafantrag im einzigen noch zur Debatte stehenden Anklagepunkt verzichten können und sollen. Dabei habe es sich um eine Bagatelle gehandelt, die laut Bundesstrafgericht für keine der Parteien noch von wesentlicher Bedeutung gewesen sei. Auch die Ems-Chemie habe mit einem Freispruch rechnen müssen.
SK.2012.15 vom 6.6.2012 und 23.7.2012
Strafuntersuchung auf dem Golfplatz verlangt
Laut Bundesgericht kann nicht ausgeschlossen werden, dass beim Fehlschuss eines Golfers an den Kopf eines Sportkollegen eine Straftat vorliegt. Der Ball hatte trotz dem Warnruf «Fore» einen Mann im Gesicht getroffen. Die Zürcher Staatsanwaltschaft See/Oberland nahm das Verfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen den Schützen, die Erbauerin sowie Betreiberin des Golfplatzes nicht an die Hand, weil sich beim Unfall lediglich das sportspezifische Risiko verwirklicht habe, dem sich jeder Golfspieler beim Betreten des Platzes bewusst aussetze. Laut Bundesgericht stellt sich indessen die Frage, ob auch abgeschlagen werden darf, wenn sich andere Spieler nahe am Ziel aufhalten. Ob auch solche Fälle vom golfimmanenten Risiko abgedeckt sind, steht nicht fest und ist in einer Strafuntersuchung zu klären.
1B_156/2012 vom 7.6.2012
Ausfälligkeiten ohne Bezug zu Tierschutz
Der radikale Tierschützer Erwin Kessler vom Verein gegen Tierfabriken hat mit seiner Botox-Hetzkampagne gegen «Tagesschau»-Sprecherin Katja Stauber deren Persönlichkeit verletzt. Laut Bundesgericht kann er seine Ausfälligkeiten wie die Frage «Wie hässlich ist die Botox-Moderatorin Stauber wirklich?» nicht mit dem Tierschutz rechtfertigen. Die Aussagen Kesslers treffen Stauber schwer in ihrer beruflichen Ehre und sozialen Geltung. Das öffentliche Interesse an einer sachlichen Diskussion über Tierschutz sei zwar anzuerkennen, Kesslers Anwürfe hatten aber nichts damit zu tun.
5A_888/2011 vom 20.6.2012
Geständnis ohne Anwalt nicht verwertbar
Die Luzerner Justiz darf sich nicht auf das Geständnis eines Mannes stützen, das er ohne anwaltlichen Beistand gegenüber der Polizei gemacht hat. Der Betroffene war von der Polizei einvernommen worden, ohne dass ihm der verlangte amtliche Verteidiger zur Seite gestellt wurde. Bei der Befragung gestand er ein Delikt ein und wurde verurteilt. Laut Bundesgericht ist damit sein Recht auf ein faires Verfahren gemäss EMRK verletzt worden. Von einem Verzicht auf Verteidigungsrechte könnte laut Gericht nur ausgegangen werden, wenn eine beschuldigte Person die polizeiliche Einvernahme trotz fehlendem Anwalt aus eigener Initiative weiterführt.
6B_725/2011 vom 26.6.2012
Inländerdiskriminierung bei Familiennachzug bleibt
Die Benachteiligung von Schweizer Bürgern beim Nachzug ausländischer Familienangehöriger gegenüber Bürgern der EU (Inländerdiskriminierung) bleibt zumindest vorerst bestehen. Die Richter in Lausanne hatten den Gesetzgeber in einem früheren Appellentscheid bereits angehalten, das Problem der Inländerdiskriminierung an die Hand zu nehmen. Im vergangenen Jahr lehnte das Parlament eine entsprechende Anpassung des Ausländergesetzes dann aber ausdrücklich ab.
Das Bundesgericht hat nun zumindest vorerst darauf verzichtet, selber Abhilfe zu schaffen. In einer hochstehenden Beratung der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung wurde unter anderem die Meinung vertreten, der Gesetzgeber könne die Ungleichbehandlung mit einem sachlichen Grund rechtfertigen. Dieser wurde in der Beschränkung der Zuwanderung gesehen, auch wenn dabei lediglich auf den Nachzug ausländischer Familienangehöriger durch Schweizer Bürger eingewirkt werden kann. Zwei Richter hätten kein Problem darin gesehen, das Parlament «auszuhebeln» und selber einzugreifen. Einig war sich die ganze Abteilung darin, dass die Situation an sich unhaltbar ist und das Problem vom Gesetzgeber rasch behoben werden sollte.
Öffentliche Beratung im Fall 2C_354/2011 vom 13.7.2012; schriftliche Begründung ausstehend
Atomkraftwerk Mühleberg unter Druck
Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) wird vom Bundesverwaltungsgericht angewiesen, das nach der Fukushima-Katastrophe eingereichte Gesuch um einen Entzug der Betriebsbewilligung für das AKW Mühleberg materiell zu prüfen. Laut Gericht hat gemäss Artikel 67 des Kernenergiegesetzes eine Überprüfung der Betriebsbewilligung zu erfolgen, wenn ein konkreter, hinreichend begründeter Verdacht besteht, dass ein Entziehungsgrund vorliegen könnte.
Die Betroffenen hätten ihr Gesuch eingehend begründet, ihre Rügen präzise belegt und glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen für einen Entzug der Bewilligung vorliegen könnten. Das Gesuch sei kurz nach den Ereignissen in Fukushima eingereicht worden und ein erhöhtes Interesse an einer Prüfung der Sicherheit sei nachvollziehbar. Soweit sich die aktuell geforderte Prüfung mit der Frage der Befristung der Betriebsbewilligung überschneidet (in diesem Verfahren sind noch Beschwerden vor Bundesgericht hängig), sind die beiden Verfahren zu koordinieren.
A-6030/2011 vom 30.7.2012
Sperre gegen ehemaliges RAF-Mitglied aufgehoben
Das Bundesverwaltungsgericht hat das 1988 verhängte Einreiseverbot gegen das frühere RAF-Führungsmitglied Christian Klar wegen Verfahrensmängeln aufgehoben. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) muss auf Basis der heutigen Situation über eine allfällige neue Sperre gegen den 60-jährigen Ex-Terroristen entscheiden. Der damals in Haft sitzende Klar war über die verhängte Einreisesperre weder informiert worden, noch erhielt er Gelegenheit zur Stellungnahme. Offiziell wurde ihm die Einreisesperre erst 2009 mitgeteilt, nachdem er ein Jahr zuvor bedingt entlassen worden war. Laut Gericht wurde das rechtliche Gehör von Klar verletzt.
Eine umfassende Neubeurteilung bezüglich Sperre dränge sich zudem wegen der veränderten Sach- und Rechtslage auf. Seit der letzten Straftat von Klar seien mehr als dreissig Jahre vergangen und aus dem Strafvollzug sei er entlassen worden, weil keine Gefahr mehr bestehe. Zudem könne er sich als EU-Staatsangehöriger auf das Freizügigkeitsabkommen berufen. Für ein neues Einreiseverbot müsste eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegen, general-präventive Motive reichen nicht aus.
C-5331/2009 vom 3.8.2012
pj
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
Das Arbeitsverbot für weggewiesene Ausländer (und damit ihre Nothilfeabhängigkeit) kann nach langer Dauer faktisch geduldeten Aufenthalts gegen Art. 8 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) verstossen.
2C_459/2011 vom 26.4.2012
Bei Google Street View müssen ausserhalb des Bereichs von sensiblen Einrichtungen die noch erkennbaren Gesichter und Fahrzeugkennzeichen, die der automatischen Verpixelung entgangen sind, erst auf Ersuchen der betroffenen Personen verwischt werden. Entsprechende Begehren hat Google kostenlos und unbürokratisch zu erledigen.
1C_230/2011 vom 31.5.2012
Der Freiburger Generalstaatsanwalt muss wegen Befangenheit im weiteren Verfahren gegen zwei Polizisten in den Ausstand treten, nachdem er sich bei der (vorschnellen) Einstellung der Strafuntersuchung von ihrer Unschuld absolut überzeugt gezeigt und auch im entsprechenden Verfahren vor Bundesgericht geäussert hat, dass er eine Verurteilung der Betroffenen für ausgeschlossen hält.
1B_263/2012 vom 8.6.2012
Für das Strassenbauprojekt Zürcher Oberlandautobahn hätte ein Gutachten der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission eingeholt werden müssen, da eine Bundesaufgabe vorliegt und ein Projekt aus dem Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung tangiert wird. Das Vorhaben ist auch materiell nicht mit den Anliegen des Moorschutzes vereinbar.
1C_71/2011 vom 12.6.2012
Bei der Beurteilung der lokalen Integration als Einbürgerungsvoraussetzung darf die Mitgliedschaft in Vereinen oder anderen Organisationen nicht zum ausschlaggebenden Merkmal erhoben werden.
1D_5/2011 vom 12.6.2012
Personen, deren Einbürgerungsgesuch abgewiesen wurde, können sich im Rahmen der subsidiären Verfassungsbeschwerde nach neuer Rechtsprechung auch auf Art. 8 Abs. 1 BV (allgemeines Rechtsgleichheitsgebot) und Art. 9 BV (Willkür) berufen. In diesem Rahmen kann geltend gemacht werden, dass «sämtliche bundes- und kantonalrechtlichen Einbürgerungsvoraussetzungen offensichtlich erfüllt seien, weshalb sich die Nichteinbürgerung als klarerweise unhaltbar und rechtsungleich erweise». Bisher konnte nur eine Verletzung des Diskriminierungsverbots oder mangelnde Begründung angeführt werden.
1D_6/2011 vom 12.6.2012
Der Kommandant der Aargauer Kantonspolizei muss der Staatsanwaltschaft die Namen der an einem Einsatz mit Schussabgabe beteiligten Polizisten bekannt geben. Gegenüber der Staatsanwaltschaft besteht kein Anspruch auf Wahrung der Anonymität im Sinne von Art. 149 StPO.
1B_205/2012 vom 18.6.2012
Beurteilt der Verkehrsexperte die Kontrollfahrt als nicht bestanden, darf er dem betroffenen Lenker den Führerausweis direkt nach der missglückten Fahrt vorsorglich entziehen. Die diesen Akt nachvollziehende Verfügung des Strassenverkehrsamts ist trotz fehlender Unterschrift des Experten gültig.
1C_522/2011 vom 20.6.2012
Bei Auflösung der Ehe mit einem Schweizer Partner vor Ablauf der Dreijahresfrist (Art. 50 und 51 AuG) wegen psychischer Gewalt muss für eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung die anhaltende erniedrigende Behandlung in der Ehe derart schwer wiegen, dass vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass die betroffene Person einzig aus bewilligungsrechtlichen Gründen die Ehe aufrechterhält. Ein berechtigter Grund für die Verlängerung der Bewilligung kann bei einer Frau vorliegen, die in einer traditionell islamisch geführten Ehe gegen ihren Willen dauernd in ein von ihr abgelehntes, erniedrigendes patriarchalisches Rollenverständnis als «Sklavin» gezwungen wurde.
2C_821/2011 vom 22.6.2012
Die kantonale Monopol-Gebäudeversicherung Glarnersach darf auch im privaten Versicherungsbereich tätig werden. Es liegt kein Verstoss gegen die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) vor. Die grundsätzliche Zulässigkeit unternehmerischer Tätigkeit des Staates entspricht gelebter Verfassungspraxis. Wettbewerbsneutralität muss gewährleistet sein, indem insbesondere keine Quersubventionierung des Wettbewerbsbereichs aus dem Monopolbereich erfolgt.
2C_485/2010 vom 3.7.2012
Der Tod des Schweizer Ehegatten stellt für eine ausländische Person in der Regel einen wichtigen persönlichen Grund dar (im Sinne von Art. 50 Abs. 1 Bst. b AuG), der unabhängig von der Ehedauer zum weiteren Aufenthalt in der Schweiz berechtigt.
2C_993/2011 vom 10.7.2012
Die bisherige Praxis zur Entschädigung der Anwaltskosten im Falle eines Freispruchs oder bei Verfahrenseinstellung (Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO, «angemessene Ausübung der Verfahrensrechte») wird beibehalten: Ab einer gewissen Schwere des Vorwurfs ist der Beizug eines Anwalts zuzubilligen; auch bei blossen Übertretungen muss die betroffene Person ihre Verteidigerkosten nicht generell selber übernehmen; bei Verbrechen oder Vergehen ist der Beizug eines Anwalts nur in Ausnahmefällen unangemessen; in einfachen Fällen wird sich der Aufwand des Anwalts auf ein Minimum beschränken müssen, allenfalls auf eine blosse Konsultation.
1B_704/2011 vom 11.7.2012
Die SBB sind bei der Zulassung der Nutzung von Bahnhofsgelände an die Grundrechte gebunden. Das generelle Verbot von Werbung oder Botschaften zu (aussen-)politisch brisanten Themen (hier israelkritisches Plakat) trägt der ideellen Funktion der Meinungsäusserungsfreiheit keine Rechnung und kommt verbotener Zensur gleich.
2C_415/2011 vom 13.7.2012
Zivilrecht
Eine Regelung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach bei einer Taggeldversicherung bei psychischen Krankheiten eine Leistungsreduktion erfolgt, gilt als objektiv ungewöhnlich und ist ungültig. Auch (Zahn-)Ärzte müssen mit einer solchen Klausel nicht rechnen, da sie im Bereich der Taggeldversicherung nicht als besonders geschäftserfahren gelten können.
4A_24/2012 vom 30.5.2012
Dass ein Konkursverfahren infolge «einfacher Verhältnisse» summarisch durchgeführt wird, schliesst nicht aus, dass gemäss Art. 47 GebV SchKG Gebühren für ein «anspruchsvolles» Verfahren erhoben werden. Ein Verfahren ist anspruchsvoll, wenn sich besondere Sachverhalts- oder Rechtsfragen stellen, nicht aber wenn es lediglich einen erhöhten Zeitaufwand verursacht.
5A_741/2011 vom 13.6.2012
Bei versäumter Frist zur Stellungnahme zum Rechtsöffnungsgesuch muss keine Nachfrist angesetzt werden (Art. 223 ZPO, kurze Nachfrist bei versäumter Klageantwort).
5A_209/2012 vom 28.6.2012
Die Frist, innerhalb derer die gesetzlichen Erben ein öffentliches Inventar verlangen können (Art. 580 ZGB), beginnt mit dem Tod des Erblassers und nicht mit dem Bekanntwerden seiner letztwilligen Verfügung.
5A_184/2012 vom 6.7.2012
Strafrecht
Wegen Urkundenfälschung (Art. 251 StGB) kann auch der Dritte belangt werden, der im Einvernehmen mit dem buchführungspflichtigen Rechnungsempfänger eine inhaltlich falsche Rechnung anfertigt, um die Buchhaltung zu fälschen.
6B_571/2011 vom 24.5.2012
Der Offizialverteidiger ist auszuwechseln, wenn er gegenüber dem Gericht zum Ausdruck bringt oder auch bloss andeutet, dass er seinen nicht geständigen Mandanten für schuldig hält.
6B_770/2011 vom 12.7.2012
Sozialversicherungsrecht
Die Ergänzungsleistungen an Behinderte zur Finanzierung von Betreuung und Pflege zu Hause dürfen von den Kantonen limitiert werden. Es liegt keine Verletzung von Art. 8 BV oder Art. 13 und 14 EMRK vor.
9C_881/2011 vom 27.6.2012
Kantonale Gerichte haben auf ein Revisionsgesuch auch dann einzutreten, wenn gegen den zu revidierenden Entscheid vor Bundesgericht eine Beschwerde hängig ist. Die betroffene Partei hat bei Einreichung des Revisionsgesuchs das Bundesgericht um Sistierung des Verfahrens zu ersuchen.
8C_45/2012 vom 11.7.2012
pj
Strassburg aktuell
Auch Grosse Kammer akzeptiert Plakatverbot in Neuenburg
Der Gerichtshof hat das Vorgehen der Neuenburger Stadtbehörden endgültig akzeptiert, welche der Organisation «Mouvement raëlien» 2001 den öffentlichen Aushang eines Plakats verweigert hatte, weil es einen Hinweis auf dessen problematische Website enthielt. Die 1. EGMR-Kammer hatte am 13. Januar 2011 eine Missachtung der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) verneint (vgl. plädoyer 2/2011, S. 62 f.). Dies tut nun auch die Grosse Kammer - wenn auch mit einem knappen Stimmverhältnis von 9 zu 8.
In der Schweiz hatten drei Verwaltungsbehörden und zwei Gerichte das Plakatverbot nach gründlicher Prüfung übereinstimmend als rechtmässig eingestuft. Die EGMR-Mehrheit sah keinen Anlass, von deren Beurteilung abzuweichen. Bei der Nutzung des öffentlichen Grundes für die Plakatierung habe der Staat einen weiten Beurteilungsspielraum. Zwar vermöge nicht jeder von den schweizerischen Behörden angeführten Gründe für sich ein Verbot zu rechtfertigen. Gesamthaft gesehen könne das Verbot aber als notwendig eingestuft werden. Dessen Umfang war nicht exzessiv, zumal die Raëlisten ihre Ansichten auch anderswie äussern konnten und nie beabsichtigt war, die Vereinigung oder ihre Website zu verbieten.
Urteil der Grossen Kammer N° 16354/06 «Mouvement raëlien suisse c. Schweiz» vom 13.7.2012
TV-Interview in Strafanstalt: Der SRG zu Unrecht verweigert
Mit 5 gegen 2 Stimmen hat die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) beim EGMR ihren langjährigen Kampf für Filmaufnahmen in der Strafanstalt Hindelbank gewonnen. 2004 sollte ein Interview mit der wegen Mordes verurteilten Damaris Keller in der Sendung «Rundschau» ausgestrahlt werden, weil damals ein Strafprozess gegen einen weiteren Tatverdächtigen bevorstand. Die Anstaltsleitung verweigerte die Drehgenehmigung, was das bernische Verwaltungsgericht akzeptierte: Filmaufnahmen würden wegen des damit verbundenen Organisations- und Kontrollaufwandes das tolerierbare Ausmass sprengen. Das Bundesgericht entschied anschliessend, die SRG könne aus der Informationsfreiheit (Art. 16 Abs. 3 BV) keinen Anspruch auf Filmaufnahmen in einer Anstalt ableiten (Urteil 1P.772/2005 vom 6. Februar 2006; vgl. plädoyer 2/2006, S. 74).
Die Mehrheit der 5. EGMR-Kammer kritisierte die summarische Begründung der schweizerischen Justiz, die auf eine eigentliche Güterabwägung verzichtet hatte. An der Ausstrahlung des Interviews bestehe in diesem vielbeachteten Straffall ein erhebliches Interesse der Öffentlichkeit. Die SRG habe zwar aufgezeigt, mit welchen Massnahmen sich der Kontrollaufwand reduzieren lasse, doch ihre Argumente seien nicht geprüft worden. Dem Schutz von Damaris Keller vermöge das Verbot auch nicht zu dienen, denn diese habe dem TV-Interview zugestimmt. Die Mehrheit verwarf überdies den Einwand, für eine Sachinformation des Publikums seien Filmaufnahmen gar nicht nötig gewesen. Nach ständiger EGMR-Praxis sei es nicht Sache der Justiz, anstelle der Medien über die geeignete Berichterstattungstechnik zu befinden. Ein in der Sendung «Schweiz aktuell» ausgestrahltes Telefoninterview könne nicht die gleiche Wirkung erzielen und sei daher kein ausreichender Ersatz für die verweigerte Dreherlaubnis.
Die überstimmten Richterinnen (Angelika Nussberger und die Schweizerin Helen Keller) argumentierten hingegen, die Ausstrahlung bewegter Bilder einer verurteilten Mörderin habe für die öffentliche Debatte keinen grossen Mehrwert. Das Ansinnen habe eher dazu gedient, einen gewissen Voyeurismus zu befriedigen. Das Verbot von TV-Aufnahmen in der Strafanstalt liege auf einer Linie mit dem Verbot von Bildaufnahmen von Hauptverhandlungen im Gerichtssaal. Entgegen der Mehrheitsauffassung sei es für die Güterabwägung zudem unerheblich, ob es sich bei der «Rundschau» um ein seriöses Sendegefäss handle.
Urteil der 5. Kammer N° 34124/06 «SRG c. Schweiz» vom 21.6.2012
Luzerner Anwalt: Kein Erfolg bei zweitem Gang nach Strassburg
Bereits an der Zulässigkeitshürde gescheitert ist die Beschwerde eines luzernischen Anwalts gegen die Behandlung seines 2006 beim Bundesgericht eingereichten Revisionsgesuchs. Der Konflikt begann schon in den 1990er-Jahren, als der Anwalt disziplinarisch gebüsst worden war. Der Gerichtshof bejahte am 15. Dezember 2005 eine Missachtung des in Art. 6 EMRK garantierten Rechts auf ein öffentliches Verfahren (vgl. plädoyer 1/2006, S. 74).
Gestützt auf das EGMR-Urteil verlangte der Anwalt die Aufhebung der von der kantonalen Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte ausgefällten Busse, was das Bundesgericht am 25. April 2007 ablehnte (Urteil 2A_318/2006). Es gebe keinen Anlass, das ursprüngliche Urteil wegen der fehlenden öffentlichen mündlichen Verhandlung revisionsweise aufzuheben: Der konventionskonforme Zustand sei bereits dadurch erreicht, dass der Gerichtshof 2005 eine Verletzung der EMRK festgestellt hatte. Mehr sei in diesem Fall nicht nötig. Auch gegen den zweiten Bundesgerichtsentscheid wehrte sich der Anwalt in Strassburg - diesmal aber vergeblich: Seine Beschwerde betrachtet der Gerichtshof aus formalen Gründen einstimmig als unzulässig. Die korrekte Umsetzung der EGMR-Urteile habe das Ministerkomitee des Europarats zu überwachen und nicht der Gerichtshof selber.
Zulässigkeitsentscheid der 5. Kammer N° 48111/07«Hurter c. Schweiz» vom 15.5.2012
Auswahl aus weiteren aktuellen EGMR-Urteilen
Unzureichende behördliche Massnahmen zum Schutz eines geistig und körperlich Behinderten vor ständigen gewalttätigen Belästigungen und Misshandlungen durch Schüler einer benachbarten Primarschule missachten Art. 3 EMRK.
Urteil der 1. Kammer N° 41526/10 vom 24.7.2012
Für Medienschaffende ist das Recht auf Zugang zu behördlichen Informationen ein zivilrechtlicher Anspruch im Sinne von Art. 6 EMRK. Deshalb sind bei Streitigkeiten die entsprechenden Verfahrensgarantien zu respektieren.
Urteil der 5. Kammer N° 45835/05 «Shapovalov c. Ukraine» vom 31.7.2012
Die konventionswidrige Weigerung der deutschen Gerichte, die Beschwerde eines Witwers materiell zu prüfen, der sich für die Erlaubnis zum Erwerb eines tödlichen Medikaments zwecks Selbsttötung seiner gelähmten Gattin gewehrt hatte. Dieser Entscheid missachtet die sich aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) ergebenden Verfahrensrechte.
Urteil der 5. Kammer N° 497/09 «Koch c. Deutschland» vom 19.7.2012
Das Betätigungsverbot für einen Verein, welcher sich mit der Forderung nach gewaltsamer Zerstörung Israels gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, ist konventionskonform.
Zulässigkeitsentscheid der 5. Kammer N° 31098/08 «Hizb Ut-Tahrir c. Deutschland» vom 12.6.2012
fz
Luxemburg aktuell
Rückzug des Asylgesuchs kann «Dublin» aushebeln
Falls eine asylsuchende Person ihr in einem Zweitstaat gestelltes Asylgesuch zurückzieht, ist der Dublin-Mechanismus unter bestimmten Voraussetzungen nicht anwendbar und der Zweitstaat muss materiell über den Status der Person entscheiden. Da die Schweiz durch das Dublin-Assoziierungsabkommen verpflichtet ist, die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen, kann der Rückzug eines Asylgesuchs auch für hier Asylsuchende prüfenswert sein.
EuGH Urteil der Dritten Kammer N° Rs. C-260/10 (Kastrati) vom 3.5.2012
Keine Überstellungen nach Griechenland
Nach dem EGMR-Urteil N° 30696/09 «M.S.S. c. Belgien und Griechenland» vom 21. Januar 2011 hat auch der EuGH erkannt, dass Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung in EU-Mitgliedstaaten ohne funktionierendes Asylsystem Grundrechte verletzen können. Das Bundesamt für Migration verzichtet seit Januar 2011 mehrheitlich auf Dublin-Überstellungen nach Griechenland; eine Praxisänderung, die vom BVGer bestätigt wurde (Urteil D-2076/2010 vom 16. August 2011). Indem die Schweiz durch das Dublin-Assoziierungsabkommen verpflichtet ist, die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen, ist eine sich verschlechternde Betreuungssituation von Asylsuchenden in EU-Staaten auch für die schweizerische Asylpraxis bedeutsam.
EuGH Urteil der Grossen Kammer N° C-411/10 und C-493/10 vom 21.12.2011
Europas Haftstandards gelten auch für die Schweiz
Nationale Strafvorschriften, die einzig wegen illegalen Aufenthalts verhängt werden,