Erbrecht
Luzern: Teilungsamt prüft Honorar des Erbenvertreters
Die Kantone müssen nicht zwingend ein Gericht für die Aufsicht über die Erbenvertreter bestimmen. Der Kanton Luzern hat das Teilungsamt damit beauftragt. Es ist auch für die Genehmigung des Honorars des Erbenvertreters zuständig. Die Erben können ein übersetztes Honorar trotzdem vor dem Zivilgericht anfechten.
Sachverhalt:
Im Kanton Luzern ist das Teilungsamt und nicht das Gericht für die Einsetzung des Erbenvertreters zuständig. Es setzte bei einer zerstrittenen Erbengemeinschaft einen Vertreter ein. Nach Erledigung der Aufgabe genehmigt es das Honorar des Beauftragten von 350 Franken pro Stunde plus Mehrwertsteuer. Ein Erbe ist damit nicht einverstanden. Er erhebt Beschwerde gegen die Genehmigung des Honorars. Er fordert, es müsse erstinstanzlich ein Gericht über das Honorar entscheiden. Das Kantonsgericht Luzern weist die Beschwerde ab. Die Kantone müssen nicht zwingend ein Gericht für die Aufsicht über die Erbenvertreter bestimmen. Die Behörde habe das Honorar korrekt genehmigt und damit abschliessend geprüft.
Aus den Erwägungen:
2.5.5 Aus dem Gesagten ergibt sich, was folgt: Die Einzelrichterin des Bezirksgerichts ordnete selber keine Erbenvertretung an; vielmehr wurde diese durch die gemäss § 9 Abs. 2 lit. k EGZGB für die Einsetzung des Erbenvertreters zuständige Teilungsbehörde errichtet. Letztere war auch für die Regelung der Modalitäten betreffend Umfang, Dauer, Entschädigung etc., wie sie diese in ihrem Entscheid vom 16. Mai 2013 vornahm, zuständig.
Die Einsetzung des Erbenvertreters und die Regelung der Modalitäten erfolgten richtigerweise nicht nach Massgabe von «Weisungen, sondern aufgrund einer eigenen Prüfung nach Massgabe der Bestimmungen des ZGB und des kantonalen Rechts. Als für die Errichtung der Erbenvertretung zuständige Behörde war das Teilungsamt auch für deren Aufhebung zuständig.
Einer «neuen richterlichen Weisung» bedurfte es dazu entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer nicht. Folglich liegt keine unrichtige Rechtsanwendung im Sinne einer falschen Zuständigkeit vor, wenn das Teilungsamt am 25. Februar 2019 – nachdem die Erben im Erbteilungsprozess vor Bezirksgericht Luzern am 6./9. Juli 2018 einen Teilvergleich über die Zuweisung der zu den Nachlässen gehörenden Grundstücke sowie deren Anrechnungswerte geschlossen hatten, das Bezirksgericht Luzern mit Urteil vom 30. Oktober 2018 die Erbteilung vorgenommen hatte und der Erbenvertreter am 19. Februar 2019 (u. a.) unter Hinweis auf die mittlerweile erfolgte grundbuchliche Übertragung der Grundstücke auf die einzelnen Erben um Beendigung seines Amts und um Entlassung aus dem Amt ersucht hatte – über die Aufhebung der Erbenvertretung entschied. Ebenso wenig liegt nach dem Gesagten ein widersprüchliches, die Rechtssicherheit tangierendes Verhalten der Teilungsbehörde vor.
3.4.1 Der Erbenvertreter übt eine privatrechtliche Aufgabe aus (BGer-Urteil 5A_813/2014 vom 24.11.2014, E. 3). Dass er durch eine Behörde eingesetzt wird, welche über ihn die Aufsicht ausübt und als Beschwerdeinstanz der Erben gegen den Erbenvertreter wirkt, ändert nichts daran. Die Pflicht zur Rechenschaftsablage und die Verantwortlichkeit des Erbenvertreters gegenüber den Erben bestimmen sich nach Auftragsrecht, d.h. nach Art. 400 OR (Rechenschaftspflicht) bzw. Art. 398 OR (Haftung).
4.7.1 Ein Honoraranspruch des Erbenvertreters ist im Gesetz nirgends ausdrücklich vorgesehen, wird aber in analoger Anwendung von Art. 517 Abs. 3 ZGB und gestützt auf Art. 394 Abs. 3 OR allgemein anerkannt. Gleiches gilt für den Anspruch auf Ersatz von Spesen (vgl. Art. 402 Abs. 1 OR). Die Kosten des Erbenvertreters gehen zulasten der Erbengemeinschaft und sind dem Nachlass zu belasten; es handelt sich um eine Schuld der Erben, die dafür solidarisch haften (BGer-Urteil 5A_241/2014 vom 28.5.2014, E. 2.3).
4.7.2 Wie erwähnt, ist die Teilungsbehörde nicht nur ernennende Behörde (§ 9 Abs. 2 lit. k EGZGB), sondern zugleich Aufsichtsbehörde über den Erbenvertreter und holt als solche von ihm einen Schlussbericht ein und entscheidet darauf über das Honorar.
4.7.4 Richtig ist, dass gemäss Lehre und Rechtsprechung Streitigkeiten zwischen dem Erbenvertreter und den Erben über die Entschädigung, soweit sie nicht die Art und Weise der Abrechnung betreffen, nicht vor die Aufsichtsbehörde, sondern vor die ordentlichen Gerichte gehören (vgl. Picenoni, a.a.O., S. 174; VVGE 2007 und 2008 Nr. 15, E. 7; RBOG 2013 Nr. 7, E. 2c; vgl. auch KG-Urteil 1H 15 3 vom 31.8.2015, E. 2 und 3.6.2).
Dass im Kanton Luzern gemäss § 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung über das Verfahren in Erbschaftsfällen die Teilungsbehörde die Entschädigung des Erbenvertreters festzusetzen hat, hat folgende Konsequenzen: Es ist nicht der Erbenvertreter, der sein Honorar bei den Erben geltend zu machen bzw. dieses im Streitfall bei den ordentlichen Gerichten einzuklagen und es durch diese festsetzen zu lassen hat, sondern es sind die Erben, welche an die ordentlichen Gerichte zu gelangen haben, wenn sie eine Reduktion des von der Teilungsbehörde festgesetzten Honorars wegen Schlechterfüllung des Auftrags geltend machen wollen. Insofern und insoweit steht ihnen – wie im Übrigen auch für den Fall, dass sie eine Haftung des Erbenvertreters (Art. 398 OR) beziehungsweise den Ersatz eines durch unsorgfältiges und schuldhaftes Handeln des Erbenvertreters verursachten Schadens geltend machen wollen – der zivil(prozess)rechtliche Weg offen. Nur, aber immerhin in diesem Sinne erweist sich die Kostenfestsetzung im vorliegenden Verfahren nicht als «abschliessend».
4.7.5 Die Beschwerdeführer beantragen die Feststellung, dass die Festsetzung des Honorars nicht abschliessend sei und von Zivilgerichten überprüft werden könne.
Die in der Sache zuständige Behörde hat auf Begehren einer Partei, die ein schutzwürdiges Interesse nachweist, den Bestand, Nichtbestand oder Inhalt von Rechten und Pflichten festzustellen (§ 44 Abs. 1 VRG). Eine feststellende Verfügung beziehungsweise ein feststellender Entscheid dient der Klärung der Rechtslage, indem das Bestehen, Nichtbestehen oder der Umfang von verwaltungsrechtlichen Rechten und Pflichten verbindlich festgestellt wird. Damit soll als Vorstufe einer späteren Gestaltungsverfügung eine Teilfrage im Voraus verbindlich beantwortet werden. Im Vordergrund steht das Interesse einer Partei, dank der vorzeitigen Rechtsklärung das Risiko nachteiliger Dispositionen zu vermeiden (vgl. Wirthlin, a.a.O., Rz 6.1 ff.).
Vorliegend geht es weder um den Bestand verwaltungsrechtlicher Rechte noch um das Vermeiden nachteiliger Dispositionen. Dies führt zur Abweisung des Antrags der Beschwerdeführer, soweit darauf einzutreten ist.
Kantonsgericht Luzern, Urteil 1H 20 2 vom 7.2.2022
Haftpflichtrecht
Fehlerhafte Hüftprothese: Patientin erhält recht
Eine Hüftprothese muss den Gesundheitszustand eines Patienten mindestens zehn Jahre lang wesentlich verbessern. Sonst ist das Produkt fehlerhaft im Sinn des Produkthaftpflichtgesetzes.
Sachverhalt:
Eine Frau liess sich im Jahr 2007 im Kanton Bern eine Hüftprothese des Herstellers Johnson & Johnson implantieren. Danach litt sie an Schmerzen und musste die Prothese nach drei Jahren auswechseln lassen. Die Patientin forderte darauf vom Hersteller 120 000 Franken Schadenersatz und 21 141 Franken Genugtuung. Das Regionalgericht in Bern wies die Klage ab. Das Obergericht Bern hiess die Berufung der Frau teilweise gut.
Aus den Erwägungen:
IV. 5. Unbestritten ist, dass vor Inverkehrbringen der F.-Hüftprothesen keine klinischen Studien am Menschen durchgeführt wurden. Die Berufungsbeklagte weist darauf hin, dass solche Studien nicht erforderlich waren.
8. In Australien – einem in Bezug auf die Führung von Prothesenregistern fortgeschrittenen Land – hat man nach Angaben der Berufungsklägerin aufgrund der Daten des Prothesenregisters aus dem Jahr 2007 bei den F.-Prothesen eine im Vergleich zu anderen Prothesen derselben Klasse erhöhte Revisionsrate feststellen können. Im Oktober 2009 wurde beschlossen, die F.-Hüftprothesen in Australien künftig nicht mehr zu vertreiben. Die Berufungsklägerin macht geltend, diese seien zurückgerufen worden, während die Berufungsbeklagte erklärt, man habe sich dazu aufgrund zurückgegangener Verkäufe und wegen des Ziels, sich auf andere Produkte zu konzentrieren, entschieden. Die Berufungsklägerin macht insbesondere geltend, die wahren Gründe für den Rückzug aus dem australischen Markt seien geheim gehalten worden.
21. Gemäss der Berufungsklägerin habe die Berufungsbeklagte spätestens im Juni 2007 gewusst, dass die Prothese «in vivo» nicht funktioniere. Die Berufungsbeklagte bestreitet dies. Laut Klage habe die Berufungsbeklagte bereits eineinhalb Jahre nach der Markteinführung Meldungen über erste Beschwerden aus England und Australien erhalten.
VIII. 6. Gemäss Art. 4 PrHG ist ein Produkt fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt ist. Dabei hat die Geschädigte nicht die Ursache des Mangels zu beweisen, sondern es genügt, wenn sie aufzeigt, dass das Produkt die berechtigten Sicherheitserwartungen des durchschnittlichen Konsumenten nicht erfüllte.
9. Unter den Parteien ist insbesondere strittig, welche Sicherheitserwartungen massgebend sind. Bei Hüftprothesen handelt es sich gemäss der Berufungsbeklagten um Produkte, welche nicht an Patienten abgegeben würden (wie zum Beispiel Medikamente), sondern um ausschliesslich von Chirurgen im Rahmen ihrer Tätigkeit verwendete Produkte, welche nur durch diese Spezialisten mittels eines chirurgischen Eingriffs eingesetzt werden können. Dem durchschnittlichen Patienten fehle das nötige Wissen, um die Gefahren, die mit der Nutzung solcher Produkte einhergehen, richtig einschätzen zu können.
10. Die Vorinstanz hat sich auf den Entscheid des Bundesgerichtes 4A_365/2014 vom 5. Januar 2015 betreffend rezeptpflichtige Medikamente gestützt («Yasmin-Fall», E. 69 pag. 1651). Das Bundesgericht hat in diesem Entscheid Folgendes ausgeführt (E. 9.2):
«Es kann hier nicht allein auf die individuellen Sicherheitserwartungen des Patienten ankommen, da diesem in der Regel das nötige Fachwissen fehlt, um die mit rezeptpflichtigen Medikamenten verbundenen Gefahren richtig einschätzen zu können. Für die Beurteilung, ob die Sicherheitserwartungen des Patienten in Bezug auf rezeptpflichtige Medikamente berechtigt sind, ist daher auch das Wissen des Arztes einzubeziehen, der dem Patienten das Medikament verschreibt. Bei rezeptpflichtigen Medikamenten hat der Arzt die Chancen und Risiken der verschiedenen auf dem Markt erhältlichen Produkte im Hinblick auf die konkrete Anwendung abzuwägen und diese mit seinem Patienten zu diskutieren. Im vorliegenden Fall sieht die Fachinformation unter dem Titel ‹Warnhinweise und Sicherheitsmassnahmen› denn auch vor, dass der verschreibende Arzt den Nutzen einer Anwendung gegen die Risiken abwägen und mit jeder Patientin besprechen soll.»
11. Es bestehen freilich Unterschiede zwischen rezeptpflichtigen Medikamenten und einer Hüftprothese. Zutreffend ist, dass Letztere nur der Hüftchirurg einsetzen kann. Es ist ebenfalls richtig, dass der Durchschnittspatient kaum in der Lage wäre, zwischen verschiedenen Prothesen oder Prothesenarten zu wählen. Dies trifft aber für rezeptpflichtige Medikamente meistens ebenfalls zu. Der Patient kann sich zwar selbst informieren, jedoch ist er in der Regel nicht in der Lage, unter verschiedenen Medikamenten das beste auszulesen. Wie das Bundesgericht ausgeführt hat, muss der Arzt die Chancen und Risiken der verschiedenen erhältlichen Produkte mit dem Patienten diskutieren.
Dasselbe hat auch für eine Hüftprothese zu gelten. In diesem Sinne sind vorliegend nicht nur die Sicherheitserwartungen von Hüftchirurgen massgebend. Das Gericht hat auf die Sicherheitserwartungen des Patienten unter Einbezug des Wissens des Arztes abzustellen. Allein auf die Erwartungen des Arztes abzustellen, wäre nicht überzeugend. So ist die Prothese nicht für den Arzt, sondern für den Patienten bestimmt, und Letzterer hat die Risiken einer allfälligen Fehlfunktion zu tragen: Wenn die Prothese nicht funktioniert, muss der Patient und nicht der Arzt ein hinkendes Leben führen.
Es darf erwartet werden, dass eine Hüftprothese eine Verbesserung der gesundheitlichen Situation für eine Dauer von mindestens rund 10 Jahren bringt. Eine Prothese, die bei rund der Hälfte der Patienten eine metalltoxische Reaktion hervorruft, eine höhere Revisionsrate aufweist als erwartet, nach etwas mehr als 5,5 Jahren in der Schweiz vom Markt genommen wird und für welche sich die Herstellerin zur Übernahme der Kosten für Untersuchungen, Behandlungen und einen allfällig notwendigen Revisionseingriff bereit erklärt hat, erfüllt diese Erwartungen nicht und ist fehlerhaft i.S.v. Art. 4 PrHG.
Obergericht Bern, Urteil ZK 20 399 vom 26.11.2021
Mietrecht
Mieter dürfen bei Mängeln den ganzen Mietzins hinterlegen
Die Mieter dürfen bei Mängeln der Wohnung den ganzen Mietzins hinterlegen. Dem Vermieter ist nur in Ausnahmefällen, etwa wenn er sehr gute Prozesschancen hat und in einer finanziellen Notlage ist, ein Teil des hinterlegten Zinses herauszugeben.
Sachverhalt:
Ein Paar aus Biel mietete ein Haus. Es reklamierte wegen diverser Mängel beim Vermieter und drohte, den Mietzins bei der Schlichtungsstelle zu hinterlegen, falls die Mängel nicht behoben würden. Der Vermieter blieb untätig. Die Mieter hinterlegten die künftigen Mietzinse bei der Schlichtungsstelle und klagten auf Herabsetzung der Miete. Laut Gesetz gilt der Mietzins dann als bezahlt. Das Regionalgericht in Biel gab einen Teil des hinterlegten Mietzinses frei. Das Obergericht Bern kippte den Entscheid.
Aus den Erwägungen:
III. 1.5.1 Die Hinterlegung dient der Verwirklichung des Anspruchs auf Mängelbeseitigung, indem sie den Mietern ein Druckmittel zur Durchsetzung ihres Mängelbeseitigungsanspruchs in die Hand gibt (BGE 146 III 63, E. 4.4.4, S. 68). Hinterlegungsfähig ist diesem Zweck entsprechend der gesamte Mietzins, unabhängig von der Schwere des Mangels, dessen Beseitigung verlangt wird. Art. 259g OR erlaubt den Mietern, die gesamten vertraglich vereinbarten, künftig fällig werdenden Leistungen den Vermietern vorzuenthalten, bis die bestehenden Mängel beseitigt sind (BGE 124 III 201, E. 2d S. 203 f.). Die Hinterlegung des gesamten Mietzinses ist damit grundsätzlich nicht missbräuchlich (Roy, in: «Mietrecht für die Praxis», 9. Aufl. 2016, N. 11.7.5 mit historischer Auslegung in Fn. 234).
1.5.2 Den Berufungsklägern steht es zumindest dem Grundsatz nach zu, die gesamten Mietzinse zu hinterlegen. Entgegen der Argumentation der Berufungsbeklagten ist nicht zu beanstanden, dass die Berufungskläger die Hinterlegung als Druckmittel verwenden. Eine Hinterlegung, die über die (angeblichen) finanziellen Ansprüche der Berufungskläger hinausgeht, ist grundsätzlich zulässig.
In der Lehre und der kantonalen Rechtsprechung wird deshalb mehrheitlich argumentiert, dass ein blosses Missverhältnis zwischen den hinterlegten Mietzinsen und den Ansprüchen des Mieters nicht genügte, um die hinterlegten Mietzinse oder Teile davon freizugeben. Notwendig sei, dass die allgemeinen Voraussetzungen für den Erlass vorsorglicher Massnahmen erfüllt sind.
1.6.3 Entsprechend der geschilderten herrschenden Lehre ist die Beschränkung der hinterlegten Mietzinse nur dann gutzuheissen, wenn den Vermietern eine positive Hauptsachenprognose auszustellen ist, ihnen ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht und Dringlichkeit besteht. Dies, weil es dem Mieter grundsätzlich gestattet ist, unabhängig von der Schwere des Mangels den gesamten Mietzins zu hinterlegen, weswegen ein Missverhältnis zwischen dem Ausmass der Mängel und dem hinterlegten Mietzins für sich alleine keine vorsorglichen Massnahmen rechtfertigt.
1.7.1 Die Berufungsbeklagten brachten vor Regionalgericht vor, dass ihre Mutter (Nutzniesserin der vermieteten Liegenschaft) Auslagen von 6177 Franken und Einkünfte (ohne Mieteinnahmen) von 2715 Franken habe, weswegen sie auf die Mieteinnahmen angewiesen sei, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken.
Zum Beweis dieser Behauptungen reichten die Berufungsbeklagten zwei Rechnungen betreffend Pensionskosten, eine Rentenbescheinigung und die Krankenkassenpolice ihrer Mutter ein. Diese Urkunden sind in Bezug auf Einkommen und Auslagen ihrer Mutter aussagekräftig. Das Vermögen der Mutter lässt sich diesen Urkunden indes nicht entnehmen. Ohne Kenntnis des Vermögens einer Person lässt sich nicht beurteilen, ob sie durch das Ausbleiben gewisser Einnahmen in eine finanzielle Notlage gerät. Damit haben die Berufungsbeklagten – entgegen der Erwägung des Regionalgerichts – nicht glaubhaft gemacht, dass ihrer Mutter ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben.
Obergericht Bern, Urteil ZK 20 593 vom 13.8.2021
Arbeitsrecht
Anonyme Vorwürfe rechtfertigen keine fristlose Entlassung
Schriftliche Aussagen von namentlich nicht genannten Angestellten eines Betriebs sind nur Parteibehauptungen. Der Arbeitgeber muss im Prozess die Zeugen benennen. Die Fürsorgepflicht gegenüber Angestellten steht dem nicht entgegen.
Sachverhalt:
Ein Aargauer Betrieb entliess einen Elektrotechniker fristlos. Begründung des Betriebs: Er habe Mitarbeiter geschlagen, sexuell belästigt und beleidigt. Der Mann bestritt die meisten Vorwürfe und verlangte beim Bezirksgericht Aarau 16 200 Franken Lohn und 8200 Franken Entschädigung für die fristlose Entlassung sowie ein gutes Arbeitszeugnis.
Das Bezirksgericht Aarau und das Obergericht Aargau gaben ihm recht. Es sei nicht ausreichend, dass sich der Arbeitgeber auf anonyme Anschuldigungen stütze und keine Zeugen nenne. Auch die Fürsorgepflicht gegenüber den Angestellten entbinde den Arbeitgeber nicht davon, vor Gericht die Zeugen zu benennen.
Aus den Erwägungen:
1.3.3 Zusammengefasst kommt den anonymisierten Abschriften in beweisrechtlicher Hinsicht letztlich bloss der Stellenwert einer Parteibehauptung zu. Die Aussagen von E. sind äusserst vage und basieren bloss auf Hörensagen, zumal es, wie bereits ausgeführt, nicht angeht, dass er eigenmächtig darüber entscheidet, ob er die Namen von Zeugen, welche die Beklagte beim Gericht als Beweismittel beantragt, «für sich behalte».
Demgegenüber hat der Kläger in sich stimmig ausgesagt, dass er nie einen Lehrling bedroht habe und auch nie jemanden zusammenschlagen würde. Er sei nicht vorbestraft und auch nie im Gefängnis gewesen, was durch seine Einbürgerung untermauert wird. Nicht erstellt ist, dass C. im Auftrag des Klägers Erkundigungen über die Zeugen macht. Auch im Sinne einer Gesamtbetrachtung ist daher das beklagtische Vorbringen betreffend Gefährdung der Zeugen nicht glaubhaft. Infolgedessen erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Vorinstanz die Voraussetzung der Verhältnismässigkeit zu Recht verneint hat.
3.3.5 Zusammengefasst ist mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass einzig bewiesen ist, dass der Kläger manchmal laut geworden ist und jemandem «Idiot» oder «Choban» gesagt hat, wobei diesbezüglich keine Verwarnung mit Hinweis auf die fristlose Kündigung als Konsequenz nachgewiesen ist, und dass der Kläger bei anderen Mitarbeitenden, nicht aber bei Lehrlingen, manchmal Gesten in Richtung des Schritts angedeutet hat und vice versa.
3.4 Die Vorinstanz ging davon aus, dass die festgestellten verbalen Entgleisungen und Gesten keinen wichtigen Grund i.S.v. Art. 337 OR darstellen. Demgegenüber bringt die Beklagte in der Berufung vor, dass auch dies bereits zur Rechtfertigung der fristlosen Entlassung genüge. Dem kann allerdings nicht gefolgt werden: Nach der Rechtsprechung zu Art. 337 OR ist eine fristlose Entlassung nur bei besonders schweren Verfehlungen gerechtfertigt. Diese müssen einerseits objektiv geeignet sein, die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zu zerstören oder zumindest so tiefgreifend zu erschüttern, dass die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten ist, und anderseits auch tatsächlich zu einer derartigen Zerstörung oder Erschütterung des gegenseitigen Vertrauens geführt haben (BGE 130 III 28, E. 4.1; BGE 129 III 380, E. 2.1 m.w.H.). Sind die Verfehlungen weniger schwerwiegend, so müssen sie trotz Verwarnung wiederholt vorgekommen sein (BGE 130 III 28, E. 4.1; BGE 129 III 380, E. 2.1 m.w.H.). Ob die vorgeworfene Pflichtverletzung die erforderliche Schwere erreicht, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab (BGE 127 III 153, E. 1/a; BGE 116 II 145, E. 6/a).
Die dem Kläger angelasteten Gesten stellen keine solch schwere Verfehlung im obgenannten Sinne dar. Bei erstellten sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz gilt das Vertrauensverhältnis zwar grundsätzlich als zerstört (oder tiefgreifend beeinträchtigt), wenn es sich beim Belästiger um eine Führungskraft mit einer dominanten Stellung oder einem gewissen Einfluss im Unternehmen handelt (Urteil des Bundesgerichts 4A_105/2018 vom 10. Oktober 2018, E. 3.1). Dies trifft vorliegend aber nicht zu. Zu beachten ist in diesem Kontext insbesondere, dass lediglich (sexuelle) Gesten gegenüber Mitarbeitern, nicht aber gegenüber Lehrlingen erstellt sind. Zu berücksichtigen ist überdies jeweils das subjektive Empfinden der Betroffenen (Karine Lempfen, Überblick über die Rechtsprechung zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, AJP 2006, S. 1413 ff., 1416). Vorliegend lässt sich einzig den Schreiben der anonymen Lehrlinge und den Aussagen von E. bezüglich dessen, was er von den Lehrlingen gehört habe, entnehmen, dass diese die Bewegungen als Belästigung empfunden hätten. Bei diesen anonymen Lehrlingen sind die Gesten in Richtung des Schritts aber gerade nicht bewiesen, sondern nur gegenüber anderen Mitarbeitern. Dass diese Mitarbeiter die Gesten als sexuelle Belästigung empfunden hätten, ist nicht erstellt. So führte der Zeuge D. anlässlich der Befragung aus, dass diese Bewegungen gegenseitig aus Jux ausgeführt worden seien. Es habe nie jemand reklamiert. Zu berücksichtigen ist überdies, dass es auf einer Baustelle mitunter rauer und derber zu- und hergehen kann als an einem Ort mit rundum respektvollem und gesittetem Umgang und moralisch korrektem Verhalten, ohne dass damit bereits die Grenzen des zivil- und strafrechtlich Erlaubten überschritten würden. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände liegen jedenfalls keine sexuellen Belästigungen oder gar Übergriffe vor, welche die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zerstören oder zumindest so tiefgreifend erschüttern, dass der Beklagten die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten gewesen wäre, zumal keine Verwarnung erstellt ist.
Auch, dass der Kläger manchmal laut geworden ist und jemandem «Idiot» oder «Choban» gesagt hat, stellt keinen wichtigen Kündigungsgrund i.S.v. Art. 337 OR dar. Zwar kann gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine schwere Beschimpfung des Arbeitgebers oder des Vorgesetzten i. d. R. eine fristlose Entlassung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen (Urteil des Bundesgerichts 4D_79/2016 vom 23. März 2017, E. 6). Die vorliegenden Äusserungen sind aber nicht gegenüber dem Arbeitgeber oder dem Vorgesetzten gefallen, sondern gegenüber anderen Mitarbeitern bzw. Lehrlingen. Überdies ist zu berücksichtigen, in welcher Situation diese gefallen sind.
Die fraglichen Äusserungen erscheinen daher selbst dann, wenn sie als Beschimpfungen zu qualifizieren wären, unter den konkreten Umständen objektiv als ungeeignet, die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zu zerstören oder zumindest so tiefgreifend zu erschüttern, dass der Beklagten die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten gewesen wäre. Auch ist es nicht so, dass der Kläger diesbezüglich verwarnt und auf die fristlose Kündigung als Konsequenz hingewiesen worden wäre.
5. Die Berufung der Beklagten erweist sich als unbegründet und ist somit abzuweisen. Zu beachten ist allerdings, dass die Vorinstanz dem Kläger einen Bruttobetrag zusprach, obwohl der Arbeitnehmer im arbeitsgerichtlichen Verfahren nach ständiger aargauischer Praxis nur Netto-beträge zur Leistung an sich selber einklagen kann (AGVE 1999 Nr. 5 S. 40). Der von der Vorinstanz zugesprochene Betrag von brutto Fr. 16 188.20 ist daher um die Sozialabzüge des Arbeitnehmers (ohne Pensionskassenbeiträge und Krankentaggeldversicherungsprämien, vgl. Steiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N. 15 zu Art. 337c OR) zu kürzen.
Obergericht Aargau, Urteil ZVE.2022.15 vom 9.8.2022
Strafrecht
Gericht für Aufhebung der Massnahme zuständig
Die Vollzugsbehörde ist nicht dafür zuständig, bei drohender Verwahrung über die Entlassung aus einer stationären Massnahme zu entscheiden. Das ist Sache des Strafrichters.
Sachverhalt:
Ein Mann aus dem Kanton Zürich wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Bülach ZH zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Gleichzeitig wurde eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet. Das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich hob die Massnahme jedoch wegen Aussichtslosigkeit auf und ordnete Sicherheitshaft an. Zudem beantragte das Amt beim Haftrichter des Bezirks Bülach die Weiterführung der Sicherheitshaft. Nach Rechtskraft des Haftentscheids stellte der Justizvollzug in Aussicht, beim Bezirksgericht Bülach die Prüfung einer Verwahrung zu beantragen. Das kantonale Justizdepartement bestätigte den Entscheid der Vollzugsbehörde. Der Betroffene wehrt sich vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich. Das Gericht kritisiert die Vorinstanz, sie hätte auf den Rekurs bezüglich Aufhebung der stationären Massnahme nicht eintreten dürfen. Denn die Verwaltungsjustiz dürfe den Entscheid des Strafrichters nicht präjudizieren.
Aus den Erwägungen:
3.4 Da dem Strafgericht eine umfassende Überprüfungsbefugnis zukommt und es sich im Rahmen der Prüfung, ob anstelle der Verwahrung mildere Massnahmen in Betracht kommen, vorab auch mit den Erfolgsaussichten einer stationären therapeutischen Massnahme und damit mit deren Aussichtslosigkeit auseinandersetzen muss, entgeht dem Betroffenen bei einem Nichteintreten auf den verwaltungsrechtlichen Rekurs keine gerichtliche Überprüfung.
Vielmehr erscheint es sachgerecht, die Koordination der sich stellenden Fragen beim Strafgericht zu erzielen und so widersprüchliche Entscheide zu vermeiden: Zwar ist das Strafgericht nicht an die Entscheide der Vollzugsbehörde gebunden und könnte anstelle der (von der Vollzugsbehörde beantragten) Verwahrung eine andere oder gar dieselbe Massnahme anordnen. Würde das Verwaltungsgericht als letzte kantonale Instanz die Aufhebung der Massnahme bestätigen, bestünde aber die Gefahr, dass die Strafgerichte faktisch ihre Kognition nicht mehr voll ausschöpfen und sich am Verwaltungsgerichtsentscheid orientieren würden. Steht in derselben Sache nur ein Instanzenzug zur Verfügung, reduziert dies nicht nur die Gefahr widersprüchlicher Entscheide, sondern verkürzt auch massgeblich den Entscheidungsprozess (Heer, BSK-StGB I, Art. 62d N. 1a; Heer, AJP, S. 604). Das Bundesrecht erlaubt denn auch die Entscheidung eines einzigen Gerichts sowohl über die Frage der Aussichtslosigkeit als auch über deren Rechtsfolgen.
Schliesslich wird dadurch die Kompetenzverteilung zwischen den Vollzugs- und Strafbehörden nicht in Frage gestellt: Die Verfügung, mit welcher die Massnahme aufgehoben wird und Antrag an das Strafgericht gestellt wird, bleibt weiterhin ein Vollzugsentscheid.
3.5 Zusammengefasst ergibt sich folgender Befund: Ob eine stationäre therapeutische Massnahme wegen Erfolglosigkeit abzubrechen ist, hängt in Konstellationen, in denen der Beschwerdegegner an deren Stelle eine Verwahrung beantragen will, massgeblich davon ab, ob die beantragte Verwahrung als einschneidendere Massnahme gerechtfertigt ist. Letzteres kann nur das Strafgericht beurteilen, weshalb es auch diesem obliegen muss, über die Weiterführung bzw. den definitiven (Nicht-)Abbruch der bisherigen stationären Massnahme als milderes Mittel zu befinden.
Den diesbezüglichen Vorabentscheid, wie ihn die Ausgangsverfügung des Beschwerdegegners darstellt, einer rechtsmittelweisen Überprüfung zuzuführen, entspricht keinem Rechtsschutzinteresse. Die betreffende Verfügung stellt im Ergebnis lediglich einen einleitenden Schritt auf dem Weg zu einer möglichen Massnahmenanpassung durch das Strafgericht dar, sei es einer Verwahrung, deren Zulässigkeit aber zu diesem Zeitpunkt noch in keiner Weise feststeht, sei es einer anderen oder wiederum einer gleichartigen Massnahme. Ist es dem Strafgericht mithin erlaubt, zum Status quo ante zurückzukehren, wie er vor der Ausgangsverfügung bestand, ist nicht ersichtlich, inwieweit diese Verfügung die Rechtsstellung des Betroffenen verschlechtern könnte, mit Ausnahme dessen, dass er sich einem selbständigen nachträglichen Entscheidverfahren stellen muss, dessen Ausgang aber komplett offen und von einer ohnehin vorzunehmenden umfassenden Prüfung durch die Strafgerichte abhängig ist. Auch spricht das Beschleunigungsgebot dagegen, den Instanzenzug in derartigen Konstellationen bereits gegen die Aufhebungsverfügung zu öffnen. Auf entsprechende Rechtsmittel nicht einzutreten, wird denn auch ausdrücklich von der einschlägigen Lehre gefordert (Heer, AJP 2017, S. 604; dieselbe, in BSK-StGB I, Art. 62 N. 11 und 62d N. 1a). Infolgedessen hätte die Vorinstanz auf den Rekurs nicht eintreten dürfen und ist das Verwaltungsgericht nicht veranlasst, die Voraussetzungen der Aufhebung der Massnahme materiell zu prüfen.
Verwaltungsgericht Zürich, Urteil VB.2021.00598 vom 16.12.2021
Strafprozessrecht
Individuelle Entscheide, separate Rechtsmittel
Wegen des gleichen Sachverhalts Verurteilte müssen ihre Revisionsgesuche laut dem Obergericht Zürich separat stellen, wenn sie getrennt verurteilt wurden.
Sachverhalt:
Am 18. April 2020 fand in Zürich eine Demonstration in Form eines Autokonvois statt. Das Stadtrichteramt Zürich büsste zahlreiche Teilnehmer per Strafbefehl wegen Teilnahme an einer unbewillligten Demonstration und Widerhandlung gegen das damalige Veranstaltungsverbot in der Covid-19-Verordnung 2. Elf Gebüsste reichen beim Obergericht Zürich ein Revisionsgesuch ein, nachdem einer der Teilnehmer vom Bezirksgericht Zürich freigesprochen wurde.
Aus den Erwägungen:
I. 2. Die Revision oder Wiederaufnahme ist ein ausserordentliches Rechtsmittel, welches zur Durchbrechung der Rechtskraft eines Entscheides führt und deshalb nur in engem Rahmen zulässig ist. Entsprechend streng sind die Voraussetzungen einer Revision (BSK StPO-Marianne Heer, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 410 N 4 und N 9; Schmid/Jositsch, StPO Praxiskommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2018, Art. 410 N 1).
4. Das vorliegende Revisionsgesuch ist formell mangelhaft. Es wird nur ein Revisionsgesuch gegen 11 separate Anfechtungsobjekte (Strafbefehle) gestellt. Wenn überhaupt, hätten je 11 separate Revisionsgesuche gestellt und darin eine Vereinigung aufgrund des geltend gemachten sachlichen Zusammenhangs nach Art. 30 StPO beantragt werden müssen.
II. 2. Im vorliegenden Revisionsgesuch wird geltend gemacht, dass die Gesuchsteller – soweit bekannt – anlässlich der nicht bewilligten Kundgebung vom 18. April 2020 um 14.30 Uhr von der Stadtpolizei Zürich kontrolliert worden und – soweit bekannt – beim Stadtrichteramt Zürich verzeigt worden seien. Soweit bekannt hätten die «Akten» des Stadtrichteramtes Zürich vor Erlass der jeweiligen Strafbefehle vom 2.November 2020 jeweils lediglich aus einem «Rapport» der Stadtpolizei Zürich betreffend das Ereignis vom 18. April 2020 um 14.30 Uhr an der M.-strasse in Zürich, einem «Verzeigungsvorhalt» sowie allenfalls einer «CD» mit Videoaufnahmen von besagtem Ereignis bestanden. Soweit bekannt hätten keine Einvernahmen stattgefunden.
Mit Strafbefehlen des Stadtrichteramtes Zürich vom 2. November 2020 seien die Gesuchsteller wegen der Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung 2 und der Widerhandlung gegen die allgemeine Polizeiverordnung der Stadt Zürich mit einer Busse von 300 Franken bestraft worden. Herr N. sei ebenfalls wegen Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung 2 und der Widerhandlung gegen die allgemeine Polizeiverordnung der Stadt Zürich mit einer Busse von 300 Franken bestraft worden, wobei (auch) diese Akten vor Erlass des Strafbefehls lediglich aus einem zweiseitigen «Rapport» der Stadtpolizei vom 19. Juni 2020 und einem «Verzeigungsvorhalt» vom 4. Mai 2020 und vom 28. Mai 2020 betreffend das Ereignis vom 18. April 2020 um 14.30 Uhr an der M.-strasse in Zürich, sowie einer «CD» mit Videoaufnahmen von besagtem Ereignis bestanden hätten.
Der «Sachverhalt», die «Auflistung» der rechtlichen Bestimmungen, die Strafe, die Kosten sowie das Dispositiv des Strafbefehls des Stadtrichteramtes Zürich vom 2. November 2020 betreffend Herrn N. seien absolut identisch mit denjenigen Strafbefehlen, welche die Gesuchsteller betreffen würden.
5. Vorliegend haben die 11 Gesuchsteller die genannten Strafbefehle akzeptiert bzw. keine Einsprache dagegen erhoben. Herr N. erhob dagegen Einsprache, weshalb das Stadtrichteramt nach abgeschlossener Untersuchung die Akten ans Bezirksgericht Zürich überwies. Das Bezirksgericht Zürich entschied, es lasse sich nicht erstellen, dass sich der Einsprecher – wie im Strafbefehl vorgeworfen – in einer Gruppe von ca. 21 Personen aufgehalten habe. Vielmehr habe er allein in seinem Fahrzeug gesessen, welches nicht Teil eines Demonstrationszuges gewesen sei.
6. Das Urteil des Bezirksgerichts Zürich betrifft demnach einzig Herrn N.. Es wird in keiner Art und Weise festgehalten, dass auch die Gesuchsteller nicht Teil des unbewilligten Demonstrationszugs gewesen seien. Die Gesuchsteller sind zudem keine Mitbeschuldigten derselben Tat. Sie waren einfach an derselben unbewilligten Demonstration und agierten selbständig. Entsprechend wurden auch separate Strafverfahren geführt und jeweils separate Strafbefehle erlassen.
7. Im Weiteren scheinen die Gesuchsteller die Rechtsnatur eines Strafbefehlsverfahrens zu verkennen. Erst nachdem Einsprache gegen einen Strafbefehl erhoben wurde, wird ein ordentliches Strafverfahren durchgeführt und die Sache ggf. ans Gericht überwiesen. Vorliegend bestehen Anhaltspunkte, dass das Revisionsgesuch dazu dient, den ordentlichen Rechtsweg zu umgehen. Die Gesuchsteller erhoben allesamt keine Einsprache gegen die Strafbefehle und machen nun geltend, die vorhandene Beweislage genüge nicht für einen Schuldspruch. Die gewählte Vorgehensweise grenzt daher auch an Rechtsmissbräuchlichkeit.
8. Nach dem Gesagten ist der von den Gesuchstellern angerufene Revisionsgrund im Sinne von Art. 410 Abs. 1 lit. b StPO offensichtlich nicht erfüllt, weshalb auf das Revisionsgesuch nicht einzutreten ist.
Obergericht Zürich, Entscheid SR220001 vom 24.2.2022
Kommentar:
Das Urteil weist in E. I.4 zunächst darauf hin, dass aufgrund von Artikel 30 StPO einzig die Staatsanwaltschaft oder das Gericht Verfahren vereinigen oder trennen können. Wird also die Revision von elf miteinander in Zusammenhang stehenden Strafbefehlen verlangt, sind zwingend elf separate Revisionsgesuche einzureichen sowie mit einem Antrag auf Verfahrensvereinigung zu verbinden. Dieser prozessrechtliche Hinweis ist praxisrelevant.
Darüber hinaus ist das obergerichtliche Urteil dogmatisch indessen eher bedenklich. So wird in E. II.7 explizit festgehalten, es grenze «an Rechtsmissbräuchlichkeit», wenn jemand gegen einen Strafbefehl keine Einsprache erhebe und danach aufgrund eines freisprechenden Urteils des Bezirksgerichts zu einem späteren Zeitpunkt Revision verlange. Dass diese Sichtweise nicht richtig sein kann, ergibt sich bereits aus der sorgfältigen Lektüre von Artikel 410 Absatz 1 StPO, der explizit besagt, dass die Revision (auch) verlangen kann, wer durch «einen Strafbefehl […] beschwert» ist. Mithin ist das Strafbefehlsverfahren nach StPO gemäss klarer legislatorischer Wertung ein gleichwertiges Strafverfahren und eben gerade kein Ordnungsbussenverfahren nach dem Ordnungsbussengesetz, in welchem die Revision de facto ausgeschlossen ist. Was aber der klaren Wertung des Gesetzgebers entspricht (und nicht nur dem Wortlaut), kann kaum ernsthaft als rechtsmissbräuchlich gelten.
Das aktuelle Urteil steht denn auch in deutlichem Widerspruch zu einem erst rund drei Jahre alten Urteil des Zürcher Obergerichts, worin dieses nicht nur ein Revisionsgesuch gegen einen Strafbefehl gutgeheissen, sondern auch explizit festgehalten hat, dass selbst eine Einstellungsverfügung einen widersprechenden Strafentscheid gemäss Artikel 410 Absatz 1 litera b StPO darstellen könne und ein widersprechendes Gerichtsurteil nicht erforderlich sei (Urteil SR180026, E. II.5 betreffend den Vorwurf der Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung). Damit ist zu hoffen, dass das vorstehende obergerichtliche Urteil eine einmalige dogmatische Entgleisung darstellt und keine Verschärfung der Revisionspraxis gegenüber Strafbefehlen.
Artur Terekhov
Sozialversicherung
Keine Ergänzungs-leistungen für Parkplatz
Ein Parkplatz zählt nicht zum anerkannten Aufwand der Ergänzungsleistungen. Das gilt selbst dann, wenn der Platz in einem Mietvertrag zusammen mit der Wohnung vermietet wird.
Sachverhalt:
Die IV-Rente eines Berners reicht ihm nicht für die Bestreitung seines Lebensunterhalts. Er bezieht daher Ergänzungsleistungen (EL). Die Ausgleichskasse des Kantons Bern erfuhr, dass der Mann auch Geld für einen Parkplatz erhielt, und kürzte die Leistungen. Der Rentner beschwerte sich bis vor das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, der Parkplatz koste ihn nichts, er sei in der Miete inbegriffen. Damit hatte er keinen Erfolg. Laut Gericht handelt es sich um eine entgeltliche Leistung des Vermieters, die laut Gesetz nicht übernommen wird.
Aus den Erwägungen:
3.1 Mit der Veränderungsanzeige vom 8. Juli 2020 reichte der Beschwerdeführer einen Mietvertrag vom Mai 2020 mit einem Mietzins in der Höhe von 1350 Franken ein. Gemäss Mietvertrag schloss der Beschwerdeführer einen Vertrag über eine 3,5-Zimmer-Wohnung ab, einschliesslich u.a. eines Kellerabteils sowie eines Einstellplatzes. Weder die Position der Nebenkosten noch die des Einstellplatzes enthalten bezifferte Beträge.
3.1.1 Nach dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 lit. b ELG sind als Ausgaben der Mietzins einer Wohnung und die damit zusammenhängenden Nebenkosten anerkannt. Dabei handelt es sich einzig um die mit der Miete einer Wohnung zusammenhängenden Nebenkosten, wohingegen die Kosten für eine Garage oder einen Autoabstellplatz nicht anerkannt werden (WEL, Rz. 3235.01; vgl. auch Jöhl / Ursinger-Egger, a.a.O. S. 1752 Rz. 63). Ein Garagenplatz bildet nach dem Wortsinn nicht Bestandteil einer Wohnung, sondern ihres Aussenraumes unter oder neben dem Wohnhaus (vgl. Entscheid des BGer vom 25. November 2019, 9C_533/2019, E. 3.2.2, vom 9. August 2013, 9C_69/2013, E. 5).
3.1.2 Die Berechnungen der Beschwerdegegnerin in den Verfügungen vom 31. Juli 2020 und vom 7. Januar 2021 waren demnach offensichtlich falsch und die Festsetzung des EL-Anspruchs zweifellos unrichtig. Nach den einschlägigen Bestimmungen und unter Berücksichtigung der geltenden Praxis des Bundesgerichts (vgl., E. 3.1.1 hiervor) kann der Einstellplatz als Ausgabe nicht berücksichtigt werden, weshalb dieser Kostenanteil aus dem Mietzins auszuscheiden ist. Dies ist nicht geschehen. Somit liegt ein Rückkommenstitel im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG vor.
Die Beschwerdegegnerin hatte den Fehler offenbar im Juni 2021 bemerkt, denn mit Schreiben vom 18. Juni 2021 forderte sie den Beschwerdeführer auf, einen aufgeschlüsselten Mietvertrag (Nettomiete plus Nebenkosten ohne Einstellplatz) zuzustellen. Es folgten zwei Mahnungen zur Einreichung der geforderten Angaben resp. Unterlagen, worauf der Beschwerdeführer nicht reagierte. Daraufhin legte die Beschwerdegegnerin mit Verfügung vom 12. Oktober 2021 den neuen EL-Anspruch pro futuro (d. h. ab November 2021), ohne die Kosten für den Einstellplatz, fest. Dies ist nicht zu beanstanden.
3.1.3 Letztlich kann der Beschwerdeführer aus der Darstellung, er habe den Parkplatz unentgeltlich genutzt, nichts zu seinen Gunsten ableiten. Der Mietvertrag ist eindeutig; daraus ergibt sich, dass das Entgelt für den Parkplatz in der vereinbarten Miete enthalten ist und nicht gesondert und zusätzlich zur Miete bezahlt wird. Letzteres wird im Übrigen vom Beschwerdeführer auch nicht geltend gemacht. Mit dem Einstellplatz erhält der Beschwerdeführer eine geldwerte Leistung der Vermieterin, die grundsätzlich entgeltlich erfolgt. Selbst wenn die Vermieterin die nachgeschobene Behauptung der Unentgeltlichkeit des Parkplatzes bestätigen würde, änderte dies nichts daran, dass der Beschwerdeführer mit dem Parkplatz eine Leistung erhält, die in den EL in der erforderlichen Form zu berücksichtigen ist. Der Argumentation des Beschwerdeführers zu folgen, würde bedeuten, eine Rechtsumgehung zu schützen. Der Beschwerdeführer hat erst in der Beschwerde vom 21. April 2022 erklärt, der Einstellplatz werde kostenlos zur Verfügung gestellt.
3.1.4 In diesem Sinne ist weder das Rückkommen gestützt auf Art. 53 Abs. 2 ATSG noch die neue materielle Beurteilung zu beanstanden. Beim Mietzins berücksichtigte die Beschwerdegegnerin schliesslich, wie im Schreiben vom 16. September 2021 angekündigt, einen Betrag von 1200 Franken, der sich aus dem Bruttomietzins von 1350 Franken abzüglich eines Betrages von 150 Franken für den Einstellplatz zusammensetzte. Der Betrag von 150 Franken für den Parkplatz wurde von der Beschwerdegegnerin im marktüblichen Rahmen nach Ermessen festgelegt (vgl. Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [EVG; heute BGer] vom 24. Oktober 2005, P 17/05, E. 3.3; vgl. auch Urs Müller, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum ELG, 3. Aufl. 2015, Art. 10 N. 152), in welches das Gericht ohne triftigen Grund nicht eingreift (BGE 123 V 150, E. 2, S. 152). Als Folge der mangelnden Mitwirkung hat die Beschwerdegegnerin zu Recht den ortsüblichen Marktwert für die Miete eines Einstellplatzes im Rahmen eines nicht zu beanstandenden Ermessensentscheids festgelegt.
Verwaltungsgericht Bern, Urteil 200 22 237 vom 29.6.2022
Opferhilfe bei Anwaltskosten vorleistungspflichtig
Solange über die unentgeltliche Rechtspflege im Zivilverfahren nicht entschieden ist, erteilt die Opferhilfe in der Regel eine Gutsprache zur Übernahme der Anwaltskosten.
Sachverhalt:
Ein dreissigjähriger Gartenbauer erlitt bei seiner Arbeit eine Verletzung am Ringfinger. Daraufhin wurde ihm von einem Arzt des Kantonsspitals Aargau der Finger amputiert. Ein anderer Spezialist versicherte dem Mann im Rahmen einer Zweitmeinung, dass die Amputation speziell für einen Handwerker nicht sinnvoll gewesen war, und kritisierte die Erstbehandlung. Der Betroffene verlangt von der kantonalen Opferhilfestelle Kostengutsprache, um sich beim Zivilprozess gegen das Kantonsspital Aarau aus Ärztehaftpflicht von einem Anwalt vertreten zu lassen. Vor Gericht will er eine Genugtuung in der Höhe von 5000 Franken einklagen. Damit möchte er die grundsätzliche Haftung des Kantonsspitals bezüglich einer Fingerendgliedamputation gerichtlich klären lassen. Die Opferhilfestelle und der Regierungsrat des Kantons Aargau wiesen die Kostengutsprache ab. Der Mann gelangt mit einer Beschwerde an das kantonale Verwaltungsgericht.
Aus den Erwägungen:
2.2.1 Gemäss Art. 13 Abs. 2 OHG leisten die Beratungsstellen dem Opfer (und dessen Angehörigen) soweit nötig zusätzliche Hilfe (zur Soforthilfe gemäss Art. 13 Abs. 1 OHG), bis sich der gesundheitliche Zustand der betroffenen Person stabilisiert hat und bis die übrigen Folgen der Straftat möglich beseitigt oder ausgeglichen sind (längerfristige Hilfe). Die Beratungsstellen können die längerfristige Hilfe durch Dritte erbringen lassen (Art. 13 Abs. 3 OHG). Als leistungsberechtigte Hilfe Dritter gilt insbesondere die juristische Hilfe in der Schweiz, die als Folge der Straftat notwendig geworden ist (Art. 14 Abs. 1 OHG). Auf Hilfe durch eine erfahrene Fachperson, bei welcher es sich in aller Regel um eine Anwältin oder einen Anwalt handeln wird, kann nur dann verzichtet werden, wenn praktisch von Anfang an feststeht, dass eine Körperverletzung zu keiner dauernden Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führen wird. Wird anwaltliche Hilfe benötigt, besteht ein Anspruch auf Kostenvergütung gegenüber der Beratungsstelle. Diese hat unabhängig von anderen Leistungsverpflichteten, die möglicherweise für Anwaltskosten aufzukommen haben, Kostengutsprache zu leisten, soweit solche Hilfe erforderlich ist.
2.3.2 Analog hatte schon der Kantonale Sozialhilfedienst (KSD) in der Verfügung argumentiert und in Frage gestellt, ob dem Beschwerdeführer der Nachweis der Kausalität zwischen der Fingergliedamputation bzw. dem von ihm behaupteten ärztlichen Behandlungsfehler und einem allfälligen Erwerbsschaden (inklusive Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens durch Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Stellensuche) sowie einem etwaigen Haushaltsschaden gelingen würde. Ausserdem verwies der KSD den Beschwerdeführer auf die unentgeltliche Rechtspflege, über deren Leistungen die Opferhilfe ohnehin nicht hinausgehe.
2.3.3 Bei ihrer Argumentation übersehen oder übergehen die beiden Vorinstanzen einen zentralen Punkt, nämlich, dass der Beschwerdeführer mit der von ihm beabsichtigten Teilklage gegen das Kantonsspital Aargau auf eine (Teil-)Genugtuung in Höhe von 5000 Franken vorderhand noch keinen Erwerbs- oder Haushaltsschaden einzuklagen gedenkt, um die Beweis- und Verlustrisiken zu minimieren. Im Rahmen eines solchen (Pilot-)Prozesses müsste er als Zivilkläger folglich noch keinen Erwerbs- und/oder Haushaltsschaden und noch nicht die Kausalität zwischen der Fingergliedamputation bzw. einem ärztlichen Behandlungsfehler und einem derartigen Schaden nachweisen. Vielmehr würde für die Zusprechung der geltend gemachten Genugtuung der Nachweis genügen, dass bei der Fingergliedamputation ein ärztlicher Behandlungsfehler begangen wurde und dem Beschwerdeführer dadurch eine körperliche Beeinträchtigung entstanden ist, die unter Berücksichtigung der vom Unfallversicherer bereits ausgerichteten Integritätsentschädigung in Höhe von 6300 Franken eine (weitere) Genugtuung von 5000 Franken respektive ein Schmerzensgeld in der Gesamthöhe von 11 300 Franken rechtfertigt.
Die Erfolgschancen eines solchen Prozesses mit entsprechend eingeschränktem Prozessthema haben die Vorinstanzen nicht geprüft.
2.3.4 Aufgrund der Subsidiarität der Opferhilfe (Art. 4 OHG) ist die längerfristige Hilfe gemäss Art. 13 Abs. 2 OHG, darunter die juristische Hilfe, allerdings nur definitiv zu gewähren, wenn keine andere Person oder Institution zur Leistung an das Opfer verpflichtet ist. Das bedeutet, dass eine Kostenübernahme auf der Basis von Art. 2 lit. c OHG (Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter) bloss subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege nach dem einschlägigen Prozessrecht und Art. 29 Abs.3 BV greift, soweit sich diese unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes als unzureichend erweist (GOMM, a.a.O., Art. 4 N 22). Das betrifft auch die Übernahme von Anwaltskosten, die in einem zivilrechtlichen Haftpflichtprozess anfallen. Wird dem Opfer in diesem Prozess die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt, rechtfertigt sich eine staatliche Intervention gestützt auf Art. 2 lit. c und 13 Abs. 2 OHG nicht mehr, besteht mithin grundsätzlich kein Bedarf mehr für die Übernahme der Anwaltskosten durch die Opferhilfestelle, zumal das Opfer gestützt auf das OHG in der Regel keine weitergehenden Leistungen beanspruchen kann, als ihm im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege nach dem einschlägigen Prozessrecht oder nach den minimalen Verfahrensgarantien von Art. 29 Abs. 3 BV zugesprochen würden.
Bislang ist jedoch offen, ob dem Beschwerdeführer für eine anwaltliche Vertretung im beabsichtigten Zivilprozess gegen das Kantonsspital Aargau die unentgeltliche Rechtspflege gewährt wird. In einer Situation wie der vorliegenden, in welcher noch nicht über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im (noch nicht anhängig gemachten) Zivilverfahren entschieden wurde, gewähren die Opferhilfe-Beratungsstellen regelmässig Kostengutsprachen unter der Bedingung, dass keine unentgeltliche Rechtspflege gewährt wird und die Kosten nicht anderweitig gedeckt werden (sog. Ausfallgarantie). Dies entspricht auch der Praxis der Aargauer Behörden.
6. Zusammenfassend ist der vorinstanzliche Entscheid in teilweiser Gutheissung der vorliegenden Beschwerde aufzuheben und der KSD anzuweisen, dem Beschwerdeführer eine Kostengutsprache für die anwaltliche Unterstützung bei einer Teilklage gegen das Kantonsspital Aargau auf eine Genugtuung von 5000 Franken zu leisten.
Obergericht Aargau, Entscheid WBE.2015.53 vom 6.5.2022