Kindesschutz
Eltern dürfen über Arztbehandlung entscheiden
Die Kesb darf gegen den Willen der Eltern keine MRI-Untersuchung eines Kindes anordnen, solange es in ärztlicher Behandlung steht und sich auch die Eltern fürsorglich um das Kind kümmern.
Sachverhalt
Ein fünfjähriges Mädchen aus dem Kanton St. Gallen litt an vorzeitiger Pubertät. Die Ärzte rieten zu einem Magnetresonanzuntersuch (MRI), um einen Hirntumor auszuschliessen. Die Gefahr eines Hirntumors liege bei 15 bis 25 Prozent. Die Eltern weigerten sich. Die Kindesschutzbehörde ordnete ein MRI an. Auf Beschwerde der Eltern hin hob das Kantonsgericht St. Gallen den Entscheid auf.
Aus den Erwägungen
2. Die Vorinstanz hielt auf Beschwerde der Eltern hin fest, die Ursache der bei C. ärztlich festgestellten Pubertas praecox läge bei einer Wahrscheinlichkeit von ca. 25 Prozent bei einem Hirntumor. Bei einer Interessenabwägung zwischen den Folgen des Eingriffs der Zwangsmassnahme auf das Familienleben sowie das psychische Befinden von C. und der durch einen unbemerkt gebliebenen Hirntumor beziehungsweise durch eine ungeeignete Behandlung verursachten Kindswohlgefährdung würden die Vorteile eines MRI klar überwiegen. Die Anordnung eines MRI sei somit medizinisch indiziert und die angefochtene Verfügung verhältnismässig.
4. a) Gemäss Art. 302 Abs. 1 ZGB haben die Eltern das Kind ihren Verhältnissen entsprechend zu erziehen und seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung zu fördern und zu schützen. Zum körperlichen Wohl des Kindes gehört die allgemeine körperliche Pflege, die Gesundheitspflege, worunter auch Entscheidungen über ärztliche Eingriffe fallen, die Ernährung und Bekleidung sowie das Heranführen des Kindes an die selbständige Wahrnehmung dieser Aufgaben (BSK ZGB I Schwenzer / Cottier, 7. Aufl., Art. 302 N 8). Leitschnur und zugleich Grenze für das Handeln der Eltern bildet das Kindeswohl. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff entzieht sich einer Definition (Kuko ZGB-Cottier, 2. Aufl., Art. 307, N 2; Hauri / Jud / Lätsch / Rosch, Abklärungen im Kindesschutz, 2021, S. 5).
b) Grundsätzlich ist die Entscheidungsbefugnis der Eltern zu schützen. Jeder staatliche Eingriff hat die Voraussetzungen von Art. 36 BV (gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit) zu erfüllen (Pfister Piller, a.a.O., N 3.7). Eine Kindeswohlgefährdung wird bejaht, wenn Eltern auf eine Erkrankung nicht adäquat reagieren können (Michel / Rutishauser, Kinder und Jugendliche als Patientinnen und Patienten – Ein Beitrag aus rechtlicher und medizin-ethischer Sicht, in: FamPra.ch 2016, a.a.O., S. 22).
Die Bindung des Vertretungsrechts an das Kindeswohl verpflichtet die Eltern, in eine lebensnotwendige Behandlung einzuwilligen (Michel / Rutishauser, a.a.O., S. 21; Pfister Piller, a.a.O., N 2.68). Zu berücksichtigen ist weiter, dass sich allein nach Massgabe der privaten Situation des Kindes bestimmt, ob das Wohl des Kindes im privatrechtlichen Sinn von Art. 307 Abs. 1 ZGB gefährdet ist (BGer 5A_789/2019, E. 6.2.4). Ans Kindeswohl haben sich sodann auch alle staatlichen Institutionen zu halten.
Die Kesb und die Vorinstanz sind der Meinung, die Diagnosestellung sei mit der Durchführung einer MRI-Untersuchung und der Klarheit über die Frage, ob ein Hirntumor für die Pubertas praecox ursächlich sei, abgeschlossen. Währenddessen vertreten die Beschwerdeführer die Ansicht, die Diagnosestellung sei abgeschlossen, weil der von ihnen veranlasste Bluttest zeige, dass kein Hirntumor vorliege.
Zu diesem Argument der Eltern lässt sich sagen, dass sich diese Methode noch nicht durchgesetzt hat. Dr. med. O. erklärt in ihrem Gutachten, dass sich Hirntumore nicht ausschliesslich durch einen Bluttest nachweisen oder ausschliessen liessen. Ausserdem habe sich bislang noch kein Bluttest als Ersatz für ein Schädel-MRI bei Kindern bewährt.
cc) Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tumor für die Pubertas praecox ursächlich ist, bezifferte Dr. med. J. mit 10–15 Prozent, gemäss Dr. med. O. liege die Wahrscheinlichkeit bei rund 25 Prozent. Meist sei die Pubertas praecox jedoch idiopathisch, d. h., es fände sich keine Ursache. Gemäss Auskünften von Dr. med. K. und Dr. med. J. seien bei C. keine neurologischen Symptome vorhanden, die auf das Vorhandensein eines Hirntumors deuteten. Die Beschwerdeführer bringen ebenfalls vor, es lägen neben der Pubertas praecox keine weiteren Symptome vor.
Bis auf die Diagnose der Pubertas praecox bestehen demnach bei C. keine Hinweise auf einen Hirntumor, und es geht ihr gut. Zu beachten ist indessen, dass ein Hirntumor bei Kindern sehr langsam wachsen kann. Es wäre daher möglich, dass sich der Tumor noch nicht weiter bemerkbar gemacht hat. Diesbezüglich ist allerdings zu beachten, dass sich C. bei Dr. med. K. und Dr. med. N. in ärztlicher Behandlung befindet. Beide haben eine medizinische Ausbildung, und es kann davon ausgegangen werden, dass sie eingehende Fachkenntnisse besitzen und bei Vorliegen weiterer Symptome entsprechende Untersuchungen veranlassen bzw. solche empfehlen würden.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Eltern sich fürsorglich und verantwortungsvoll um C. kümmern. Die Beschwerdeführer haben sich in der Folge selbst eingehend über diese Krankheit informiert, einen Bluttest sowie diverse andere medizinische Behandlungen für C. organisiert. All dies lässt darauf schliessen, dass die Beschwerdeführer, gegebenenfalls auch auf Anraten von Dr. med. K. oder Dr. med. N., weitere Untersuchungen und Behandlungen veranlassen, wenn C. weitere Symptome zeigen oder sich ihr Gesundheitszustand verschlechtern würde. Vorliegend verhält es sich gerade nicht so, dass die Beschwerdeführer die Behandlung von C. gänzlich verweigern. Sie sind lediglich der Ansicht, eine andere Behandlung sei (derzeit) die Methode ihrer Wahl.
dd) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Ablehnung der MRI-Untersuchung durch die Beschwerdeführer keine Kindswohlgefährdung darstellt, die deren zwangsweise Durchsetzung rechtfertigen würde.
Kantonsgericht St. Gallen, Entscheid KES.2023.34 vom 28.5.2024
Sachenrecht
Kryptowährungen wie Bitcoin sind keine Sachen
Bitcoins haben keinen Sachcharakter. Deshalb können sie nicht mit sachenrechtlichen Klagen zurückgefordert werden. Zudem können sich Spieler in Internetcasinos nicht auf die Widerrechtlichkeit ausländischer Internetcasinos berufen, weil sie mit ihrer Teilnahme am Glücksspiel in die Widerrechtlichkeit eingewilligt haben.
Sachverhalt
Der Kläger hat Bitcoins an die Beschwerdegegnerin überwiesen, um auf ihrer Internetseite an Spielen teilzunehmen, bei welchen jeweils ein durch Zufallsgenerator ausgewählter Spieler einen Gewinn erzielen kann. Der Beschwerdeführer verlor seinen gesamten Einsatz von 0,25 Bitcoins. Nun fordert er diesen zurück. Bei Einreichung der Klage waren die 0,25 Bitcoins rund 10 000 Franken wert. Das Zivilgericht wies die Klage ab mit dem Argument, es fehle an der Widerrechtlichkeit der geltend gemachten unerlaubten Handlung. Es sei bekannt, dass bei Glücksspielen meist die Bank gewinne. Das Kantonsgericht Baselland bestätigte den Entscheid.
Aus den Erwägungen
4.2.2 Der Beschwerdeführer rügt in seiner Beschwerde, dass die Vorinstanz Bitcoins zu Unrecht nicht als Sache eingestuft habe und demzufolge für die ausservertragliche Haftung eine Schutznorm verlange, was eine unrichtige Rechtsanwendung darstelle. Dies im Wesentlichen mit der Begründung (unter Verweis auf diverse Lehrmeinungen), dass (1) Bitcoins in funktionaler Hinsicht als Sache im Sinne von Art. 641 ZGB zu betrachten seien; (2) Bitcoins gestützt auf Art. 242 SchKG in einem Konkurs aussonderbar seien; (3) Bitcoins bei der Gründung von Gesellschaften als Sacheinlagen akzeptiert würden und (4) diverse Autoren sich auf den Standpunkt stellten, dass Bitcoins analog zu Sachen zu behandeln seien.
In der Klage hat der Beschwerdeführer die Qualität von Bitcoins als Sachen nicht thematisiert. An der Hauptverhandlung hat er geltend gemacht, dass das Eigentum an den Bitcoins nicht auf die Beschwerdegegnerin übergegangen sei und ihm daher ein Herausgabeanspruch zustehe, womit er implizit vorgebracht hat, dass es sich bei Bitcoins um Sachen handle.
4.2.3 Die Beschwerdegegnerin folgt in ihrer Beschwerdeantwort der Vorinstanz dahingehend, dass Bitcoins zu Recht nicht als Sache qualifiziert worden seien. Mit Verweis auf eine Vielzahl von Literatur hält sie fest, dass diese Auffassung der herrschenden Lehre, der Einordnung des Gesetzgebers bzw. der Bundesverwaltung sowie der Praxis der Finma entspreche.
4.2.6 Bitcoin zählt zu den sogenannten Kryptowährungen. Bitcoin kann als eine Art von digitalem Bargeld betrachtet werden, das elektronische Zahlungen zwischen zwei Parteien ermöglicht, ohne dass hierfür eine kontoführende Drittpartei notwendig ist (Bericht des Bundesrats vom 14. Dezember 2018, a.a.O., S. 18). Für eine Bitcoin-Transaktion wird einerseits ein privater Schlüssel benötigt und überdies ein aus der Zieladresse abgeleiteter öffentlicher Schlüssel. Es findet kein Austausch oder eine Übergabe von Daten oder Gegenständen statt. Vielmehr wird eine neue Signatur generiert, die einer bestehenden Kette von vergangenen Signaturen der Blockchain (Blockkette) hinzugefügt wird (Seiler / Seiler, a.a.O., S. 153).
Bei einer Blockchain handelt es sich um eine kontinuierlich erweiterbare Liste von Datensätzen. Diese als Blöcke bezeichneten Datensätze sind mittels kryptografischer Verfahren miteinander verkettet (Seiler / Seiler, a.a.O., S. 151). Bitcoins fallen auch unter den Begriff des Token, und zwar in die Kategorie jener, welche einen Wert innerhalb des Blockchain-Kontexts darstellen (Bericht Bundesrat vom 14. Dezember 2018, a.a.O., S. 9). Ob Bitcoins zivilrechtlich als Sache zu qualifizieren sind respektive ob sie Gegenstand des Fahrniseigentums im Sinne von Art. 713 ZGB bilden, wird in der Lehre kontrovers diskutiert.
4.2.9 Eine Gegenüberstellung der hinsichtlich der Qualifikation von Bitcoins als Sache vertretenen Lehrmeinungen ergibt, dass insbesondere betreffend die Voraussetzung der Körperlichkeit Differenzen bestehen. Zusammenfassend werden die Ansichten vertreten, dass (1) Bitcoins die Voraussetzung der Körperlichkeit ohne weiteres erfüllten und somit als Sache zu qualifizieren seien; (2) von einer strikten Anwendung der Voraussetzung der Körperlichkeit abzusehen und Bitcoins mittels einer funktionalen, dynamischen Auslegung unter den Sachbegriff des ZGB zu subsumieren seien sowie (3) die Voraussetzung der Körperlichkeit ein zentrales Sachmerkmal sei, welches den unkörperlichen Bitcoins nicht zukomme.
4.2.11 Im Gesetzeswortlaut von Art. 713 ZGB wird der Gegenstand von Fahrniseigentum mit «ihrer Natur nach beweglichen körperlichen Sachen» umschrieben. Dieser Wortlaut, welcher sich explizit auf die Körperlichkeit bezieht, bildet im Rahmen der Auslegung Ausgangspunkt. Bereits aus diesem Grund rechtfertigt es sich, an der Körperlichkeit als Sachmerkmal festzuhalten. Es ist zutreffend, dass entsprechend dem Wortlaut von Art. 713 ZGB die Naturkräfte – trotz fehlender Körperlichkeit – als Gegenstand des Fahrniseigentums qualifiziert werden.
Soweit in der Lehre indes argumentiert wird, dass dies in Analogie zu den Naturkräften auch für Bitcoins zu gelten habe, erscheint dies für das Kantonsgericht nicht überzeugend, zumal die unkörperlichen Naturkräfte aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage – im Sinne einer Ausnahme – Gegenstand des Fahrniseigentums bilden und eine solche für die Bitcoins gerade nicht besteht. Das Kantonsgericht vertritt zudem die Ansicht, dass an der Voraussetzung der Körperlichkeit auch bei Verneinung eines klaren Gesetzeswortlauts durch historische, systematische und teleologische Gesetzesauslegung festzuhalten wäre.
Die Qualifikation von Bitcoins als Sache hätte zur Folge, dass eine Eigentumsklage nach Art. 641 Abs. 2 ZGB offenstünde. Zu Recht wird in der Lehre argumentiert, dass eine eigentliche Herausgabe der Bitcoins nicht möglich ist. Dies zumal eine erfolgte Transaktion zu einer Verlängerung der Blockchain führt, welche nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. An dieser Tatsache vermag auch die Rückgabe des privaten Schlüssels nichts zu ändern. Somit ist die Rechtsfolge der Eigentumsklage (zur Herausgabe als Rechtsfolge der Eigentumsklage vgl. BSK ZGB II-Wolf / Wiegand, 7. Aufl., 2023, Art. 641, N 52) per se ausgeschlossen.
Zumal es sich bei der Rechtsfolge der Eigentumsklage um einen dinglichen Anspruch handelt, erscheint es nicht sachlogisch, wenn diese zufolge Bejahung der Sachqualität zwar offenstünde, die Rechtsfolge aber – sofern die Rückgabe des Schlüssels (technisch) nicht möglich ist – in einem obligatorischen Schadenersatzanspruch (Art. 41 OR) oder Ersatzanspruch (Art. 62 ff. OR) bestünde.
Die Eigentumsklage ist ferner aus einem weiteren Grund nicht auf Bitcoins anwendbar. Voraussetzung der Eigentumsklage bildet die Passivlegitimation. Passivlegitimiert ist der mittelbare oder unmittelbare Besitzer einer Sache (BSK ZGB II-Wolf / Wiegand, 7. Aufl., 2023, Art. 641, N 46 und 47). Zumal bei einer Bitcoin-Transaktion kein Austausch oder eine Übergabe von Daten oder Gegenständen stattfindet, sondern lediglich eine neue Signatur generiert wird, welche einer bestehenden Kette von vergangenen Signaturen der Blockchain hinzugefügt wird, führt die Eruierung des Besitzers – und damit des Passivlegitimierten – zu unüberwindbaren Schwierigkeiten. Das Kantonsgericht pflichtet in dieser Hinsicht der von Bettina Hürlimann-Kaup vertretenen Auffassung bei, dass bei Bitcoins mangels Körperlichkeit kaum von Besitz gesprochen werden kann.
4.2.14 Gestützt auf die vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die Vorinstanz kein Recht verletzt hat, indem sie den Bitcoins die Sachqualität abgesprochen und für die Widerrechtlichkeit die Verletzung einer Schutznorm vorausgesetzt hat.
4.2.21 Bei der Teilnahme an Glücksspielen besteht immer ein Verlustrisiko hinsichtlich des Einsatzes. Dies gilt unabhängig davon, ob ein Angebot legal oder illegal, durch einen konzessionierten oder nicht konzessionierten Anbieter erfolgt. Der Glücksspielteilnehmer setzt sich diesem Risiko bewusst aus. Dies im Wissen darum, dass die Chance auf einen Gewinn nur besteht, wenn er sich dem Risiko des Verlusts aussetzt. Vorliegend hat der Beschwerdeführer bei der Beschwerdegegnerin einen Account erstellt, die Bitcoins hochgeladen bzw. der Beschwerdegegnerin überwiesen und daraufhin mit seinem Einsatz auf der durch die Beschwerdegegnerin betriebenen Website gespielt.
Darin ist eine Einwilligung in den Verlust seiner Einsätze zu erblicken, zumal er auf eigene Gefahr gehandelt hat und sich bewusst dem Risiko ausgesetzt hat, dass er seine Bitcoin-Einsätze verliert. Dies gilt insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer gemäss eigenen Angaben nota bene 21 Bitcoin-Transaktionen getätigt und gewusst hat, dass der Gewinner durch einen Zufallsgenerator ausgewählt wird.
6. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die vorliegende Beschwerde – wenn auf sie eingetreten werden könnte – zunächst mangels Widerrechtlichkeit im Sinne von Art. 41 Abs. 1 OR abzuweisen wäre. Die Voraussetzung der Widerrechtlichkeit scheitert (1) an der Einwilligung des Beschwerdeführers durch seine Teilnahme an Glücksspielen auf eigene Gefahr sowie (2) am Fehlen einer Schutznorm, welche infolge der Ablehnung der Sachqualifikation von Bitcoins entsprechend der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie erforderlich wäre. Im Übrigen würde es an der im Rahmen von Art. 41 Abs. 1 OR erforderlichen adäquaten Kausalität fehlen.
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Entscheid 410 23 319 vom 16.4.2024
Arbeitsrecht
Covid: Ungeimpfte durfte fristlos entlassen werden
Ein Betrieb des Zürcher Gesundheitswesens durfte eine von Covid genesene, aber ungeimpfte Frau fristlos entlassen, weil sie sich weigerte, an regelmässigen Spucktests mitzumachen.
Sachverhalt
Eine Betreuerin arbeitete vier Jahre lang in einer sozialen Einrichtung in Bülach ZH. Während der Corona-Pandemie forderte der Betrieb von der ungeimpften Frau regelmässige Spucktests. Dies verlange die kantonale Covid-Verordnung für den Gesundheitsbereich. Die 45-Jährige weigerte sich. Als von Covid Genesene sei sie nicht ansteckender als eine geimpfte Person. Die Testpflicht des Betriebs verstosse gegen das Diskriminierungsverbot. Der Arbeitgeber ermahnte die Frau zuerst zweimal und entliess sie dann fristlos. Das Bezirksgericht Bülach und das Obergericht Zürich beurteilten die fristlose Entlassung als gerechtfertigt.
Aus den Erwägungen
II/4. Im Berufungsverfahren werden neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie – kumulativ – ohne Verzug vorgebracht werden (Art. 317 Abs. 1 lit. a ZPO) und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten (Art. 317 Abs. 1 lit. b ZPO).
5. Die Klägerin reicht mit ihrer Berufung neue Beilagen ein und stellt neue Behauptungen auf.
Das Bundesgericht hat in einem neueren Entscheid klargestellt, dass nicht jede im Internet verfügbare Information offenkundig sei. Als offenkundig könnten vielmehr nur Informationen gelten, welchen aufgrund des Umstandes, dass sie leicht zugänglich seien und aus verlässlichen Quellen stammten, ein offizieller Anstrich anhafte (BGer 5A_1048/2019 vom 30. Juni 2021, E. 3.6.6 m. H. auf BGE 138 I 1 und BGE 143 IV 380).
Screenshots eines NZZ-Artikels und einer Unterzeichnerliste kommen diese Eigenschaften nicht zu, womit sie keine allgemein bekannten Tatsachen im Sinne von Art. 151 ZPO sein können. Ebenso wenig handelt es sich um gerichtsnotorische Tatsachen. Bei den neu eingereichten Beilagen und den damit zusammenhängenden Behauptungen handelt es sich somit um unzulässige Noven, die nicht zu berücksichtigen sind.
III/1.4 Auf die vorinstanzlichen Ausführungen zur Verpflichtung der Arbeitnehmerin, Weisungen zu befolgen, kann vollumfänglich verwiesen werden. Damit gilt, dass Weisungen des Arbeitgebers, die rechtmässig sind und einen ausreichend wichtigen Gegenstand betreffen, von der Arbeitnehmerin zu befolgen sind. Eine Missachtung von Weisungen (Art. 321d OR) stellt eine Verfehlung dar, die einen wichtigen Grund für eine fristlose Entlassung darstellen kann (vgl. BGer 4C.357/2002 vom 4. April 2003, E. 4.1).
1.5 Den vorinstanzlichen Erwägungen sowie den Erwägungen des Bundesgerichts zur Rechtmässigkeit der Verordnung Covid-19 Gesundheitsbereich/ZH ist vollumfänglich beizupflichten. Damit bleibt es bei der Schlussfolgerung der Vorinstanz, dass die Weisungen des Beklagten zur Teilnahme an repetitiven Tests auf einer rechtmässigen Grundlage beruhten und die Weigerung der Klägerin eine schwerwiegende Pflichtverletzung darstellte.
3.4 Die Klägerin dringt mit keiner ihrer Rügen durch. Es bleibt damit bei der vorinstanzlich festgestellten objektiven Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.
Obergericht Zürich, Urteil LA230021 vom 11.4.2024
Kommentar:
Im Gegensatz zur Erwägung 5 hielt das Obergericht Zürich im Entscheid KD210001 vom 25. März 2021 in Erwägung 3.4 fest, dass es sich bei einer in einer Sendung von «Tele Züri» vorkommenden Person (der Name des Senders wurde im Entscheid anonymisiert!) um eine allgemein bekannte Person handle. «Sie ist damit notorisch», so das Obergericht. Für Zürcher Oberrichter ist somit der Inhalt der Berichterstattung von «Tele Züri» notorisch, während die Berichterstattung der NZZ nicht notorisch ist. Immerhin ist die NZZ eine von zwei Zürcher Tageszeitungen und wird zu den Leitmedien der Schweiz gezählt, während «Tele Züri» bekannt ist für eine – in den Worten des Obergerichts – «süffige Wortwahl».
Dem klaren Wortlaut der Erwägung ist zu entnehmen, dass das Bundesgericht für Informationen aus dem Internet einzig voraussetzt, dass sie leicht zugänglich sind sowie aus verlässlicher Quelle stammen. Das Anhaften eines offiziellen Anstrichs ist daher keine Voraussetzung offenkundiger Informationen, sondern vielmehr die Folge davon, dass die beiden Voraussetzungen erfüllt sind. Der streitgegenständliche Artikel wurde in der NZZ publiziert. Autor war Andreas Kley, ordentlicher Professor an der Universität Zürich für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie.
Im Artikel äusserte er sich zur Verfassungskonformität des Covid-19-Gesetzes und somit zu seinen Fachgebieten. Sowohl die NZZ als auch Andreas Kley sind verlässliche Quellen. Der im Verfahren zitierte Artikel wurde im Internet veröffentlicht und kann mit einer Internetsuche sofort gefunden werden. Er ist somit leicht zugänglich. Entsprechend haben die darin enthaltenen Informationen nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung als offenkundig zu gelten.
Bei der Feststellung, in der NZZ publizierte Informationen seien nicht offenkundig, handelt es sich um einen Fehlentscheid des Obergerichts.
Zumindest für die Gerichte des Kantons Zürich haben in der NZZ publizierte Beiträge als offenkundig zu gelten – umso eher, wenn Sendungen von «Tele Züri» als notorisch beurteilt werden. Auf jeden Fall wäre im Sinne der Rechtssicherheit mindestens zu fordern, dass das Obergericht bei solch offensichtlichen Widersprüchen zu eigenen Urteilen begründen würde, weshalb von der früheren Einschätzung abgewichen wird.
Natalie Stauber, Rechtsanwältin, Andelfingen ZH
Zivilprozessrecht
Urteil ohne Verfahrensprotokoll ist unzulässig
Erlässt ein Friedensrichter ein Urteil, wird er zum Richter. Er muss die Verhandlung daher protokollieren und den Entscheid begründen.
Sachverhalt
Zwei Nachbarn aus dem Baselbiet stritten um die Position von Katzenschreckgeräten, die störende Pfeiftöne und Blitzlichter abgeben. Der Friedensrichter erzielte keine Einigung und fällte einen schriftlichen Entscheid zugunsten des Klägers. Gegen diesen Entscheid wehrte sich der Beklagte vor dem Kantonsgericht Baselland mit Erfolg.
Aus den Erwägungen
3.1 Um die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs überprüfen zu können, hat das Kantonsgericht die Akten des friedensrichterlichen Entscheidverfahrens beigezogen. In den Verfahrensakten fehlt allerdings ein Protokoll der Verhandlung im Entscheidverfahren nach Art. 212 ZPO vor dem Friedensrichteramt. Das Verhandlungsprotokoll ist ein wesentlicher Bestandteil der Verfahrensakten, das geeignet ist, darüber Auskunft zu geben, ob zum einen die Rüge der Gehörsverletzung sowie die weiteren Rügen des Beschwerdeführers berechtigt sind und zum anderen die Voraussetzungen für die Durchführung eines Entscheidverfahrens vor dem Friedensrichteramt Kreis XX eingehalten worden sind, dies namentlich, wenn die Entscheidbegründung – wie hier – zu kurz ausfällt.
3.2 Mit der Eröffnung eines Entscheidverfahrens nach Art. 212 ZPO wandelt sich das Friedensrichteramt von der Schlichtungs- zur Gerichtsbehörde. Als erste richterliche Instanz hat das Friedensrichteramt im Entscheidverfahren sämtliche auf den Zivilprozess anzuwendenden Bestimmungen zu beachten, namentlich die allgemeinen Verfahrensgrundsätze und -garantien (BSK ZPO-Infanger, 3. Aufl., 2017, Art. 212, N 13a).
Dazu gehört etwa die bereits erwähnte Protokollierungspflicht gemäss Art. 235 ZPO. Sodann verpflichtet Art. 209 Abs. 1 ZPO die Schlichtungsbehörde ausdrücklich, den erfolglosen Schlichtungsversuch im Protokoll festzuhalten, worauf das Schlichtungsverfahren formell und definitiv zu schliessen und das Entscheidverfahren zu eröffnen ist, was ebenfalls zu protokollieren ist. Die Parteien sind über den Wechsel zum Entscheidverfahren und dessen Folgen zu informieren, da die Schlichtungsbehörde mit der Eröffnung des Entscheidverfahrens wie erwähnt zur Gerichtsinstanz mutiert und für die Parteien insbesondere die Fortführungslast einsetzt (Art. 65 ZPO).
4.2 Der Friedensrichter erwog in der Begründung seines Entscheids vom 3. November 2023 einzig, dass für das Verhalten von Katzen in der Regel keine Haftung der Tierhalterin oder des Tierhalters bestehe, da Katzen nicht dauerhaft beaufsichtigt werden könnten. Der Beschwerdeführer habe daher den Radius der Katzenschreckgeräte so zu wählen, dass lediglich das eigene Grundstück von der Beschallung betroffen sei. Diese Begründung des Friedensrichters vermag den vorgenannten Anforderungen an eine rechtskonforme Begründung nicht zu genügen.
Weder enthält sie eine Zusammenfassung der Prozessgeschichte und des massgebenden Sachverhalts, noch ergibt sich aus der Begründung des Entscheids, dass sich der Friedensrichter mit den wesentlichen Anträgen und Argumenten der beiden Parteien auseinandergesetzt hat. Ebenso fehlen Ausführungen zu den Prozessvoraussetzungen und die Erwähnung der einschlägigen Rechtsnormen. Die Rüge des Beschwerdeführers, dass der Friedensrichter bei seinem Entscheid einseitig auf die Ausführungen der Beschwerdegegner abgestellt habe, kann deshalb im Rechtsmittelverfahren nicht geprüft werden.
5. Die vorstehenden Erwägungen haben gezeigt, dass der angefochtene Entscheid des Friedensrichteramtes vom 3. November 2023 zufolge der fehlenden Protokollierung der Verhandlung im Entscheidverfahren nach Art. 212 ZPO an einem gravierenden Verfahrensfehler leidet sowie in mehrfacher Hinsicht das rechtliche Gehör namentlich des Beschwerdeführers in teils besonders schwerwiegender Weise verletzt.
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Entscheid 410 23 311 vom 6.2.2024
Strafprozess
Keine U-Haft wegen mehrfachen Fahrens ohne Ausweis
Eine Untersuchungshaft ist nicht gerechtfertigt, wenn eine Beschuldigte mehrfach ohne Fahrausweis gefahren ist, davon einmal unter Drogeneinfluss – zumindest, sofern keine konkrete Gefahr für Drittpersonen bestand.
Sachverhalt
Eine Bernerin wurde beim Lenken eines entwendeten Wagens unter Kokaineinfluss und ohne Fahrberechtigung erwischt. Die Polizei verhaftete sie wegen des Verdachts auf Diebstahl und Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz. Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern ordnete drei Monate Untersuchungshaft an. Kurz vor deren Ende verlängerte es die Haft um knapp zwei Monate. Die Beschuldigte wehrte sich erfolgreich gegen die Haftverlängerung. Das Obergericht hielt fest, weder sei eine Wiederholungs- noch Kollusionsgefahr ersichtlich. Und auch andere Haftgründe wie Fluchtgefahr lägen nicht vor. Daher sei die Anordnung von Untersuchungshaft ohne besondere Haftgründe nicht rechtens.
Aus den Erwägungen
6. Die Untersuchungshaft setzt zunächst voraus, dass im Sinne eines allgemeinen Haftgrunds ein dringender Tatverdacht der Begehung eines Verbrechens oder Vergehens besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO).
6.1 Im Haftprüfungsverfahren geht es nicht darum, den Schuldbeweis zu erbringen, sondern den dringenden Tatverdacht zu belegen. Im Haftprüfungsverfahren genügt dabei der Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das untersuchte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte.
7.1 Neben dem dringenden Tatverdacht setzt die Untersuchungshaft einen besonderen Haftgrund etwa im Sinne von Art. 221 Abs. 1 Bst. a–c StPO voraus. Das Zwangsmassnahmengericht begründet die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft mit der Wiederholungsgefahr.
7.2 Wiederholungsgefahr ist gegeben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass die beschuldigte Person durch Verbrechen oder schwere Vergehen die Sicherheit anderer unmittelbar erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO).
7.6 Der Auffassung des Zwangsmassnahmengerichts und der Staatsanwaltschaft, wonach der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gegeben sei, kann nicht gefolgt werden. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin in Bezug auf die Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz keine einschlägigen Vorstrafen aufweist. In Bezug auf das Fahren in fahrunfähigem Zustand steht gestützt auf die Haftakten nur bezüglich einer einzigen Fahrt, nämlich derjenigen am Tag der Anhaltung, mit für die Wiederholungsgefahr ausreichender Sicherheit fest, dass die Beschwerdeführerin unter Drogeneinfluss gestanden und insofern den Tatbestand von Art. 91 Abs. 2 SVG erfüllt hat.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit steht hingegen fest, dass die Beschwerdeführerin mehrfach ein Motorfahrzeug gelenkt hat, obwohl sie nicht über den dafür erforderlichen Führerausweis verfügt. Das Bundesgericht hat jedoch wiederholt festgehalten, dass Fahren ohne Berechtigung gemäss Art. 95 Abs. 1 SVG für sich alleine grundsätzlich nicht für die Anordnung von Haft wegen Wiederholungsgefahr genügt. Erforderlich ist zusätzlich, dass von einer konkreten Gefährlichkeit auszugehen sei, d. h. ein schweres Vergehen vorliege und die Sicherheit Dritter, insbesondere deren Leben bzw. die körperliche Unversehrtheit, durch das Verhalten der beschuldigten Person erheblich gefährdet erscheine (Urteil des Bundesgerichts 1B_187/2022 vom 5. Mai 2022, E. 3.3.2; 1B_442/2015 vom 21. Januar 2016, E. 3.4).
Aus den Akten geht nichts hervor, was darauf hindeuten würde, dass die Beschwerdeführerin bei einer ihrer Fahrten – selbst als sie unter Drogen- bzw. Alkoholeinfluss gefahren ist – Drittpersonen an ihrer Sicherheit unmittelbar erheblich gefährdet hat. Abschliessend ist daher festzuhalten, dass – auch wenn die von der Beschwerdeführerin ausgeführte Fahrt in fahrunfähigem Zustand und das mehrfache Fahren ohne Berechtigung nicht zu bagatellisieren sind – die Voraussetzung der «unmittelbaren und erheblichen Sicherheitsgefährdung» von Drittpersonen nicht erfüllt ist. Die Wiederholungsgefahr kann daher bereits deswegen nicht bejaht werden.
8.4 Das Verfahren ist weit vorangeschritten, und es sind keine ausstehenden Beweiserhebungen ersichtlich, die kollusionsgefährdet sind. Dazu ist festzuhalten, dass sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihre Mitbeschuldigten bereits mehrfach befragt wurden und auch die parteiöffentlichen Einvernahmen bereits stattgefunden haben. Es ist fraglich, welchen Einfluss eine Aussageänderung von einer der beteiligten Personen jetzt noch auf das Verfahren hätte und wie viel Beweiskraft einer solchen zukommen würde.
9. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass vorliegend weder Wiederholungs- noch Kollusionsgefahr bejaht werden können. Hinweise für einen anderen Haftgrund (Fluchtgefahr) liegen keine vor; Entsprechendes wurde auch von der Staatsanwaltschaft oder dem Zwangsmassnahmengericht nicht geltend gemacht. Die Anordnung von Untersuchungshaft erweist sich daher mangels Vorliegens besonderer Haftgründe als nicht rechtens. Die Beschwerdeführerin ist durch die Staatsanwaltschaft umgehend aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Obergericht Bern, Beschluss BK 2024 235 vom 24.6.2024
Staatsanwalt muss Hausdurchsuchung anordnen
Betritt die Polizei für eine Festnahme einer Person Wohnungen oder andere nicht allgemein zugängliche Räume, muss sie vorab, wenn keine Gefahr im Verzug ist, einen Hausdurchsuchungsbefehl einholen.
Sachverhalt
Anfang 2023 stürmten Kantonspolizisten eine Wohnung in Basel, um eine Person festzunehmen. Es bestand der Verdacht, dass sie einen Feuerwerkskörper auf eine Polizistin geworfen haben könnte. Die Polizei brach die Haustür auf und untersuchte auch die Räume ihrer Mitbewohner, ohne dass ein Hausdurchsuchungsbefehl vorlag.
Aus den Erwägungen
1.1.2 Der fragliche Polizeieinsatz vom 5. Januar 2023 wurde dabei offenbar durchgeführt, um die Beschwerdeführerin 1 als damals gesuchte Person in Gewahrsam zu nehmen, was auch aus der Medienmitteilung der Kantonspolizei vom 5. Januar 2023 und der Stellungnahme der Kantonspolizei vom 13. März 2023 hervorgeht. Soweit die Kantonspolizei in ihrer Stellungnahme geltend macht, sie habe damit im Anwendungsbereich des Polizeigesetzes (PolG, SG 510.100) und nicht der StPO gehandelt, ist ihr nicht zu folgen.
So zeigt sie nicht auf, welchen sicherheitspolizeilichen bzw. durch das PolG gedeckten Zweck (vgl. § 37 PolG) mit der Festnahme verfolgt worden sein soll, und ist ein solcher auch nicht ansatzweise ersichtlich. Beim zur Diskussion stehenden Polizeieinsatz ging es offensichtlich einzig um die Aufklärung des Vorfalls vom 3. Januar 2023, namentlich die Auffindung derjenigen Person, welche den Feuerwerkskörper aus dem Fenster geworfen haben soll. Die fragliche Betretung der Liegenschaft durch die Kantonspolizei ist somit nach den Bestimmungen der StPO zu beurteilen und der Beschwerde gemäss Art. 393 ff. StPO zugänglich.
2.1.1 Müssen zur Anhaltung oder Festnahme einer Person Häuser, Wohnungen oder andere nicht allgemein zugängliche Räume betreten werden, so sind gemäss Art. 213 Abs. 1 StPO die Bestimmungen über die Hausdurchsuchung zu beachten. Die Hausdurchsuchung ist eine Zwangsmassnahme und ohne Einwilligung der berechtigten Person nur erlaubt, wenn zu vermuten ist, dass in den Räumen gesuchte Personen anwesend, Tatspuren oder zu beschlagnahmende Gegenstände oder Vermögenswerte vorhanden sind oder dass Straftaten begangen werden (Art. 244 Abs. 2 StPO). Weil Zwangsmassnahmen in Grundrechte eingreifen, dürfen sie nur ergriffen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, ein hinreichender Tatverdacht vorliegt und die Verhältnismässigkeit gewahrt ist (Art. 197 Abs. 1 StPO).
Zuständig für die Anordnung im Vorverfahren ist gemäss Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO grundsätzlich die Staatsanwaltschaft. Aufgrund der Einschränkung in Art. 198 Abs. 1 lit. c StPO kann die Polizei Zwangsmassnahmen nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen anordnen. In Bezug auf Hausdurchsuchungen räumt Art. 241 Abs. 3 StPO der Polizei bei Gefahr im Verzug die Befugnis zur Durchführung ein (vgl. auch 213 Abs. 2 StPO).
Ordnet die Polizei in eigener Kompetenz eine Durchsuchung selbst an und führt sie nicht nur eine Durchsuchung auf Verfügung der Staatsanwaltschaft aus, so hat sie entsprechend selbst zu prüfen, ob sämtliche Voraussetzungen für die entsprechende Durchsuchung gegeben sind. Die Polizei trägt in diesen Fällen die alleinige Verantwortung (Keller, a.a.O., Art. 241 StPO, N 16). Gefahr im Verzug liegt vor, wenn die staatsanwaltschaftliche Anordnung nicht eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Massnahme gefährdet wird, bzw. wenn ein Aufschub die betreffende Handlung vereiteln oder zumindest deren Zweck gefährden würde, d. h., ohne sofortige Durchsuchung ein Beweisverlust zu befürchten ist (Keller, a.a.O., Art. 241 StPO, N 22 f.).
2.2 Vorliegend lag weder ein mündlicher noch ein schriftlicher Hausdurchsuchungsbefehl vor. Auch nachträglich wurde kein solcher ausgestellt. Vielmehr stellt sich auch die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 6. Februar 2023 auf den Standpunkt, es handle sich vorliegend um eine abschliessende Verfahrenshandlung der Kantonspolizei. Eine besondere Dringlichkeit bzw. Gefahr im Verzug ist nicht erkennbar und wird von der Kantonspolizei zu Recht nicht geltend gemacht. Mithin wäre es der Kantonspolizei problemlos möglich gewesen, vorab bei der Staatsanwaltschaft einen Hausdurchsuchungsbefehl einzuholen.
Da sie dies unterliess, hat sie die Zwangsmassnahme in Überschreitung ihrer Kompetenz in Eigenregie vorgenommen. Die Kantonspolizei ist damit prozessordnungswidrig vorgegangen (vgl. OGer ZH SB200073 vom 2. Oktober 2020, E. 2). Die Hausdurchsuchung erweist sich damit als rechtswidrig, und die damit einhergehenden Grundrechtseingriffe sind mangels gesetzlicher Grundlage als nicht gerechtfertigt anzusehen. Die Beschwerde ist in diesem Punkt somit gutzuheissen.
Appellationsgericht Basel-Stadt, Entscheid BES.2023.10 vom 27.2.2024