Haftpflichtrecht
Versicherung haftet nicht bei grobem Selbstverschulden
Schweres Selbstverschulden eines Autofahrers schliesst eine Haftung der Haftpflichtversicherung aus.
Sachverhalt
Ein Autofahrer steuerte einen im Ausland gemieteten Wagen mit sechs Passagieren über einen unbewachten Bahnübergang. Das Auto wurde von einem Zug erfasst. Der Chauffeur starb. Seine Frau wurde schwer verletzt. Sie forderte vom Nationalen Garantiefonds, der für das ausländische Auto für die Haftpflichtleistungen zuständig ist, eine Genugtuung von 70'000 Franken. Das Handelsgericht Zürich wies die Klage ab.
Aus den Erwägungen
3.4.1 Infolge dieser Kollision verstarb der Lenker noch auf der Unfallstelle. Folglich resultierte der zu beurteilende Todesfall aus dem Betrieb des gefahrenen Motorfahrzeugs. Für die durch den Betrieb eines Motorfahrzeugs entstandenen Entschädigungsansprüche haftet in Anwendung von Art. 58 Abs. 1 SVG der Halter.
Vorliegend wurde das Unfallfahrzeug bei der O. S.P.A. gemietet. Alleinige Halterin des Unfallfahrzeugs blieb die ausländische Vermieterin, weshalb der Beklagte gestützt auf Art. 74 Abs. 2 lit. a SVG direkt für die Deckung allfälliger Ansprüche zuständig ist. Gemäss Art. 76b Abs. 1 SVG hat die Klägerin als Geschädigte ein direktes Forderungsrecht gegen den Beklagten. Demgemäss hat der Beklagte für Genugtuungsansprüche (vgl. BGE 124 III 182, E. 4.d) der Klägerin aus dem Unfalltod ihres Ehemannes einzustehen, soweit er sich nicht gestützt auf Art. 59 Abs. 1 SVG von der Haftung befreien kann.
3.4.2.3.1 Im Vordergrund des vorliegenden Verfahrens steht die Frage, ob dem verstorbenen Fahrzeuglenker im Zusammenhang mit dem Unfall ein Verschulden anzulasten ist. Die Sorgfaltswidrigkeit ergibt sich dabei aus dem Vergleich seines tatsächlichen Verhaltens mit dem hypothetischen Verhalten eines durchschnittlich sorgfältigen Menschen in der gleichen Situation (BGer Urteil 4A_131/2021 vom 11. Februar 2022, E. 1.2.).
Wie aufgezeigt, führt nur schweres Verschulden respektiv grobe Fahrlässigkeit, mithin die Ausserachtlassung elementarer Sorgfaltsregeln, deren Beachtung sich jedem vernünftigen Menschen in derselben Lage aufgedrängt hätte, zum gänzlichen Ausschluss einer Haftung des Beklagten.
Da nach übereinstimmenden Ausführungen der Parteien (nur) ein einfaches Andreaskreuz am Bahnübergang befestigt war, hätte er sich gemäss Art. 93 Abs. 4 lit. b SSV selber vergewissern müssen, dass kein Schienenfahrzeug nahte und der Übergang frei ist: Hätte er sich vergewissert, hätte er die herannahende Zugskomposition sehen müssen, wenn sie in Sichtweite war, und das Fahrzeug noch rechtzeitig anhalten können (vgl. Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV; Art. 32 Abs. 1 SVG). Sofern die Zugskomposition noch nicht in Sichtweite war, hätte der Lenker genügend Zeit gehabt, um den Bahnübergang ohne Kollision zu überqueren, sofern er zügig genug gefahren wäre.
Hätte der Lenker den Bahnübergang zu zögerlich überquert, hätte er gegen die in Art. 24 Abs. 2 VRV statuierten Sorgfaltspflichten verstossen. Hätte er gar auf dem Bahnübergang angehalten, so hätte er Art. 18 Abs. 2 lit. f VRV verletzt. Folglich hat der Fahrzeuglenker mit seinem tatsächlichen Verhalten in allen denkbaren Geschehensabläufen gegen in den Verkehrsvorschriften statuierte Sorgfaltspflichten verstossen und sich gemessen am Verhalten eines durchschnittlich sorgfältigen Menschen in seiner Situation sorgfaltswidrig verhalten. Am streitgegenständlichen Unfall ist ihm demnach ein Verschulden anzulasten.
3.4.2.3.6 Der streitgegenständliche Sachverhalt lässt sich in die aufgezeigte Wertungslinie des Bundesgerichts einreihen: Dem pflichtgemäss aufmerksamen Fahrzeuglenker musste, nachdem er auf einer langen Geraden parallel zu Gleisen gefahren war – was für ihn erkennbar war, – bewusst sein, dass er, wenn er auf die andere Seite der Gleise kommen wollte, diese Gleise überqueren musste.
Genauso musste ihm bekannt sein, dass auf den Gleisen vortrittsberechtigte Züge fahren könnten. In Gefahrensituationen wie der Überquerung eines unbewachten Bahnübergangs – die Klägerin bezeichnet den Bahnübergang selbst gar als extrem gefährlich – ist die geforderte Aufmerksamkeit erhöht (vgl. BGE 93 II 111, E. 10., 4A_453/2008 vom 22. Dezember 2008, E. 6. oder BGer Urteil 4A_91/2022 vom 31. Mai 2022, E. 4.2.).
3.4.2.4 Dem Beklagten gelingt die Erbringung des dreifachen Entlastungbeweises: Erstens trifft die Fahrzeughalterin kein ihr zurechenbares Verschulden an den vorgefallenen Ereignissen, zweitens lag keine fehlerhafte Beschaffenheit des Unfallfahrzeugs vor und drittens verschuldete der Fahrzeuglenker den Unfall, wobei sein Verhalten in Anbetracht der tatsächlichen Vorkommnisse und gemessen an der Wertungslinie des Bundesgerichts als grobfahrlässig qualifiziert werden muss. Entsprechend kann sich der Beklagte von seiner Haftung befreien.
4. Den Beklagten trifft eine Halterhaftung nach Art. 58 Abs. 1 SVG. Indessen gelingt ihm der Entlastungsbeweis von seiner Haftung. Namentlich überwiegt das Selbstverschulden des vortrittsbelasteten Fahrzeuglenkers die Betriebsgefahr des Halterfahrzeugs in einem Ausmass, dass diese nicht mehr ins Gewicht fällt und als adäquate Unfallursache ausgeschaltet wird:
Dadurch, dass der Fahrzeuglenker auf den Bahnübergang fuhr, ohne abschliessende Gewissheit darüber zu haben, ob ein vortrittsberechtigtes Schienenfahrzeug herannahte, hat er wichtige Verkehrsregeln schwer verletzt und elementare Regeln der Sorgfalt missachtet. Sein Verhalten lässt sich weder entschuldigen noch rechtfertigen. Bei Einhaltung der elementarsten Vorsichtsgebote wären die Geschehnisse nicht nur voraussehbar, sondern auch vermeidbar gewesen. Daher ist die Genugtuungsforderung der Klägerin vollumfänglich abzuweisen.
Handelsgericht Zürich, Urteil HG210238 vom 14.6.2023
Vertragsrecht
Filialschliessung ist wichtiger Grund für Kündigung
Die Verlegung des Trainingsorts eines Fitnesscenters um 31 Kilometer rechtfertigt die Kündigung des Abos aus wichtigen Gründen.
Sachverhalt
Ein Fitnesscenter in Nidwalden schloss eine Filiale. Ein Kunde kündigte sein Jahresabo per sofort. Begründung: Sein Anfahrtsweg zur nächsten Filiale hätte sich von 11 auf 31 Kilometer verlängert. Er forderte 816 Franken vom Abo zurück. Das Studio verweigerte die Rückzahlung. Die Allgemeinen Bedingungen würden vorsehen, dass Kunden keinen Anspruch auf Erstattung haben, wenn ein anderer Standort zur Verfügung stehe. Die Schlichtungsbehörde hiess die Klage des Kunden gut, das Obergericht bestätigte den Entscheid.
Aus den Erwägungen
4.2.1 Soweit die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe ein Kündigungsrecht des Beschwerdegegners anerkannt, macht sie sinngemäss eine Rechtsverletzung geltend. Somit ist in rechtlicher Hinsicht zu prüfen, ob ein ausserordentliches Kündigungsrecht des Beschwerdegegners bestand.
4.2.2 Gemäss den AGB Version 2.2020 hat der Kunde keinen Anspruch auf Preisrückerstattung, wenn er die bezahlte Leistung aus irgendwelchen Gründen nicht in Anspruch nimmt. Die AGB-Version 10.2020 sieht zudem vor, dass der Kunde keinen Anspruch auf Preisrückerstattung hat, falls ein Standort geschlossen werden muss und die Möglichkeit besteht, an einem anderen Standort zu trainieren.
Damit enthalten die AGB der Beschwerdeführerin zwar Regelungen betreffend Preisrückerstattung, nicht jedoch betreffend Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Vertragsrücktritts. Es entspricht indessen einem allgemeinen Grundsatz, dass Dauerschuldverhältnisse, wie auch hier eines vorliegt (vgl. Urteil Verwaltungsgericht Solothurn, VWBES.2020.28 vom 17.8.2020, E. 4.3, in: plädoyer 6/2020 vom 22. November 2020, wonach ein Fitnessvertrag als Dauerschuldverhältnis qualifiziert wird), von einer Partei bei Vorliegen von wichtigen Gründen, welche die Vertragserfüllung für sie unzumutbar machen, vorzeitig gekündigt werden können (BGE 138 III 304, E. 7, S. 319; BGE 128 III 428, E. 3c, S. 428 f.). Dieses Recht besteht, ohne dass es einer vertraglichen Abrede bedürfte.
Ein wichtiger Grund zur Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn die Bindung an den Vertrag für die Partei wegen veränderter Umstände ganz allgemein unzumutbar geworden ist, also nicht nur unter wirtschaftlichen, sondern auch unter anderen die Persönlichkeit berührenden Gesichtspunkten. Bei Vorliegen eines wichtigen Grundes, nach dem einer Partei eine Weiterführung des Vertrags nicht mehr zugemutet werden kann, besteht ohne weiteres ein Recht dieser Partei auf eine sofortige Auflösung eines Dauervertrages.
Es muss ihr unter dieser Voraussetzung möglich sein, sich vom Vertrag zu lösen. Bei besonders schweren Vertragsverletzungen ist ein wichtiger Grund regelmässig zu bejahen. Auch weniger gravierende Vertragsverletzungen können aber eine Fortsetzung des Vertrags für die Gegenpartei unzumutbar machen, wenn sie trotz Verwarnung oder Abmahnung immer wieder vorgekommen sind, sodass nicht zu erwarten ist, weitere Verwarnungen würden den Vertragspartner von neuen Vertragsverletzungen abhalten (vgl. BGE 138 III 304, E. 7, S. 319; BGE 128 III 428, E. 3c, S. 428 f.; Urteil des Bundesgerichts 4A_148/2011 vom 8. September 2011, E. 4.3.1).
Ob im Einzelfall ein wichtiger Grund vorliegt, entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen (Art. 4 ZGB). Es geht dabei um eine Billigkeitsentscheidung, die auf objektiver Interessenabwägung unter Beachtung der Umstände des zu beurteilenden Falls beruht (BGE 128 III 428, E. 4, S. 432; BGer 4A_589/2011 vom 5. April 2012, E. 7.1 [nicht publiziert in BGE 138 III 304]).
4.2.3 Der Beschwerdegegner stützt seine ausserordentliche Kündigung auf die per 30. Juni 2022 festgelegte Standortaufgabe des Fitnesscenters Y. Er macht geltend, die alternative Benützung des Standorts Z. sei für ihn aus persönlichen und logistischen Gründen nicht möglich. Bei Verlängerung des Fitnessabonnements sei er nicht darauf hingewiesen worden, dass der Standort in Y. schliesse und nur noch der Standort in Z. zur Verfügung stehe.
Z. liegt rund 31 km von Y. und X. (Wohnort des Beschwerdegegners) entfernt. Hingegen ist X. nur 11 km von Y. entfernt. Mit dem Standortwechsel wäre der Beschwerdegegner also gezwungen, einen 3-mal so langen Anfahrtsweg zum Trainieren in Kauf zu nehmen. Damit liegen veränderte Umstände im Sinne der dargelegten Rechtsprechung vor, welche eine Vertragsbindung unzumutbar machen.
Ein ausserordentliches Kündigungsrecht des Beschwerdegegners war somit gegeben. Die Schlichtungsbehörde hat zu Recht das Vorliegen eines ausserordentlichen Kündigungsgrundes als gegeben erachtet.
Obergericht Nidwalden, Urteil BAZ 23 6 vom 11.5.2023
Kreditausfall wegen fehlender Prüfung der Bonität
Vergibt eine Bank einen Konsumkredit, muss sie die Kreditfähigkeit vorgängig prüfen. Bei grobem Fehlverhalten verliert sie den Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens und auf Zahlung von Zinsen.
Sachverhalt
Die Cembra Money Bank gewährte einem Familienvater aus dem Kanton Zürich 15'000 Franken Kleinkredit zu einem Zins von 13,95 Prozent. Zudem schloss der Kunde eine Ratenversicherung für den Krankheitsfall ab. Der Vertrag wurde für fünf Jahre abgeschlossen. Der Schuldner zahlte jedoch nur einen Teil ab. Die Bank betrieb den Schuldner für den Restbetrag von 12'177 Franken. Dieser erhob Rechtsvorschlag gegen die Betreibung. Das Bezirksgericht Affoltern ZH verweigerte der Bank die provisorische Rechtsöffnung.
Aus den Erwägungen
4.3. Gemäss Art. 27a des Bundesgesetzes über den Konsumkredit vom 23. März 2001 muss die gewerbsmässig tätige Kreditgeberin oder die Schwarmkredit-Vermittlerin vor Vertragsabschluss die Kreditfähigkeit der Konsumentin oder des Konsumenten prüfen.
Die Konsumentin oder der Konsument gilt dann als kreditfähig, wenn sie oder er den Konsumkredit zurückzahlen kann, ohne den nicht pfändbaren Teil des Einkommens nach Artikel 93 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 11. April 1927 über Schuldbetreibung und Konkurs beanspruchen zu müssen (Art. 28 Abs. 2 KKG). Bei der Beurteilung der Kreditfähigkeit muss von einer Amortisation des Konsumkredits innerhalb von 36 Monaten ausgegangen werden, selbst wenn vertraglich eine längere Laufzeit vereinbart worden ist.
Die Kreditgeberin muss das betreibungsrechtliche Existenzminimum des Konsumenten ermitteln und berechnen, welcher Betrag dem Konsumenten von seinem Einkommen nach Abzug sämtlicher Verbindlichkeiten verbleibt. Die Kreditgeberin muss das relevante Informationsmaterial beschaffen und auswerten. Sie muss insbesondere die Angaben des Konsumenten mit denjenigen der Informationsstelle vergleichen und auf offensichtliche Unrichtigkeit überprüfen.
Das einseitige Einsetzen einer Arbeitswegpauschale auf dem Berechnungsblatt, ohne den Kreditnehmer vorgängig zur Angabe allfälliger Arbeitswegkosten eingeladen zu haben, dürfte die bei der Kreditfähigkeitsprüfung von der Kreditgeberin zu fordernde Sorgfaltspflicht nicht erfüllen. Das Gleiche gilt für die Auslagen für die auswärtige Verpflegung (Urteil Obergericht Bern vom 23. September 2016, ZK 16 148, E. 20.6.1).
Die gewerbsmässig tätige Kreditgeberin oder die Schwarmkredit-Vermittlerin darf sich auf die Angaben der Konsumentin oder des Konsumenten zu den finanziellen Verhältnissen (Art. 28 Abs. 3 und 4) oder zu den wirtschaftlichen Verhältnissen (Art. 29 Abs. 2 und 30 Abs. 1) verlassen. Sie kann von der Konsumentin oder dem Konsumenten einen Auszug aus dem Betreibungsregister und einen Lohnnachweis oder, wenn keine unselbständige Tätigkeit vorliegt, sonstige Dokumente einfordern, die über deren oder dessen Einkommen Auskunft geben (Art. 31 Abs. 1 KKG).
Vorbehalten bleiben Angaben, die offensichtlich unrichtig sind oder denjenigen der Informationsstelle widersprechen (Art. 31 Abs. 2 KKG). Zweifelt die gewerbsmässig tätige Kreditgeberin oder die Schwarmkredit-Vermittlerin an der Richtigkeit der Angaben einer Konsumentin oder eines Konsumenten, so muss sie deren Richtigkeit anhand einschlägiger amtlicher oder privater Dokumente überprüfen.
Sie darf sich bei der Überprüfung nicht mit den Dokumenten nach Absatz 1 begnügen (Art. 31 Abs. 3 KKG). Keine Angabe liegt beim Unterzeichnen des von der Kreditgeberin ausgefüllten Berechnungsblatts vor, hat doch die Budgetberechnung selbst auf den (vorgängig gemachten) Angaben des Kreditnehmers zu beruhen.
4.4. Gemäss Kreditantrag vom 14. Februar 2015 wurden dem Gesuchsgegner keine Fragen zu Arbeitsfahrkosten, Verpflegungskosten, Betreuungskosten und Steuern gestellt. Es sind lediglich die Positionen «Andere Verpflichtungen des Antragstellers CHF/Mt.» und «Andere Verpflichtungen des Ehepartners CHF/Mt.» ersichtlich, die nicht ausgefüllt wurden.
Indem die Gesuchstellerin keine Verpflegungskosten berücksichtigt hat und für die Fahrkosten einen Betrag von 100 Franken in der Budgetberechnung eingesetzt hat, ohne den Gesuchsgegner vorgängig dazu befragt zu haben, hat sie die bei der Kreditprüfung geforderte Sorgfaltspflicht nicht erfüllt (Urteil OGer Bern vom 23. September 2016, ZK 16 148, E. 20.5.8 und E. 20.6.1).
Auch wurden die Fremdbetreuungskosten für das Kind des Gesuchsgegners nicht berücksichtigt und der Gesuchsgegner dazu nicht befragt, obwohl gemäss Kreisschreiben weitere notwendige Auslagen zu berücksichtigen sind. Dass der Gesuchsgegner und seine damalige Ehefrau ein Kind hatten und dass sie beide zusammen 180 Prozent arbeiteten, war der Gesuchstellerin bewusst.
Zudem hatte die Gesuchstellerin gemäss eigenen Angaben der damaligen Ehefrau des Gesuchsgegners auch bereits einen Kredit vergeben, weshalb ihr die persönlichen und finanziellen Verhältnisse der damaligen Ehefrau des Gesuchsgegners bekannt waren beziehungsweise hätten bekannt sein müssen.
Schliesslich braucht nicht näher ausgeführt zu werden, dass dem Gesuchsgegner mit einem ausbezahlten Lohn von Fr. 793.50 kein Kredit hätte gewährt werden dürfen, hätte er doch mit diesem Lohn seine Ausgaben bei weitem nicht decken können. Indem die Gesuchstellerin dem Gesuchsgegner dennoch einen Kredit über 15 000 Franken zuzüglich 13,95 Prozent Jahreszins gewährte und zusätzlich ein Kreditversicherungsvertrag mit einer monatlichen Rate von Fr. 26.90 abgeschlossen wurde, verletzte sie Art. 28 Abs. 4 KKG, wonach bei der Beurteilung der Kreditfähigkeit von einer Amortisation des Konsumkredits innerhalb von 36 Monaten ausgegangen werden muss.
4.5. Dadurch, dass die Gesuchstellerin sich hinsichtlich des Lohnes des Gesuchsgegners, der unumgänglichen Berufsauslagen und der Kinderbetreuungskosten zu wenige Informationen beschafft hat, die erhaltenen Informationen nicht hinterfragt hat und den Kredit der damaligen Ehefrau des Gesuchsgegners nicht berücksichtigt hat, hat sie in schwerwiegender Weise gegen ihre Kreditfähigkeitsprüfungspflicht verstossen.
4.6. Die Gesuchstellerin verliert damit gemäss Art. 32 Abs. 1 KKG die von ihr gewährte Kreditsumme samt Zinsen und Kosten. Die provisorische Rechtsöffnung ist demnach zu verweigern.
Bezirksgericht Affoltern, Urteil EB220135 vom 19.4.2023 (vollständig publiziert unter www.konsum kreditgesetz.ch/de/rechtsprechung
Zivilprozessrecht
Einschreibebrief: Keine Verlängerung der Beschwerdefrist
Amtliche Schreiben gelten am siebten Tag nach dem Zustellversuch der Post als zugestellt. Eine Verlängerung der Abholfrist bei der Post ändert daran nichts.
Sachverhalt
Ein Grundeigenümer aus dem Kantons Basel-Landschaft bekam mit einem eingeschriebenen Brief eine Verfügung von der Baurekurskommission. Der Pöstler konnte ihm den Brief nicht aushändigen und warf eine Abholeinladung mit einer siebentägigen Frist in den Briefkasten. Der Eigentümer verlängerte die Abholfrist bei der Post um weitere sieben Tage und holte den Brief am Ende der verlängerten Frist ab. Dann erhob er Beschwerde. Das Kantonsgericht Baselland beurteilte die Eingabe als verspätet.
Aus den Erwägungen
2.2 Eine postalische Sendung gilt als zugestellt, wenn diese entweder durch den Adressaten oder eine am angegebenen Wohn- oder Geschäftsdomizil anzutreffende bezugsberechtigte Person entgegengenommen wird. Versendet eine Behörde ein Schriftstück durch eingeschriebene Briefpost und wird die Postsendung an der Haustür nicht entgegengenommen, wird dem Adressaten eine Abholeinladung in den Briefkasten gelegt.
Die Sendung gilt dann in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in welchem sie auf der Post abgeholt wird. Geschieht das nicht innert der Abholfrist von sieben Tagen, so gilt eine eingeschriebene Sendung als am letzten Tag dieser Frist zugestellt, sofern der Adressat mit der Zustellung hatte rechnen müssen (sog. Zustellfiktion; vgl. KGE VV vom 23. April 2020 [810 20 72], E. 3.3; BGE 141 II 429, E. 3.3; BGE 138 III 225, E. 3.1).
Diese von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze kommen zum Tragen, wenn das kantonale Recht die Frage nicht anders regelt, wie das im Kanton Basel-Landschaft der Fall ist (KGE VV vom 15. Dezember 2020 [810 19 211], E. 4.2; BGE 127 I 31, E. 2a/aa).
2.3 Der angefochtene Entscheid wurde am 31. März 2023 per Einschreiben an die Adresse der Beschwerdeführer versandt. Anlässlich des Zustellungsversuchs vom 3. April 2023 konnte die Sendung nicht persönlich übergeben werden und wurde den Beschwerdeführern mittels Abholeinladung zur Abholung bis 11. April 2023 gemeldet. Gemäss der elektronischen Sendungsverfolgung der Post («Track & Trace») verlängerten die Empfänger die Abholfrist am 5. April 2023. Sie holten die Sendung schliesslich am 17. April 2023 am Postschalter ab.
Aufgrund der Zustellfiktion markiert der 10. April 2023 den Beginn der Rechtsmittelfrist und können die Beschwerdeführer aus der tatsächlichen Entgegennahme des angefochtenen Entscheids am 17. April 2023 nichts zu ihren Gunsten ableiten.
2.5 Die Beschwerdefrist ist eingehalten, wenn die Handlung während ihres Laufes vorgenommen wird. Schriftliche Eingaben müssen spätestens am letzten Tag der Frist bei der Bestimmungsstelle eingetroffen oder für sie der schweizerischen Post übergeben sein. Die am 25. April 2023 bei der Post aufgegebene Beschwerde ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer verspätet.
Kantonsgericht Baselland, Urteil 810 23 90 vom 3.5.2023
Keine Entschädigung bei freiwilliger Gerichtsbarkeit
Das Obergericht Zürich verwehrt einer Partei trotz Obsiegens eine Prozessentschädigung, weil es sich um ein nicht streitiges Verfahren handle. Dafür fehle eine gesetzliche Grundlage.
Sachverhalt
Ein Unternehmen aus dem Bezirk Bülach beantragte beim zuständigen Einzelrichter ein gerichtliches Parkverbot auf seinem Grundstück. Der Einzelrichter trat auf das Gesuch nicht ein, da es sich um eine im Privateigentum stehende, jedoch öffentliche Strasse handle. Das Obergericht Zürich hiess die Berufung der Firma gut und wies die Sache an das Bezirksgericht zurück – allerdings ohne Zusprache einer Parteientschädigung.
Aus den Erwägungen
4.1. Dem Geltungsbereich des SVG sind öffentliche Strassen unterstellt. Diese stellen – wie die Vorinstanz korrekt erwog – die von Motorfahrzeugen, motorlosen Fahrzeugen oder Fussgängern benützten Verkehrsflächen dar, die nicht ausschliesslich privatem Gebrauch dienen (Art. 1 Abs. 1 und 2 VRV). Nicht massgebend ist, ob die Strasse in privatem oder öffentlichem Eigentum steht; vielmehr ist massgebend, ob sie dem allgemeinen Verkehr dient. Letzteres trifft zu, wenn sie einem unbestimmbaren Personenkreis zur Verfügung steht, selbst wenn die Benutzung nach Art oder Zweck eingeschränkt ist (BGE 148 IV 30, E. 1.4.2.).
Eine im privaten Eigentum stehende Strasse kann dem öffentlichen Verkehr – und damit der Herrschaft des SVG – jedoch entzogen werden, wenn ein Wille des Verfügungsberechtigten zur Einschränkung vorliegt. Dieser Wille des Verfügungsberechtigten muss aber für Dritte durch ein signalisiertes Verbot oder durch eine Abschrankung kenntlich gemacht sein (Weissenberger, Kommentar SVG und OBG, 2. Auflage 2015, Art. 1 N 7; Schaffhauser, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band I, 2. Auflage 2002, Rz. 169; BGE 148 IV 30, E. 1.4.2. mit Verweis auf BGE 104 IV 105, E. 3 und BGer 6B_673/2008 vom 8. Oktober 2008, E. 1.1; je mit Hinweis).
4.2. Da die Besucherparkplätze auf der Liegenschaft der Gesuchstellerin einem unbestimmten Personenkreis zur Verfügung stehen, scheint die Auffassung der Vorinstanz, es handle sich um eine öffentliche Strasse im Sinne von Art. 1 Abs. 1 SVG, nachvollziehbar.
Die Frage kann jedoch offenbleiben. Denn entgegen der Auffassung der Vorinstanz besteht keine Grundlage dafür, dass Zivilgerichte für den Erlass solcher Verbote unzuständig sind, wenn die Strasse öffentlich im Sinne des SVG ist. Weder das SVG noch seine Ausführungsverordnungen verbieten den Erlass eines gerichtlichen Verbots auf im Privateigentum stehenden (öffentlichen) Strassen im Sinne des SVG.
5. Da die Vorinstanz auf das Gesuch um Erlass eines gerichtlichen Verbots zu Unrecht nicht eingetreten ist und damit den materiellen Anspruch der Gesuchstellerin nicht geprüft hat, ist das Verfahren im Sinne von Art. 318 Abs. 1 lit. c Ziff. 1 ZPO zurückzuweisen.
6.2. Aufgrund des Ausgangs des Verfahrens ist für das Berufungsverfahren keine Entscheidgebühr zu erheben. Eine aus der Staatskasse auszurichtende Parteientschädigung kommt – mangels gesetzlicher Grundlage – nur in ganz besonderen Fällen in Frage (vgl. BGE 140 III 385, E. 4.1 mit Verweis auf BGE 138 III 471, E. 7; BGE 139 III 475, E. 2.3). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
Obergericht Zürich, Urteil LF220106 vom 23.5.2023
Kommentar
Das Obergericht hob vorliegend einen Nichteintretensentscheid des Bezirksgerichts Bülach zu Recht auf, welches seine Zuständigkeit zum Erlass eines gerichtlichen Verbots nach Artikel 258 ZPO auf einer öffentlich zugänglichen, nicht aber dem Gemeingebrauch gewidmeten Privatstrasse verneint hatte.
Sosehr diese obergerichtliche Haltung überzeugt und dem privatrechtlichen Eigentumsschutz zum Durchbruch verhilft, so wenig kann aber den kostenrechtlichen Ausführungen in der äusserst kurzen Erwägung 6.2 gefolgt werden. Darin wird festgehalten, eine Parteientschädigung aus der Staatskasse komme nur in ganz besonderen Fällen in Frage.
Implizit liegt jener Erwägung wohl die bundesgerichtliche Rechtsprechung für gewöhnliche Zivilprozesse – mithin Mehrparteienverfahren – zugrunde, wonach die rechtsmittelbeklagte Partei nur in den seltenen Fällen einer Justizpanne – im Sinne eines von ihr nicht mitverschuldeten krassen Verfahrensfehlers – von der Kostenpflicht entlastet wird, wenn sie sich zugleich mit dem angefochtenen Entscheid nicht identifiziert (so etwa BGer 4A_595/2019, E. 3.1), zumal Artikel 107 Absatz 2 ZPO nach Wortlaut nur eine Gerichtskostenauflage, nicht aber eine solche einer Parteientschädigung an den Kanton erlaube (BGE 140 III 385, E. 4.1).
Auf die an jener Praxis geäusserte Lehrkritik, wonach dessen ungeachtet Artikel 108 ZPO als lex specialis auch für den Staat gelte und daher eine Parteientschädigung zulasten des Gemeinwesens erlaube (vgl. Hans Schmid /
Ingrid Jent-Sorensen, in: Paul Oberhammer / Tanja Domej / Ulrich Haas, Kurzkommentar ZPO, 3. Aufl., Basel 2021, Art. 107, N 15), muss vorliegend jedoch nicht noch einmal vertieft eingegangen werden.
Denn das Obergericht übersieht schlicht einen bereits über sieben Jahre alten bundesgerichtlichen Leitentscheid, gemäss welchem jedenfalls bei Einparteienverfahren der erst im Rechtsmittelverfahren obsiegenden Partei eine Prozessentschädigung zuzusprechen ist.
Dies aufgrund der zutreffenden Überlegung, dass die Erstinstanz diesfalls eine gegenparteiähnliche Stellung einnehme und ohne deren falsche Rechtsanwendung erst gar kein Rechtsmittelverfahren nötig geworden wäre (BGE 142 III 110, E. 3.3). Bei gegen die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege durch ein Bezirksgericht erfolgreich geführten Beschwerden entspricht dies im Übrigen auch heute schon der konstanten obergerichtlichen Praxis (statt vieler: Obergericht Zürich, Urteil PC220026 vom 28.9.2022, Erwägung 4).
In diesem Sinne ist sehr zu hoffen, dass das Zürcher Obergericht – in Nachachtung der Präjudizienbindung gegenüber dem Bundesgericht – die staatliche Pflicht zur Entrichtung einer Parteientschädigung bei Obsiegen erst vor Rechtsmittelinstanz auf sämtliche Einparteienverfahren ausdehnt, insbesondere die durchaus praxisrelevanten Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Denn die gegenteilige Praxis hält weder vor den bundesgerichtlichen Vorgaben noch dem Verursacherprinzip stand.
Artur Terekhov
Betreibungsrecht
Existenzminimum: Kinder im Ausland senken Kosten
Wer im Ausland wohnt, hat tiefere Lebenshaltungskosten. Daher dürfen die Betreibungsämter den Grundbedarf der Schuldner tiefer ansetzen und eine höhere pfändbare Quote festlegen.
Sachverhalt
Der Kanton Wallis hat von einer Frau den Auftrag, ihre Alimente einzutreiben. Der Kanton betrieb den Ex-Mann der Frau. Dieser arbeitet während der Woche im Kanton Solothurn und lebt an den Wochenenden bei seiner zweiten Frau und der Tochter in Frankreich. Das Betreibungsamt in Solothurn legte den Grundbedarf des Schuldners bei 1700 Franken fest und denjenigen seiner Tochter bei 400.
Der Kanton Wallis erhob dagegen Beschwerde vor dem Obergericht Solothurn. Er forderte, der Grundbedarf sei zu senken, da diese gemeinsam in Frankreich leben würden und die Lebenshaltungskosten dort tiefer seien. Das Obergericht reduzierte den Grundbedarf der Tochter, jedoch nicht jenen des Schuldners.
Aus den Erwägungen
2.1 Es ist auf die im Unterhaltsrecht geltende Rechtsprechung zu verweisen, welche auch im vorliegenden Fall relevant ist: Wohnt der Unterhaltspflichtige im Ausland, so ist bei der Berechnung des Grundbetrags die Lebenshaltung dieses Landes zu berücksichtigen (vgl. Urteil 5A_462/2010 vom 24.10.2011, E. 3.1). Der unterschiedliche Lebensstandard in verschiedenen Ländern wird in der Praxis anhand statistisch erhobener Verbraucherwährungsparitäten oder internationaler Kaufkraftvergleiche ermittelt.
Die Rechtsprechung hält es für zweckmässig, auf die Erhebungen der internationalen Grossbanken oder die Daten des Statistischen Bundesamtes zurückzugreifen (Urteile 5A_246/2015 vom 28. August 2015, E. 4.2; 5A_736/2007 vom 20. März 2008, E. 3.2; zum konkreten Fall der Auslandsstatistik, siehe Urteil 5A_503/2017 vom 14. Mai 2018.
2.2 Wie das Betreibungsamt korrekt ausgeführt hat, ist der Grundbetrag für Ehepaare von 1700 Franken im Vergleich zum Grundbetrag für alleinstehende Personen von 1200 Franken tiefer, da man von einem entsprechenden Synergieffekt ausgeht. Ein solcher Synergieeffekt kommt vorliegend jedoch nur bedingt zum Tragen, da der Schuldner nur an den Wochenenden bei seiner Ehefrau und Tochter weilt, während er sich unter der Woche in der Schweiz aufhält.
Zudem profitiert er damit nur teilweise von den tieferen Lebenshaltungskosten. Demnach rechtfertigt es sich nicht, den Ehegattengrundbetrag von 1700 Franken zu kürzen. Dagegen erscheint eine Kürzung des Grundbetrages der ebenfalls im Ausland wohnhaften Tochter des Schuldners von 400 Franken aufgrund der tieferen Lebenshaltungskosten entsprechend der Argumentation des Beschwerdeführers auf 280 Franken gerechtfertigt.
3. Die Beschwerde ist demnach in dem Sinne teilweise gutzuheissen, dass der Grundbetrag der Tochter auf 280 Franken zu senken ist. Im Übrigen ist die Beschwerde, soweit diese nicht gegenstandslos geworden ist, abzuweisen.
Obergericht Solothurn, Urteil SCBES.2023.19 vom 7.6.2023
Strafrecht
Höchststrafe darf nicht überschritten werden
Das Strafgesetzbuch sieht für Geldstrafen ein Höchstmass von 180 Tagessätzen vor. Höhere Geldstrafen sind auch beim Widerruf von bedingten Vorstrafen nicht zulässig.
Sachverhalt
Ein Beschuldigter aus dem Kanton Luzern wurde mit Strafbefehlen zu bedingten Geldstrafen von insgesamt 105 Tagessätzen verurteilt. Während der Probezeit beging er zwei Ehrverletzungen. Das Bezirksgericht widerrief die Vorstrafen und verurteilte den Mann zu einer Geldstrafe von insgesamt 210 Tagessätzen.
Das Strafgesetzbuch sehe zwar bei Geldstrafen höchstens 180 Tagessätze vor. Es könne jedoch nicht im Interesse des Beschuldigten sein, dass er bei einem Rückfall statt zu einer Geldstrafe zu einer Freiheitsstrafe verurteilt würde. Eine höhere Geldstrafe sei daher angemessen. Das Kantonsgericht Luzern hingegen reduzierte die Geldstrafe auf 180 Tagessätze.
Aus den Erwägungen
4.6.1.4 Die zweite Gesetzeswidrigkeit liegt darin, dass die Vorinstanz im Rahmen ihrer Gesamtstrafenbildung zufolge des Widerrufs bedingt ausgesprochener Geldstrafen die in Art. 34 Abs. 1 StGB statuierte Obergrenze von 180 Tagessätzen überschritt.
a. Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet das Gericht in sinngemässer Anwendung von Art. 49 StGB eine Gesamtstrafe (Art. 46 Abs. 1 StGB). Bei der Bildung der Gesamtstrafe ist die für die Probezeitdelikte ausgefällte Strafe als Einsatzstrafe einzusetzen und anschliessend durch die widerrufene Strafe angemessen zu erhöhen. Daraus ergibt sich die Gesamtstrafe (BGE 145 IV 146, E. 2.4.2 mit Hinweisen).
Vorliegend setzte die Vorinstanz die Einsatzstrafe für die Probezeitdelikte auf 120 Tagessätze fest. Im Rahmen der Gesamtstrafenbildung zufolge Widerrufs des bedingten Vollzugs von Geldstrafen von insgesamt 105 Tagessätzen erhöhte sie die Einsatzstrafe asperierend um 90 Tagessätze und setzte die Gesamtstrafe damit auf 210 Tagessätze fest.
Die Vorinstanz erwog, die Gesamtstrafenbildung stosse an ihre Grenzen, wenn aufgrund der neuen Delinquenz eine Gesamtstrafe von über 180 Tagessätzen adäquat sei. Es sei dem Gericht dann nur möglich, auf einen Widerruf zu verzichten und die Probezeit zu verlängern, oder bei einem Widerruf der bedingt ausgesprochenen Geldstrafe für das neue Delikt eine allenfalls bedingte Freiheitsstrafe auszufällen. Ein solches Ergebnis entspreche indes unter Umständen nicht den Vorgaben von Art. 41 StGB und sei nicht verhältnismässig.
Vorliegend seien keine Gründe ersichtlich, weshalb gegenüber dem Beschuldigten für die mehrfache Beschimpfung nach Art. 177 Abs. 1 StGB eine für ihn – anstelle einer Geldstrafe – ungünstigere Freiheitsstrafe auszusprechen sei. Gleichwohl könne es nicht angehen, dass der Beschuldigte doppelt privilegiert würde, indem auf einen Widerruf verzichtet oder die Probezeit lediglich verlängert würde.
Je nach Vorgehen verletze das Gericht deshalb bei der Strafzumessung den schon immer geltenden Grundsatz in Art. 47 Abs. 1 StGB, die Strafe nach dem Verschulden zu bemessen, oder aber es übersteige das seit dem Jahr 2018 in Art. 34 Abs. 1 StGB geltende gesetzliche Höchstmass der Geldstrafe von 180 Tagessätzen. Bei derartigen Konstellationen – Widerruf einer höheren altrechtlichen Geldstrafe und neurechtliche Gesamtstrafenbildung mit einer weiteren Geldstrafe – müsse es erlaubt sein, bei der Gesamtstrafenbildung über die 180 Tagessätze hinauszugehen.
Wären die zu widerrufenden Vorstrafen des Beschuldigten insgesamt noch höher ausgefallen, bspw. 180 Tagessätze und mehr, könnte man ihn andernfalls unter strikter Berücksichtigung von Art. 34 Abs. 1 StGB zu keiner zusätzlichen Geldstrafe mehr verurteilen. Eine derartige Plafonierung der Gesamtstrafe im Bereich der Geldstrafen könne nicht im Sinne des Gesetzgebers sein.
b. Der Ansicht der Vorinstanz kann aus den nachfolgenden Gründen nicht gefolgt werden. Nach Art. 34 Abs. 1 StGB beträgt die Geldstrafe, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens 180 Tagessätze. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen der auf 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Revision des Sanktionenrechts bewusst entschieden, diese Obergrenze nach Art. 49 Abs. 1 Satz 3 StGB auch bei der Gesamtstrafenbildung gelten zu lassen.
Dass diese Lösung bei mehrfacher leichter Kriminalität zu unbilligen Ergebnissen führt, ist nach Bundesgericht hinzunehmen und rechtfertigt kein systemwidriges und ergebnisorientiertes Abweichen vom Willen des Gesetzgebers. Eine Gesetzesänderung ist dem Gesetzgeber vorbehalten und kann nicht auf dem Wege einer nicht gesetzeskonformen Auslegung von Art. 49 StGB erfolgen (BGE 144 IV 313, E. 1.1.3, BGE 144 IV 217, E.3.6).
Ebenso bewusst hat sich der Gesetzgeber im Rahmen der Revision des Sanktionenrechts in Kenntnis der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu aArt. 46 Abs. 1 StGB und der darin geäusserten Bedenken beim Widerruf bedingt ausgesprochener Vorstrafen für das Konzept der Gesamtstrafenbildung «in sinngemässer Anwendung» von Art. 49 StGB entschieden (BGE 145 IV 146, E.2.3.2 und 2.3.4).
Was unter sinngemässer Anwendung zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber nicht ausformuliert. Richtig dürfte es sein, die zu Art. 49 StGB bestehende Lehre und Rechtsprechung auch bei der Gesamtstrafenbildung zufolge Widerruf zu beachten (Bertschinger, Gesamtstrafenbildung bei Nichtbewährung, Eine Untersuchung des Asperationsprinzips nach Widerruf des bedingten Strafaufschubs, Diss. Zürich 2022, N 259).
Im Lichte des Grundsatzes «nulla poena sine lege certa» wäre es jedenfalls unzulässig, aufgrund dieser Formulierung bei der Gesamtstrafenbildung zufolge Widerrufs einer bedingt ausgesprochenen Vorstrafe die Obergrenze der Geldstrafe zu überschreiten; dazu bedürfte es einer klaren gesetzlichen Grundlage.
In der Lehre wird einhellig die Auffassung vertreten, dass die Obergrenze der Geldstrafe daher auch bei einer Gesamtstrafenbildung infolge Widerrufs zu beachten sei (Bertschinger, a.a.O., N 65; Niggli / Maeder, «Der Widerspenstigen Zähmung, oder viel Lärm um nichts? – Zur Revision des AT StGB, insbesondere Art. 46 Abs. 1 nStGB», in: Festschrift für Andreas Donatsch [Hrsg. Jositsch / Schwarzenegger/Wohlers], Zürich 2017, S. 160; vgl. Heimgartner, StGB/JStG Kommentar [Hrsg. Donatsch], 21. Aufl. 2022, Art. 46 StGB N 1c). Auch das Obergericht Zürich ist zu diesem Schluss gelangt (Urteile des Obergerichts Zürich SB210144 vom 7.3.2022, E.2.6, und SB190144 vom 6.7.2021, E.6.9.5.2).
Das Bundesgericht hat sich im Urteil 6B_968/2019 vom 14. September 2020 am Rande ebenfalls zu dieser Problematik geäussert. Es erwog, das Berufungsgericht habe verkannt, dass nach neuem Recht und neuer Rechtsprechung bei Widerruf einer bedingten Strafe eine Gesamtstrafe mit den während der Probezeit begangenen Delikten zu bilden gewesen wäre, da gleichartige Strafen vorlagen. Bei der neu vorzunehmenden Strafzumessung werde die Vorinstanz beachten müssen, dass das Gericht bei der Bildung der Gesamtstrafe an das gesetzliche Höchstmass jeder Strafart gebunden sei.
Diese Erwägungen zeigen, dass nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung das Höchstmass einer Strafart auch bei der Gesamtstrafenbildung zufolge Widerrufs von bedingt ausgesprochenen Strafen zu beachten ist. Der Argumentation der Vorinstanz kann somit nicht gefolgt werden. Es ist Sache des Gesetzgebers, die Problematik der Obergrenze der Geldstrafe anzugehen (vgl. Bertschinger, a.a.O., N 360; a.A. Heimgartner, a.a.O., Art. 46 StGB N 1c, der dies als Aufgabe der Rechtsfortbildung betrachtet).
Wie zu verfahren ist, wenn eine altrechtliche Geldstrafe widerrufen wird, die das aktuelle für die Geldstrafe vorgesehene Höchstmass von 180 Tagessätzen übersteigt, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz wird hier keine altrechtliche Geldstrafe widerrufen. Der Beschuldigte hat sämtliche Delikte, die den zu widerrufenden bedingten Geldstrafen zugrunde liegen, nach Inkrafttreten des neuen Rechts begangen.
In der Lehre werden verschiedene Lösungsansätze diskutiert, um bei der Gesamtstrafenbildung zufolge Widerrufs einer bedingten Vorstrafe der Problematik des Höchstmasses der Geldstrafe zu begegnen. Der erste Lösungsansatz besteht darin, für die Probezeitdelikte anstelle einer Geldstrafe eine Freiheitsstrafe auszusprechen (vgl. Bertschinger, a.a.O., N 245; Niggli/Maeder, a.a.O., S. 159). Dieser Lösungsansatz hilft hier jedoch nicht weiter, da das Gesetz für die vorliegenden Probezeitdelikte nur die Geldstrafe als mögliche Strafart vorsieht.
Ohnehin ist es nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung ausgeschlossen, eine Freiheitsstrafe nur deshalb auszusprechen, um das gesetzliche Höchstmass der Geldstrafe zu umgehen (BGE 144 IV 217, E.3.3.3, und 144 IV 313, E.1.1.3; BGer-Urteil 6B_968/2019 vom 14.9.2020, E.7.4; vgl. Niggli/Maeder, a.a.O., S. 159).
Der zweite Lösungsansatz besteht darin, die Strafart der widerrufenen Strafe von Geldstrafe in Freiheitsstrafe zu ändern (vgl. Niggli / Maeder, a.a.O., S. 159 f.). Auch dieser Lösungsansatz ist jedoch mit dem geltenden Recht nicht vereinbar. Die in aArt. 46 Abs. 1 StGB noch vorgesehene Möglichkeit, die Art der widerrufenen Strafe zu ändern, wurde im neuen Sanktionenrecht abgeschafft.
Zudem hat es das Bundesgericht bereits in seiner Rechtsprechung zu aArt. 46 Abs. 1 StGB abgelehnt, die widerrufene bedingte Vorstrafe in eine schwerere Strafart umzuwandeln (BGE 145 IV 146, E.2.1, und BGE 137 IV 249, E.3.4.3; ablehnend auch Niggli / Maeder, a.a.O., S. 159 f.).
Als dritter Lösungsansatz wird der Verzicht auf den Widerruf der Vorstrafe bei gleichzeitiger Verlängerung der Probezeit diskutiert (Bertschinger, a.a.O, N 65; Niggli / Maeder, a.a.O., S. 160). Dagegen wird eingewandt, dieses Vorgehen sei gestützt auf den Gesetzeswortlaut bei einer offenkundigen Schlechtprognose nicht vertretbar (Bertschinger, a.a.O, N 65; Niggli / Maeder, a.a.O., S. 160). Dem ist zuzustimmen.
Es ist wie bei der Strafartenwahl unzulässig, auf den Widerruf im Rahmen der Gesamtstrafenbildung ergebnisorientiert zum Nachteil der beschuldigten Person zu verzichten. Vorliegend kommt hinzu, dass die Widerrufe der bedingt ausgesprochenen Geldstrafen bereits in Rechtskraft erwachsen sind.
Zusammengefasst hat der gesetzgeberische Wille zur Begrenzung der Geldstrafe auf maximal 180 Tagessätze zur Folge, dass im Rahmen der Gesamtstrafenbildung eine widerrufene Vorstrafe womöglich zu einem Grossteil oder gar vollständig von der für die Probezeitdelikte ausgesprochenen Strafe absorbiert wird.
Die klare Gesetzeslage lässt keinen Spielraum für abweichende Lösungen und ist zu respektieren. Die Vorinstanz hat das Recht verletzt, indem sie zur Verhinderung dieser Absorption das Höchstmass der Geldstrafe überschritt. Die Änderung der aktuellen Rechtslage ist dem Gesetzgeber vorbehalten.
Kantonsgericht Luzern, Urteil 4M 22 70 vom 20.3.2023
Strafvollzug
Haftentlassung nur bei Ausreise aus der Schweiz
Die Strafvollzugsbehörden dürfen die Haftentlassung wegen guter Führung vom Verlassen der Schweiz abhängig machen.
Sachverhalt
Ein algerischer Staatsangehöriger hatte zwei Drittel seiner Haftstrafe verbüsst. Der Strafvollzug des Kantons Aargau wollte ihn trotz guter Führung nur vorzeitig aus der Haft entlassen, wenn er sofort in sein Heimatland ausreist. Dagegen erhob der Häftling Beschwerde. Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau wies sie ab.
Aus den Erwägungen
2.1 Hat der Gefangene zwei Drittel seiner Strafe, mindestens aber drei Monate verbüsst, so ist er durch die zuständige Behörde bedingt zu entlassen, wenn es sein Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen (Art. 86 Abs. 1 StGB).
Die formelle Gewährung der bedingten Entlassung muss nicht zwingend die Entlassung auf den frühestmöglichen Zeitpunkt zur Folge haben. Dies ist etwa der Fall, wenn der Entlassungstermin an eine suspensive Bedingung geknüpft wird, was im Rahmen des Verhältnismässigkeitsprinzips zulässig ist (Daniel Verasani / Cornelia Koller, in: Benjamin F. Brägger, Schweizerisches Vollzugslexikon, 2. Aufl. 2022, S. 121).
3.1 Der Beschwerdeführer hat am 10. November 2022 zwei Drittel seiner Freiheitsstrafe verbüsst, womit die zeitliche Voraussetzung für eine bedingte Entlassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB (gesetzliche Minimaldauer) erfüllt ist.
3.2 Weiter ist unbestritten, dass aufgrund des Führungsberichts des Bezirksgefängnisses Zofingen vom 6. Oktober 2022, der dem Beschwerdeführer insgesamt eine gute Führung attestiert, auch die zweite Voraussetzung für eine bedingte Entlassung nach Art. 86 Abs. 1 StGB, nämlich das Wohlverhalten im Vollzug, gegeben ist.
3.3.3.1 Ist bei ausländischen Staatsangehörigen im Zeitpunkt der bedingten Entlassung noch offen, ob sich der Betroffene künftig in der Schweiz oder im Ausland aufhalten wird (insbesondere bei rechtshängigen migrationsrechtlichen Verfahren sowie wenn faktische Ausschaffungshindernisse oder der Non-Refoulement-Grundsatz einer Rückkehr in das Heimatland entgegenstehen), ist die Legalprognose sowohl für den Verbleib in der Schweiz als auch für das Heimatland zu erstellen.
Ausländischen Strafgefangenen, deren Straftaten u.a. massgeblich mit Integrationsproblemen in der Schweiz zusammenhängen, muss bei einem Verbleib in der Schweiz unter Umständen eine völlig ungenügende Bewährungsprognose gestellt werden, während die Bewährungsaussichten im Falle einer Rückreise in den Heimatstaat als durchaus ausreichend zu beurteilen wären.
Unter solchen Voraussetzungen ist es zulässig, eine bedingte Entlassung an die Bedingung zu knüpfen, dass der Betroffene die Schweiz tatsächlich verlässt (Bächtold / Weber / Hostettler, a.a.O., S. 278 f., Rz. 27).
3.3.3.2 Der Beschwerdeführer darf sich aufgrund der mit Urteil des Strafgerichtspräsidiums Basel-Stadt vom 14. April 2020 über ihn verhängten Landesverweisung nach der Entlassung aus dem Strafvollzug nicht mehr in der Schweiz aufhalten. Überdies wurde er mit Ablehnung seines Asylgesuchs rechtskräftig weggewiesen und muss deswegen die Schweiz und den Schengenraum verlassen.
In Abweichung von Art. 61 Abs. 1 lit. f AIG ist seine Aufenthaltserlaubnis somit bereits vor dem Vollzug der gegen ihn verhängten Landesverweisung gemäss Art. 66abis StGB erloschen. Nachdem eine Ausreisemöglichkeit in einen Drittstaat ausserhalb des Schengenraums weder ersichtlich ist noch vom Beschwerdeführer dargetan wurde, kommt lediglich eine Ausreise in seinen Heimatstaat Algerien in Frage. Dementsprechend war im vorliegenden Fall, wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, auch keine Legalprognose für einen allfälligen weiteren Aufenthalt in der Schweiz zu stellen.
Als Folge seines fehlenden Aufenthaltsrechts in der Schweiz hat der Beschwerdeführer die Schweiz zwingend unmittelbar nach seiner bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug zu verlassen. Eine Entlassung auf freien Fuss in der Schweiz fällt ausser Betracht, da ihm von Gesetzes wegen weder eine Aufenthaltserlaubnis erteilt noch die vorläufige Aufnahme gewährt werden kann und er sich hier deshalb sogleich illegal aufhalten würde.
Anlässlich seiner Anhörung vom 20. Oktober 2022 erklärte sich der Beschwerdeführer zudem nicht bereit, nach Algerien zurückzukehren, weil er Angst vor seiner Familie habe. Wie er kürzlich erfahren habe, sei sein Bruder aufgrund von Streitigkeiten in der Familie nach Spanien geflüchtet. Sein Ziel sei es, nach dem Strafvollzug mit seiner Schweizer Freundin nach Italien, Deutschland oder Frankreich auszureisen. Wie ausgeführt, kommt Letzteres jedoch nicht in Frage, sondern nur eine Ausreise nach Algerien.
Unter diesen Umständen erscheint es geeignet und erforderlich, die bedingte Entlassung an die Voraussetzung zu knüpfen, dass die Landesverweisung vollzogen wird.
3.3.3.3 Nachdem das Migrationsamt des Kantons Basel-Stadt per 10. November 2022 für den Beschwerdeführer einen Flug nach Algier gebucht hatte, ist die Landesverweisung vollziehbar. Ein offensichtlicher Verstoss gegen das Non-Refoulement-Gebot ist im heutigen Zeitpunkt aufgrund der vorliegenden Akten nicht erkennbar; der Beschwerdeführer hat auch keine konkrete Gefährdung substanziiert geltend gemacht. Das zuständige Migrationsamt wird im Vollzugszeitpunkt erneut zu prüfen haben, ob Vollzugshindernisse bestehen.
Verwaltungsgericht Aargau, Urteil WBE.2022.489 vom 27.2.2023
Anwaltsrecht
Ein Anwalt muss die Interessen seines Klienten vertreten
Ein Anwalt, der einen Antrag gegen den Willen des Klienten stellt, verstösst gegen das Anwaltsgesetz und muss eine Busse von 3000 Franken bezahlen.
Sachverhalt
Ein amtlicher Verteidiger stellte an der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht Wil SG den Antrag, sein Mandant sei des Raubes schuldig zu sprechen und des Landes zu verweisen. Dies, obwohl der Beschuldigte die Tat bestritt. Das Kreisgericht entliess den amtlichen Verteidiger noch am selben Tag und verzeigte ihn bei der Aufsichtskommission des Kantons St. Gallen. Diese verhängte gegen den Anwalt eine Busse.
Aus den Erwägungen
II. 2. a) Nach Art. 12 lit. a BGFA üben die Anwälte ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft aus. Der Anwalt ist bereits gestützt auf sein Auftragsverhältnis zum Klienten gehalten, das ihm übertragene Geschäft getreu und sorgfältig auszuführen (Art. 398 Abs. 2 OR). Er hat die Interessen des Auftraggebers nach besten Kräften zu wahren und alles zu unterlassen, was diese Interessen schädigen könnte (BGE 115 II 62, E.3a; BGer2C_233/2021, E.3.1).
Der Anwalt hat primär die Interessen seines Klienten zu vertreten und ist im Gegensatz zum Richter nicht der objektiven Wahrheits- und Rechtsfindung verpflichtet. Er ist nicht Gehilfe des Richters, sondern Verfechter von Parteiinteressen. Zwar verfügt der Anwalt zur Verteidigung der Klienteninteressen hinsichtlich der Festlegung der Strategie und der Wahl der Mittel über einen grossen Handlungsspielraum.
Dieser ist jedoch nicht uferlos, sondern der Anwalt hat alles zu unterlassen, was die Vertrauenswürdigkeit der Anwaltschaft – gerade auch im Verhältnis zu den Justizbehörden – in Frage stellt, und sich in diesem Sinne umsichtig zu verhalten (BGE144 II 473, E.4.3; BGer-Urteil 2C_500/2020, E.5.3). Im Strafverfahren hat er daher beispielsweise seine Tätigkeit nicht am staatlichen Strafverfolgungsinteresse auszurichten, sondern am Interesse des Beschuldigten an einem freisprechenden oder möglichst milden Urteil, und es muss ihm hinsichtlich der Wahl der Verteidigungsmittel ein hohes Mass an Entscheidungsfreiheit zukommen (BGE 106 Ia 100, E.6 b; BGer-Urteil 1C_340/2018, E.5.5).
Die Verteidigung bedeutet demzufolge streng einseitige Interessenwahrnehmung. Weiss oder vermutet der Verteidiger, dass sein Mandant trotz der Bestreitung schuldig ist, hat er sich gegen über den Behörden jeder diesbezüglichen Äusserung zu enthalten. Das Wissen oder die Meinung des Verteidigers hat in jedem Fall vor dem Auftrag zur Verteidigung zurückzutreten (vgl. BGE 138 IV 161, E. 2.5.4).
3. a) In der Folge plädierte Rechtsanwalt A. auf Schuldspruch wegen Raubes und äusserte zu Beginn seines ersten Parteivortrages unmissverständlich, dass er – im Einklang mit der Anklage und entgegen den Aussagen seines Mandanten – die tatsächlichen Feststellungen der Staatsanwaltschaft als nachgewiesen erachtete.
Dass diese Strategie mit B. abgesprochen gewesen sein soll und sich dieser damit einverstanden erklärt habe, erscheint angesichts der Aussagen von B. während der gesamten Strafuntersuchung und insbesondere auch noch an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht glaubhaft.
b) Mit dem Antrag auf Schuldspruch wegen Raubes handelte Rechtsanwalt A. vorsätzlich den Interessen seines Mandanten zuwider. Das Argument, eine andere Strategie wäre aussichtslos gewesen, vermag nicht zu überzeugen, zumal das Kreisgericht Wil unmittelbar nach Eröffnung der Verhandlung den Parteien sogar mitteilte, dass es sich vorbehalte, die angeklagte versuchte räuberische Erpressung sowie den angeklagten Raub als versuchte bzw. vollendete Nötigung zu qualifizieren.
Spätestens dann hätte Rechtsanwalt A. klar sein müssen, dass sein Mandant zumindest Aussichten auf eine mildere Verurteilung wegen Nötigung gemäss Art. 181 StGB hatte. Damit wäre auch die Katalogtat für eine obligatorische Landesverweisung nach Art. 66a Abs. 1 lit. c StGB dahingefallen und lediglich noch die fakultative Landesverweisung nach Art. 66a StGB zur Diskussion gestanden.
Ob sich B. nicht per se gegen eine Landesverweisung, sondern bloss gegen eine solche von acht Jahren gestellt hat, ist aufgrund der Akten zweifelhaft, kann an dieser Stelle aber ebenfalls offenbleiben. Rechtsanwalt A. hätte sich auch diesbezüglich für ein möglichst mildes Urteil – in casu für einen Verzicht auf eine Landesverweisung – für seinen Mandanten einsetzen müssen.
c) Hinzu kommt, dass Rechtsanwalt A. für den beantragten Schuldspruch wegen Raubes eine teilbedingte Freiheitsstrafe für seinen Mandanten beantragte, obwohl dieser aufgrund der Höhe des von ihm beantragten Strafmasses von 21 Monaten Freiheitsstrafe sowie aufgrund seiner Vorstrafenlosigkeit grundsätzlich Anspruch auf einen vollständigen Aufschub einer Freiheitsstrafe (Art. 42 Abs. 1 StGB) gehabt hätte.
Der Einwand von Rechtsanwalt A., eine teilbedingte Freiheitsstrafe sei einzig realistisch gewesen und B. habe schon einen Teil der Freiheitsstrafe abgesessen, vermag ihn nicht zu entlasten. Als Verteidiger ist er nicht der objektiven Wahrheits- und Rechtsfindung verpflichtet, sondern ausschliesslich den Interessen seines Mandanten.
d) Nach dem Gesagten wäre Rechtsanwalt A. als Verteidiger verpflichtet gewesen, die Interessen von B. zu wahren und ein möglichst mildes Urteil für ihn zu erwirken. Indem er die Aussagen von B. sowie den (milderen) Würdigungsvorbehalt des Kreisgerichts Wil schlicht ignorierte und in seinem Parteivortrag dennoch u. a. einen Schuldspruch wegen Raubes, eine teilbedingte Freiheitsstrafe von 21 Monaten sowie einen Landesverweis für vier Jahre für seinen Mandanten beantragte, verletzte er seine Sorgfaltspflicht in grober Weise.
Die Vorgehensweise von Rechtsanwalt A. geht dabei über «eine unrichtige Beratung», «ein prozessual falsches Vorgehen» oder «blosstaktisch oder psychologisch unkluges Vorgehen» hinaus und stellt die Vertrauenswürdigkeit der Anwaltschaft in Frage.
III. 2. Gerade in Strafverfahren, wo schwerwiegende Delikte, mehrmonatige Freiheitsstrafen sowie Landesverweise im Raum stehen, ist es mit der Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung nicht vereinbar, wenn sich ein Verteidiger derart gegen die Mandanteninteressen stellt. Einsicht in sein Fehlverhalten ist beim Angezeigten nicht erkennbar. Sein anwaltlicher Leumund ist indes ungetrübt. Angesichts dieser Umstände erscheint eine Busse von 3000 Franken angemessen.
IV. Dem Verfahrensausgang entsprechend hat Rechtsanwalt A. die Entscheidgebühr von 1200 Franken zu bezahlen.
Kantonsgericht St. Gallen, Anwaltskammer, Entscheid AW.2022.85 vom 4.4.2023