Arbeitsrecht
Konkurrenzverbot: Konventionalstrafe reduziert
Eine Konventionalstrafe wegen konkurrenzierender Tätigkeit muss sowohl zeitlich als auch in der Höhe des Betrags angemessen sein. Sie darf im Verhältnis zum Lohn keine schwere finanzielle Belastung darstellen.
Sachverhalt:
Die Angestellte eines Nidwaldner Personalvermittlers akzeptierte im Arbeitsvertrag ein dreijähriges Konkurrenzverbot. Bei einer Widerhandlung war die Konventionalstrafe auf 55 000 Franken beziffert. Das entsprach einem Jahreslohn. Später wechselte die Frau zur Konkurrenz. Der ehemalige Betrieb forderte daraufhin 30 000 Franken Konventionalstrafe. Das Kantonsgericht beurteilte das Konkurrenzverbot als zulässig. Die Angestellte habe Einblick in Kundenlisten, Arbeitsverträge und Lohnkonditionen gehabt. Das Gericht senkte aber das Verbot auf ein Jahr und die Strafe auf 10 000 Franken. Das Obergericht Nidwalden bestätigte den Entscheid.
Aus den Erwägungen:
3.3 Der handlungsfähige Arbeitnehmer kann sich gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich verpflichten, sich nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses jeder konkurrenzierenden Tätigkeit zu enthalten, insbesondere weder auf eigene Rechnung ein Geschäft zu betreiben, das mit dem des Arbeitgebers in Wettbewerb steht, noch in einem solchen Geschäft tätig zu sein oder sich daran zu beteiligen. Das Konkurrenzverbot ist nur verbindlich, wenn das Arbeitsverhältnis dem Arbeitnehmer Einblick in den Kundenkreis oder in Fabrikations- und Geschäftsgeheimnisse gewährt und die Verwendung dieser Kenntnisse den Arbeitgeber erheblich schädigen könnte.
3.4.1 Zu klären ist, ob der Berufungsklägerin im Rahmen ihrer letzten Tätigkeit bei der Berufungsbeklagten Einblick in deren Kundenkreis gewährt wurde. Irrelevant ist dabei, ob sie die erste Ansprechperson für Kunden war oder ob sie diesbezüglich Entscheidungs- bzw. Verhandlungsbefugnisse hatte und über welches Mass an Selbständigkeit sie hierbei verfügte. Massgebend ist eine integrale Betrachtungsweise.
Zu beurteilen ist mit anderen Worten, ob die Berufungsklägerin aufgrund des Arbeitsverhältnisses als Ganzes – das heisst in der Gesamtheit ihrer Aufgaben, Berechtigungen und Kundenkontakte in der von ihr ausgeübten Funktion – einen Einblick in den Kundenkreis gewinnen konnte. Ob und in welchem Ausmass einzelne Aufgaben isoliert betrachtet einen Einblick in den Kundenkreis erlaubten, kann unbeantwortet bleiben. Wird der Einblick in den Kundenkreis ab dem Zeitpunkt ihrer Beförderung bejaht, kann offenbleiben, ob die Angestellte bereits zuvor Einblick in den Kundenkreis hatte und ob ihr das Arbeitsverhältnis zusätzlich Einblick in Fabrikations- und Geschäftsgeheimnisse gewährte.
3.4.3 Der Vorinstanz ist demzufolge im Ergebnis zuzustimmen: Die Berufungsklägerin hatte aufgrund ihrer letzten Tätigkeit bei der Berufungsbeklagten Einblick in deren Kundenkreis, indem sie sowohl deren Kundenstamm als auch deren Bedürfnisse – und damit die wesentlichen Voraussetzungen, welche diesen Kundenstamm an die Berufungsbeklagte binden – kannte. Das Konkurrenzverbot war demnach gültig.
4.1 In einem zweiten Schritt erachtete die Vorinstanz zu Recht das für die Maximaldauer von drei Jahren abgeschlossene, nachvertragliche Konkurrenzverbot als übermässig und reduzierte es zeitlich auf ein Jahr.
Zu diesem Ergebnis gelangte die Vorinstanz nach einer umfassenden Interessenabwägung: Zugunsten der Berufungsklägerin berücksichtigte sie den Stand ihrer beruflichen Laufbahn (Alter, Lohn), den kurz dauernden Einblick in den Kundenkreis (neun Monate während einer vierjährigen Anstellungsdauer) und damit die fehlende Möglichkeit ein tragendes Vehältnis mit den Kunden der Berufungsbeklagten aufzubauen, die Schnelllebigkeit der Personalvermittlungsbranche, den Verlust von arbeitsrelevantem Kundenkontakt und Wissen nach ihrer Kündigung, die fehlende Böswilligkeit und Vergütung für das Konkurrenzverbot.
5.1 Die Vorinstanz bejahte im weiteren eine Verletzung des Konkurrenzverbots. Hinsichtlich der Höhe der Konventionalstrafe wurde erwogen, dass die Parteien diese im Anstellungsvertrag vereinbart hätten, nämlich ein Jahresgehalt, berechnet vom letzten Monatslohn inklusive aller zusätzlichen Bezüge. Die Berufungsbeklagte habe angesichts des jungen Alters der Klägerin sowie ihres (mutmasslich) durchschnittlich hohen Einkommens klageweise einen Betrag von 30 000 Franken gefordert, der sieben Monatslöhnen der Berufungsklägerin entspreche.
Die Vorinstanz berücksichtigte, dass die Berufungsklägerin von ihrem neuen Arbeitgeber wiederum als Mitarbeiterin Administration und nicht als Personalberaterin angestellt wurde und die geforderte Konventionalstrafe angesichts des geringen Salärs eine schwere finanzielle Last darstellen würde.
Weiter zog die Vorinstanz in Erwägung, dass die Berufungsklägerin lediglich während neun Monaten Einblicke in die Kundenkreise und Geschäftsgeheimnisse der Berufungsbeklagten gehabt hat. Nachdem das Gericht das nachvertragliche Konkurrenzverbot in zeitlicher Hinsicht als unangemessen erachte und um zwei Drittel reduziert habe, sei auch eine Kürzung der eingeklagten Konventionalstrafe um zwei Drittel auf 10 000 Franken vorzunehmen.
7. Nach dem Gesagten ist die Berufung unbegründet, vollumfänglich abzuweisen und das vorinstanzliche Urteil zu bestätigen.
Obergericht Nidwalden, Urteil ZA 21 5 vom 24.6.2021
Arbeit auf Abruf: Lohnanspruch nach Entlassung
Bei echter Arbeit auf Abruf ist der Angestellte beim Abruf des Betriebs zum Einsatz verpflichtet. Bei unechter Arbeit auf Abruf kann er den Einsatz hingegen ablehnen.
Sachverhalt:
Ein Bündner Betrieb entliess einen Zimmermann mit Einschreiben vom 13. April 2019 auf den 31. Mai 2019. Umstritten ist, ob der Lohn bis Ende Mai geschuldet ist. Der Zimmermann hat die Arbeit mehrfach angeboten. Der Betrieb wiederum argumentierte, es sei Arbeit auf Abruf vereinbart worden. Das Regionalgericht Maloja und das Kantonsgericht Graubünden beurteilen den Vertrag als eine echte Arbeit auf Abruf. Das heisst, der Angestellte war verpflichtet zu arbeiten. Der Betrieb schuldet den Lohn, auch wenn er den Mitarbeiter nicht aufgeboten hat.
Aus den Erwägungen:
4.3.2 Teilzeitarbeit beruht auf einem fortdauernden Arbeitsverhältnis und ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Arbeitnehmer in einem gegenüber der betrieb- oder branchenüblichen vollen Arbeitszeit reduzierten Pensum tätig ist. Teilzeitarbeit kann dabei als regelmässige oder als unregelmässige Teilzeitarbeit ausgestaltet sein. Art. 319 Abs. 2 OR umfasst dabei sowohl die regelmässige als auch die unregelmässige Teilzeitarbeit. In der Praxis wird zwischen eigentlicher und uneigentlicher Teilzeitarbeit unterschieden. Bei der eigentlichen Teilzeitarbeit erfolgt der reduzierte Einsatz wiederholt und mit im Voraus bestimmten, möglicherweise unregelmässigen Arbeitszeiten und der Arbeitgeber gerät in Verzug und bleibt lohnzahlungspflichtig, wenn er das vertraglich vereinbarte Arbeitspensum nicht zuteilt (vgl. Streiff/v. Kaenel/Rudolph, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319–362 OR, 7. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2012, N 18 zu Art. 319 OR).
Demgegenüber wird uneigentliche Teilzeitarbeit nicht aufgrund eines im Voraus festgelegten Arbeitsplans, sondern auf einseitigen Abruf durch den Arbeitgeber oder nach im Belieben des Arbeitnehmers stehendem Einsatzzeitpunkt geleistet. Trifft den Arbeitnehmer eine Einsatzpflicht nach Anweisung des Arbeitgebers, so liegt echte Arbeit auf Abruf vor. Diese ist gemäss dem Leitentscheid BGE 124 III 249, E. 2a zulässig. Nach der Rechtsprechung muss auch in einem Abrufverhältnis während der Kündigungsfrist die übliche Arbeit zugewiesen werden (vgl. BGE 125 III 65 = Pra 1999 Nr. 111; ferner die kantonalen Rechtsprechungshinweise in Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., N 18 zu Art. 319 OR).
Hintergrund ist der Gedanke, dass der unvermittelte Entzug der Arbeit und damit bei Abrufverhältnissen auch des Lohns eine Umgehung des Schutzes durch die Kündigungsfristen und Art. 335c OR darstellt. So manifestiert sich der unverzichtbare Schutz der Kündigungsfristen im Abrufverhältnis darin, dass dem Angestellten auch während der Kündigungsfrist der durchschnittliche Lohn zufliessen und damit das durchschnittliche Arbeitsvolumen zugewiesen werden muss. Das gilt auch, wenn der Arbeitgeber erklärt, während der Dauer der Kündigungsfrist auf den Einsatz zu verzichten. Weist der Arbeitgeber keine oder zu wenig Arbeit zu, gerät er in Annahmeverzug und bleibt aufgrund von Art. 324 OR lohnzahlungspflichtig (vgl. BGE 125 III 65, E. 5; BGer 4A_509/2009 vom 7.1.2010, E. 2.3; Streiff/v. Kaenel/Rudolph, a.a.O., N 18 zu Art. 319 OR).
Bei der unechten Arbeit auf Abruf trifft den Arbeitnehmer keine Einsatzpflicht. Ein Einsatz kommt hier nur aufgrund gegenseitiger Vereinbarung im Einzelfall zustande. Auch hier fällt ein Lohnfortzahlungsanspruch infolge unterbliebenen Abrufs im Einzelfall in Betracht. Vor der konkreten Einsatzvereinbarung stellt der unechte Abrufvertrag jedoch noch keinen Arbeitsvertrag dar, da sich der Arbeitnehmer nicht zur Leistung von Arbeit verpflichtet hat. Es liegt erst ein Rahmenvertrag über die Arbeitsbedingungen vor, was auch stillschweigend erfolgen kann. Werden die Arbeitsbedingungen hingegen bei jedem Einsatz neu verhandelt, geht es um Aushilfs- oder Gelegenheitsarbeit (vgl. Streiff/v. Kaenel/Rudolph, a.a.O., N 18 f. zu Art. 319 OR m.H.).
4.3.3 Aus den Ausführungen des Berufungsklägers im erstinstanzlichen Verfahren folgt, dass der Berufungsbeklagte ab dem 1. Januar 2019 auf Abruf zu einem Stundenlohn von Fr. 33.50 brutto angestellt war und dass es nicht in seinem Belieben stand, ob er jeweils überhaupt für den Berufungskläger tätig werden wollte. Vielmehr erwartete der Berufungskläger vom Berufungsbeklagten, dass dieser die ihm zugewiesenen Arbeiten verrichtete, zur Arbeit erschien und sich bei Verhinderung krankmeldete bzw. ein Arztzeugnis einreichte, das die Verhinderung an der Arbeitsleistung bestätigen sollte. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, ob der Berufungsbeklagte die Tage, an denen er arbeiten wollte, selbst hat auswählen können oder ob diese ihm vom Berufungskläger zugewiesen wurden. Folglich traf ihn eine Einsatzpflicht, womit die vom Berufungsbeklagten verrichtete, unregelmässige und uneigentliche Teilzeitarbeit zwischen der Kalenderwoche 1 bis zur Kalenderwoche 15 des Jahres 2019 als echte Arbeit auf Abruf zu qualifizieren ist (vgl. E. 4.3.2).
Entsprechend geriet der Berufungskläger in Annahmeverzug, als er dem Berufungsbeklagten ab dem 11. April 2019 bis zum Ende der Kündigungsfrist am 31. Mai 2019 keine Arbeit mehr zuwies, und es ist für die Zeit von der Freistellung bis zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses am 31. Mai 2019 der in den Monaten zuvor durchschnittlich erzielte Lohn entsprechend den vom 1. Januar 2019 bis 10. April 2019 durchschnittlich gearbeiteten Stunden geschuldet.
Kantonsgericht Graubünden, Entscheid ZK2 21 9 vom 2.2.2022
Betreibungsrecht
Notgroschen: Drei Monatseinkünfte sind unpfändbar
Leistungen der IV und Ergänzungsleistungen sind unpfändbar. Kann sich ein Rentner aber davon ein Guthaben auf einem Bankkonto ansparen, ist es grundsätzlich pfändbar. Der Rentner darf jedoch das Dreifache seines monatlichen Einkommens behalten.
Sachverhalt:
Ein Mann aus dem Kanton St. Gallen lebt von einer Rente der Invalidenversicherung und Ergänzungsleistungen in der Höhe von insgesamt 2393 Franken pro Monat. Er hat Schulden, aber noch Guthaben auf einem Bankkonto. Das Betreibungsamt pfändete das Konto bis auf 300 Franken. Der Mann wehrte sich dagegen. Er argumentierte, Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), der Invalidenversicherung (IV) sowie Ergänzungsleistungen seien nicht pfändbar. Das Kantonsgericht gab ihm teilweise recht.
Aus den Erwägungen:
II. 2. b) Nach Art. 92 Abs. 1 SchKG unpfändbar sind die Renten gemäss Art. 20 AHVG oder gemäss Art. 50 IVG, die Leistungen gemäss Art. 12 ELG sowie die Leistungen der Familienausgleichskassen und die Ansprüche auf Vorsorge- und Freizügigkeitsleistungen gegen eine Einrichtung der beruflichen Vorsorge vor Eintritt der Fälligkeit.
Von der Pfändung gänzlich ausgeschlossen werden mit dieser Bestimmung Leistungen der sogenannten ersten Säule. Grundlage dafür ist die (richtige) Annahme, dass diese Leistungen ohnehin nur das Existenzminimum decken und sich deshalb eine Diskussion über die Pfändbarkeit von vornherein erübrigt. Grundsätzlich sind nicht nur die in Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG aufgeführten Leistungen an sich geschützt, sondern auch ein Bankkonto, auf welchem solche Leistungen anfallen. Dies gilt mindestens so weit, als dieses als Durchgangskonto gebraucht wird und somit die eingehenden Leistungen wieder abgehoben werden.
In der Lehre wird teilweise die Auffassung vertreten, dass Vermögen, welches der Schuldner auf dem Durchgangskonto bilde, als Sparguthaben pfändbar sei. Mit der Frage, ab welchem Zeitpunkt oder ab welcher Betragshöhe ein Sparguthaben anzunehmen ist, setzen sich die genannten Autoren allerdings nicht auseinander. Diese Fragen haben das Betreibungsamt bzw. die Aufsichtsbehörden nach pflichtgemässem Ermessen im konkreten Einzelfall zu beantworten.
c) Das gesamte monatliche Einkommen des Beschwerdeführers beträgt 2393 Franken Es setzt sich zusammen aus einer AHV-Rente und Ergänzungsleistungen und ist gemäss Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG absolut unpfändbar. Grundsätzlich kann (auch) von einem Schuldner in dieser Situation nicht erwartet werden, dass er jeden Monat sein ganzes Einkommen ausgibt. Dies wäre weder sinnvoll noch mit einem verantwortlichen und umsichtigen Umgang mit den eigenen Finanzen vereinbar.
Es muss immer wieder mit unerwarteten Ausgaben gerechnet werden (bspw. für Arzt, Zahnarzt oder Sehhilfen). Zudem sind verschiedene Zahlungen nicht monatlich, sondern jährlich oder halbjährlich zu leisten (bspw. Haftpflicht- und Hausratversicherung, Strom- und andere Nebenkosten). Das (teilgepfändete) Konto des Beschwerdeführers wies, wie bereits die Vorinstanz feststellte, am 1. Januar 2020 einen Saldo von Fr. 19 239.18 auf. Hiervon übertrug der Beschwerdeführer regelmässig Beträge auf ein weiteres Konto, ab welchem er via Maestrokarte laufend Bargeldbeträge abhob. Der Saldo des (teilgepfändeten) Kontos stieg bis im Juni 2020 leicht an, sank anschliessend bis im November 2020 hingegen markant ab und stieg erst mit der Überweisung der Kapitalleistung aus der BVG-Stiftung (8612 Franken) erneut auf Fr. 17 547.13 an.
In der Folge bewegte sich der Saldo bis zum Pfändungsvollzug in dieser Grössenordnung (Saldo vor der Pfändung per 12. April 2021 Fr. 18 355.78; Saldo nach der Pfändung: Fr. 330.78). Zieht man nun die Pensionskassen-Kapitalleistung aus der BVG-Stiftung ab, so beläuft sich der Saldo vor der Pfändung auf lediglich Fr. 9743.78 (Fr. 18 355.78 minus Fr. 8612.–). Die angesparte Summe reduzierte sich damit in der massgeblichen Zeit um rund 10 000 Franken. Das noch vorhandene beziehungsweise angeäufnete Guthaben ist hingegen kein vollumfänglich pfändbares Sparguthaben. Vielmehr enthält dieses auch einen Notgroschen, der – da er (wohl) aus absolut unpfändbarem Einkommen stammt – dem Beschwerdeführer zu belassen ist.
Grundsätzlich kann bei einem Durchgangskonto, auf welchem ausschliesslich absolut unpfändbare Leistungen anfallen und das gewissen Schwankungen unterliegt, erst von einem der Pfändung zugänglichen Sparguthaben gesprochen werden, wenn der Saldo das rund Dreifache des Einkommens übersteigt. Andernfalls handelt es sich um eine Reserve, die dem Schuldner für nicht monatlich anfallende oder unvorhergesehene Ausgaben zu belassen ist. Entsprechend ist dem Beschwerdeführer vorliegend ein derartiger Notgroschen in der Höhe des rund Dreifachen seines Einkommens (von 2393 Franken, mithin 7179 Franken) zu belassen. Unter Berücksichtigung des Saldos nach der Pfändung (Fr. 330.78) wäre ihm damit grundsätzlich – unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägungen – ein Betrag von gerundet 7000 Franken zurückzuerstatten.
d) Im Übrigen kann der Beschwerdeführer seinen betreibungsrechtlichen Notbedarf von 2008 Franken grundsätzlich (und unbestrittenermassen) aus seiner AHV-Rente und aus den Ergänzungsleistungen von insgesamt 2393 Franken decken.
e) Soweit der Beschwerdeführer im vorliegenden Beschwerdeverfahren die Pfändbarkeit der Kapitalleistung von 8612 Franken bestreitet, ist sein Vorbringen neu. Vor Vorinstanz hat er die diesbezügliche Pfändbarkeit nicht bestritten. Vielmehr hat er diesen Betrag selbst als der Pfändungsmasse unterliegend bezeichnet, weshalb die diesbezügliche (Un-)Pfändbarkeit von der Vorinstanz auch nicht überprüft wurde. Damit ist darauf vorliegend nicht einzutreten.
Kantonsgericht St. Gallen, Urteil AB.2021.30 vom 6.10.2021
Rechtsvorschlag gültig ohne Vermerk auf Zahlungsbefehl
Ein Rechtsvorschlag gilt als erhoben, obwohl er nur im Sendungsverlauf der Post vermerkt worden ist statt wie vorgeschrieben auch auf dem Zahlungsbefehl zuhanden des Gläubigers.
Sachverhalt:
Ein Gläubiger betrieb eine Schuldnerin aus dem Kanton Schaffhausen. Gemäss dem Sendungsverlauf der Schweizerischen Post holte die Schuldnerin den Zahlungsbefehl am Postschalter ab und erhob gleichzeitig Rechtsvorschlag. Auf dem Zahlungsbefehl, den der Gläubiger erhielt, standen jedoch die Worte «Kein Rechtsvorschlag» vermerkt. Der Gläubiger stellte das Fortsetzungsbegehren. Das Betreibungsamt verschickte darauf die Pfändigungsankündigung, hob diese jedoch wieder auf, nachdem die Schuldnerin reklamiert hatte. Der Gläubiger erhob dagegen Beschwerde vor dem Obergericht Schaffhausen.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Zahlungsbefehl wird jeweils im Doppel ausgefertigt, ein Exemplar für den Schuldner und eines für den Gläubiger. Bei Abweichungen zwischen dem Schuldner- und Gläubigerexemplar geht das Schuldnerexemplar vor (Art. 70 Abs. 1 SchKG). Die praktische Bedeutung dieser Regel liegt in erster Linie bei den nachträglich einzufügenden Angaben durch den Betreibungsbeamten oder den Postboten zur Zustellung und zum Rechtsvorschlag. Die irrtümliche Angabe auf dem Gläubigerdoppel, der Schuldner habe keinen Rechtsvorschlag erhoben, kann sowohl durch das Schuldnerdoppel als auch durch andere Beweismittel widerlegt werden.
2.1.2 Der bei der Postzustellung erklärte Rechtsvorschlag gilt an das Betreibungsamt selbst gerichtet. Die im obligatorischen Formular für den Zahlungsbefehl vorgesehene Bescheinigung des Rechtsvorschlags auf beiden Doppeln des Zahlungsbefehls durch den Zusteller ist kein Gültigkeitserfordernis, sondern dient nur dazu, dem Schuldner den Nachweis der mündlichen Erklärung zu erleichtern. Daher kann bei der Postzustellung ein gültiger Rechtsvorschlag erfolgt sein, auch wenn eine solche Bescheinigung fehlt.
2.1.3 Die Beweislast für das Erheben des Rechtsvorschlags liegt beim Schuldner.
2.2 Die Schuldnerin selber hat im Beschwerdeverfahren die Modalitäten der von ihr geltend gemachten Erhebung des Rechtsvorschlags nicht näher erläutert. Aus den Akten sowie der Vernehmlassung des Betreibungsamts ist jedoch zu schliessen, dass sie eine mündliche Erklärung des Rechtsvorschlags am Schalter der Post behauptet. Für diese Darstellung spricht der Zustellnachweis der Post (Sendungsverfolgung), wonach am 27. Oktober 2020 um 18.10 Uhr die Zustellung am Schalter erfolgte und für die gesamte Forderung Rechtsvorschlag erhoben worden sei. Jedoch ist auf dem Gläubigerdoppel des Zahlungsbefehls kein Rechtsvorschlag vermerkt, obwohl dies bei einer mündlichen Erklärung gegenüber dem Postboten ordnungsgemäss der Fall sein müsste.
Ob es sich um ein Versehen handelte und der Postbote allenfalls, wie es zuweilen vorkommt, den Rechtsvorschlag lediglich auf dem Schuldneroriginal vermerkt hatte, lässt sich nicht feststellen, da die Schuldnerin ihr Schuldneroriginal trotz der ihr obliegenden Mitwirkungspflicht und entsprechender Aufforderung durch das Obergericht nicht eingereicht hat, da sie dieses bereits entsorgt habe. Auf eine Einvernahme des den Zahlungsbefehl zustellenden Postboten ist sodann zu verzichten, da angesichts des Zeitablaufs und der Erklärung der Post vom 15. November 2021 davon auszugehen ist, dass er sich nicht mehr an die konkrete Zustellung erinnert.
2.3 Auf dem Zahlungsbefehl ist durch den zustellenden Betreibungsbeamten bzw. Postangestellten neben der erfolgten Zustellung einzig (positiv) zu bescheinigen, falls Rechtsvorschlag erhoben wurde. Hingegen wird bei der Zustellung kein Vermerk angebracht, wenn kein Rechtsvorschlag angemeldet wurde, da in diesem Zeitpunkt die zehntägige Frist nach Art. 74 Abs. 1 SchKG stets noch läuft.
Der Stempelvermerk «Kein Rechtsvorschlag», der sich auch auf dem ersten Gläubigerexemplar befand (vgl. Beilage zur Beschwerde), wird jeweils erst nach Ablauf der Frist durch das Betreibungsamt angebracht, nachdem es das Gläubigerdoppel – nicht aber das bei der Zustellung der Schuldnerin ausgehändigte Schuldneroriginal – von der Post zurückerhalten hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es wahrscheinlicher, dass es der Postangestellte unterliess, auf dem Gläubigerdoppel einen erhobenen Rechtsvorschlag anzukreuzen, als dass er versehentlich die Erhebung eines Rechtsvorschlags im postinternen System – aktiv – vermerkte.
2.4 Nach dem Gesagten ist nicht zu beanstanden, dass das Betreibungsamt gestützt auf die Sendungsverfolgung der Post vom Erheben des Rechtsvorschlags ausging und in der Folge die Pfändungsankündigung vom 23. November 2020 aufhob. Die Beschwerde ist mithin abzuweisen.
Obergericht Schaffhausen, Urteil 93/2020/24 vom 15.2.2022
Strafprozessrecht
Unzulässige Überwachung im Strassenverkehr
Eine automatische Verkehrsüberwachung setzt eine hinreichende gesetzliche Grundlage voraus. Fehlt es an dieser Voraussetzung, ist eine Busse aufzuheben.
Sachverhalt:
Eine Autofahrerin missachtete in Ennetbaden AG ein Fahrverbot. Die Staatsanwaltschaft Baden AG büsste die Frau mit 100 Franken und überwälzte ihr die Verfahrenskosten von 231 Franken. Beweis für das Vergehen war ein Foto der Stadtpolizei Baden. Diese hatte eine automatische Kamera zur Kontrolle der vorbeifahrenden Autos installiert. Die Frau erhob Einsprache mit der Begründung, die Fotoanlage sei illegal. Der Fall landete vor dem Bezirksgericht Baden.
Aus den Erwägungen:
2.2 Die Beschuldigte bestreitet nicht, die Rebbergstrasse in Ennetbaden befahren zu haben. Sie macht jedoch insbesondere geltend, dass für die Überwachung des Fahrverbots an der Rebbergstrasse mittels Verkehrsüberwachungskamera keine Rechtsgrundlage bestehe und die erhobenen Beweise somit auch nicht verwertet werden dürften.
2.4.2.1 Zur Überwachung des Fahrverbotes an der Rebbergstrasse in Ennetbaden setzt die Stadtpolizei Baden eine Catch-Ken bzw. ein ALPR-System ein, welches die Kontrollschilder von Fahrzeugen mittels einer Kamera erfasst und sie mit den hinterlegten Kontrollschildern der Zufahrtsberechtigten, mithin einer Datenbank automatisch abgleicht. Nachdem mit dem von der Stadtpolizei Baden an der Rebbergstrasse in Ennetbaden eingesetzten System anhand des mittels Kamera erfassten Fahrzeugs ein Datensatz mit den Buchstaben und Ziffern des Kontrollschildes erzeugt und dieser anschliessend automatisch mit anderen Datenbanken bzw. einer anderen Datenbank abgeglichen wird, handelt es sich um ein System der automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV).
2.4.2.2 Im Zusammenhang mit AFV hat das Bundesgericht festgehalten, dass diese eine erkennungsdienstliche Massnahme darstellt und sowohl das Grundrecht auf persönliche Freiheit gemäss Art. 10 Abs. 2 BV als auch das Recht auf Privatsphäre gemäss Art. 13 BV betrifft, wobei für das Aufbewahren von erkennungsdienstlichen Daten in erster Linie Art. 13 Abs. 2 BV bzw. der Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten einschlägig ist. Der Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten bzw. dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung garantiert, dass grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, wie sensibel die fraglichen Informationen tatsächlich sind, jede Person gegenüber fremder, staatlicher oder privater Bearbeitung von sie betreffenden Informationen bestimmen können muss, ob und zu welchem Zweck diese Informationen über sie bearbeitet werden. Die informationelle Selbstbestimmung kann gestützt auf und nach den Kriterien von Art. 36 BV eingeschränkt werden. Einschränkungen bedürfen demnach einer gesetzlichen Grundlage, müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein und müssen sich schliesslich als verhältnismässig erweisen. Schwere Eingriffe in Grundrechte bedürfen einer klaren und ausdrücklichen Regelung in einem Gesetz im formellen Sinn.
Das Legalitätsprinzip verlangt zudem im Interesse der Rechtssicherheit und der rechtsgleichen Rechtsanwendung eine hinreichende und angemessene Bestimmtheit der anzuwendenden Rechtssätze. Diese müssen so präzise formuliert sein, dass die Rechtsunterworfenen ihr Verhalten danach ausrichten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen können.
2.4.2.4 Die Stadtpolizei Baden scheint die gesetzliche Grundlage für den Einsatz der AFV zur Überwachung des Fahrverbots an der Rebbergstrasse in Ennetbaden in der Strassenverkehrskontrollverordnung (SVK) bzw. in Art. 9 SVK zu sehen. Die Staatsanwaltschaft Baden hat sich zur Rechtmässigkeit der besagten Überwachung nicht geäussert. Bei der Strassenverkehrskontrollverordnung handelt es sich jedoch nicht um ein Gesetz im formellen Sinn, weshalb diese für den Einsatz der AFV zur Überwachung des Fahrverbots keine hinreichende gesetzliche Grundlage bildet.
2.4.2.5 Um den Garantien von Art. 13 BV zu genügen, verlangt die bundesrichterliche Rechtsprechung, dass die systematische Datenerfassung und -aufbewahrung von angemessenen und wirkungsvollen Schutzvorkehrungen begleitet werden, um Missbräuchen und Willkür vorzubeugen. Insbesondere ist erforderlich, dass der Verwendungszweck, der Umfang der Erhebung sowie die Aufbewahrung und Löschung der erhobenen Daten hinreichend bestimmt sind (vgl. BGE 146 I 11, E. 3.3.1 m.w.H.). Diesen Anforderungen genügt Art. 9 Abs. 1 SVK bezüglich Überwachung von Fahrverboten mittels AFV nicht. Der Bestimmung lässt sich nicht entnehmen, welche Daten für welche Zwecke nachträglich verwendet werden können, und für die Strassenverkehrsteilnehmer ist auch nicht vorhersehbar, welche Informationen gesammelt, aufbewahrt und mit anderen Datenbanken verknüpft bzw. abgeglichen werden. Es wäre auch nicht ausgeschlossen, dass die beigezogene Datensammlung beliebig erweitert oder angepasst wird. Schliesslich enthält die Bestimmung auch keine Regelung bezüglich Aufbewahrung und Löschung der erhobenen Daten, weshalb Art. 9 Abs. 1 SVK aufgrund der Ausführungen auch bei Annahme einer leichten Eingriffsintensität keine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Fahrverboten mittels AFV bilden würde.
2.4.3.2 Die Verwertbarkeit von Beweismitteln, die ohne ausreichende gesetzliche Grundlage, d.h. rechtswidrig, erhoben wurden, richtet sich nach Art. 140 f. StPO. Beweise, welche die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, dürfen gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich.
2.5 Aufgrund der Ausführungen ist die Beschuldigte mangels verwertbarer Beweise von Schuld und Strafe freizusprechen.
Bezirksgericht Baden, Urteil ST.2021.39 vom 9.9.2021
Steuerrecht
Abbruchliegenschaft: Sicht des Verkäufers entscheidend
Die Kosten für Renovationen reduzieren grundsätzlich die Grundstücksgewinnsteuer, wenn eine Liegenschaft verkauft wird. Das gilt nicht bei Abbruchliegenschaften. Ob es sich um eine solche handelt, ist aus der Sicht des Verkäufers zu ermitteln.
Sachverhalt:
Ein Ehepaar erwarb 2001 in einer Zürcher Gemeinde ein Einfamilienhaus für für 540 000 Franken. Die Eheleute renovierten das Haus fortlaufend und tätigten insgesamt wertvermehrende Investitionen von rund 450 000 Franken. Ende 2020 verkauften sie das Haus für 1,7 Millionen Franken an die Nachbarin. Den Grundstückgewinn deklarierten die Verkäufer mit rund 700 000 Franken. Das entspricht der Differenz zwischen Verkaufs- und Kaufpreis, abzüglich der wertvermehrenden Investitionen. Das Steueramt liess den Abzug der Renovationskosten nicht zu und legte den Grundstückgewinn auf rund 1,15 Millionen Franken fest. Begründung: Die Nachbarin habe bereits vor dem Kauf ein Gesuch für den Abbruch der Liegenschaft und den Neubau eines Mehrfamilienhauses gestellt. Bei Abbruchliegenschaften könnten Investitionskosten nicht vom Grundstückgewinn abgezogen werden.
Aus den Erwägungen:
3. a) Um die Besteuerung des Grundstückgewinns als «unverdienten» Wertzuwachs zu gewährleisten, verlangt der von Lehre und Rechtsprechung entwickelte Grundsatz der vergleichbaren Verhältnisse, dass sich Erlös und Anlagewert auf das umfänglich und inhaltlich gleiche Grundstück beziehen. Hat sich dessen tatsächliche oder rechtliche Beschaffenheit während der massgebenden Besitzesdauer wesentlich geändert, so sind durch Zu- oder Abrechnungen vergleichbare Verhältnisse herzustellen.
d) Vor dem Hintergrund des soeben Gesagten dreht sich der vorliegende Streit primär um die Frage, ob die Pflichtigen überbautes Land mit einem intakten Einfamilienhaus oder überbautes Land mit einem Abbruchobjekt und damit Bauland veräussert haben. Die Vorinstanz schliesst – indem sie von einem wirtschaftlichen Abbruchobjekt ausgeht – auf Letzteres. Damit ist der Begriff des wirtschaftlichen Abbruchobjekts im Folgenden näher auszuleuchten.
aa) Im Gegensatz zur technischen Abbruchreife als Begriff aus der Architektur und dem Ingenieurwesen versteht sich die wirtschaftliche Abbruchreife als ökonomischer Begriff. Wirtschaftlich abbruchreif ist ein Gebäude – ungeachtet seines Zustands – stets dann, wenn der Eigentümer durch dessen Abbruch und einen nachfolgenden Neubau oder eine andere Nutzung des Bodens eine höhere Rendite erzielen kann, wenn also der absolute Landwert höher ist als der Verkehrswert des Grundstücks im Rahmen der vorhandenen Überbauung. Die Annahme, dass ein wirtschaftliches Abbruchobjekt vorliege, ergibt sich erst aufgrund einer Renditeberechnung. Wichtig ist nun aber, dass die Frage des Vorliegens eines wirtschaftlichen Abbruchobjekts in objektiver Weise aus Sicht des Veräusserers zu beantworten ist.
Es ist also die Frage zu stellen, ob er einen Betrag verlangt und erhalten hat, der über den reinen Landwert hinaus auch noch eine (erhebliche) Entschädigung für das Gebäude umfasst. Ein Abbruchobjekt liegt dagegen vor, wenn die erhaltene Entschädigung für das Gebäude praktisch vernachlässigbar ist (was gemäss den Kommentatoren zum Zürcher Steuergesetz regelmässig zutreffen dürfte, wenn sie nur bis zu 10 Prozent des Gesamterlöses ausmacht); in diesem Fall hat der Veräusserer einfach einen leicht höheren Preis für das Land erhalten, als für vergleichbares unüberbautes Land bezahlt worden wäre. Ein Indiz für ein Abbruchobjekt liegt sodann vor, wenn nicht der Käufer, sondern der Veräusserer schon vor Beginn von Verkaufsverhandlungen Überbauungsstudien seines Grundstücks erstellen lässt.
bb) Aufgrund der Vermutung, dass der bei einem Grundstückverkauf erzielte Erlös auch die Gebäude umfasse, obliegt der Grundsteuerbehörde die Beweislast für das Gegenteil. Dazu wird sie sich, wenn es um eine wirtschaftliche Abbruchreife geht, zweckmässigerweise auf Schriftstücke des Veräusserers abstützen, aus denen sich ergibt, wie er den verlangten Preis errechnet hat (eingeholte Gutachten, Korrespondenz mit Kaufinteressenten usw.). Allein mittels eines Gutachtens, das die Steuerbehörde einholt und welches aufgrund von Renditeüberlegungen eine wirtschaftliche Abbruchreife belegt, kann der Beweis nicht geführt werden.
4. a) Vorliegend wird im öffentlich beurkundeten Kaufvertrag vom Juni 2020 bei der Grundstückbeschreibung sowohl das bestehende Wohngebäude als auch das Nebengebäude aufgeführt. Nach dem Gesagten ist damit zunächst ohne weiteres davon auszugehen, dass die Pflichtigen ein überbautes Grundstück zum Preis von 1,7 Millionen Franken verkauft haben. Ebenfalls steht damit fest, dass es folglich am Gemeinderat als veranlagender Behörde liegt, den Beweis dafür zu erbringen, dass für die Preisgestaltung der Wert des bestehenden Einfamilienhauses infolge von dessen Abbruchreife keine Rolle spielte. Diesen Beweis muss sie zuerst erbringen, bevor sie – wie im Einspracheentscheid geltend gemacht – von den Pflichtigen den Gegenbeweis verlangen kann.
b) Der Beweis gelingt ihr indes in keiner Weise.
bb) Auch hat die veranlagende Behörde den Beweis für das Vorliegen der behaupteten wirtschaftlichen Abbruchreife nicht einmal im Ansatz erbracht.
Dass die Erwerberin an den Gebäuden der Pflichtigen nicht interessiert war, trifft zwar zu, ergibt sich jedoch nicht aus dem Veräusserungserlös von 1,7 Millionen Franken, sondern aus Tatsachen, welche der Gemeinde bekannt waren. So wusste die Gemeinde, dass die Erwerberin in der Umgebung bereits Land besass und die Erstellung einer verbundenen Arealüberbauung plante.
All diese Tatsachen betreffen jedoch bei der Frage nach der wirtschaftlichen Abbruchreife die nicht massgebliche Sicht der Erwerberin. Die Pflichtigen hatten als Veräusserer eine andere Sichtweise. Im Sinn eines Wohnortwechsels innerhalb derselben Gemeinde planten sie, die zum Verkauf stehende Liegenschaft in der Nähe zu erwerben, was (wohl mit Blick auf die Finanzierung) mit dem gleichzeitigen Verkauf ihrer Liegenschaft verbunden war.
Es versteht sich von selbst, dass sich damit die Sichtweise der Erwerberin fundamental von derjenigen der Pflichtigen unterschieden hat. Letztere konnten mangels weiterem Landbesitz in der Umgebung entsprechende Renditeüberlegungen unter Ausschöpfung von Ausnützungsoptimierungen gar nicht anstellen. Für sie war die Erstellung einer Neuüberbauung (unter Einbezug von Nachbargrundstücken) im Sinn des Projekts der E AG gar nicht möglich, weshalb aus ihrer Sicht auch kein wirtschaftliches Abbruchobjekt vorlag. Mithin ist auch nicht einzusehen, wieso sie ihr Grundstück als Bauland hätten auf den Markt bringen und bei der diesbezüglichen Preisbestimmung Renditeberechnungen möglicher Neuüberbauungen unter Einbezug von Nachbargrundstücken anstellen sollen.
cc) Zusammenfassend zeigt sich, dass der vorliegende Fall grosse Ähnlichkeiten mit dem Beispiel hat, in welchem ein Investor ein Einkaufszentrum errichten will und beim diesbezüglichen Landerwerb in Kauf nimmt, ein auf dem Land noch vorhandenes intaktes Gebäude abbrechen zu müssen. Solche Abbruchabsichten eines einzelnen Erwerbers, der Grösseres plant und deshalb anders kalkulieren kann, bringen aus Verkäufersicht ein intaktes Gebäude (mit einem Wert von mindestens 450 000 Franken) nicht in die Nähe eines wirtschaftlichen Abbruchobjekts. Die gegenteilige Sichtweise hätte die Nichtberücksichtigung von angefallenen Anlagekosten (Gewinnungskosten) im Bereich von mehreren Hunderttausend Franken zur Folge womit die Pflichtigen letztlich einen Gewinn zu versteuern hätten, welchen sie gar nicht erzielt haben.
6. b) Aufgrund der vertretenen falschen Auffassung, die Pflichtigen hätten Bauland verkauft, unterliess es der Gemeinderat D, die geltend gemachten, auch gebäudebezogenen Anlagekosten sowie die Frage des Steueraufschubs infolge Ersatzbeschaffung, zu prüfen. Damit liegt ein bedeutsamer Verfahrensmangel vor, der grundsätzlich nicht vom Steuerrekursgericht geheilt werden kann. Für den nun vorliegenden Fall, dass nicht von Bauland auszugehen ist, hat der Gemeinderat im Übrigen keinen Eventualantrag gestellt; insbesondere hat er auch in der Rekursantwort nicht beantragt, dass diesfalls auf den beantragten Grundstückgewinn gemäss Deklaration und den beantragten Steueraufschub abzustellen sei. Die Sache ist daher in teilweiser Gutheissung des Rekurses an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Gemeinderat ist im zweiten Rechtsgang gehalten, den Grundstückgewinn und den (teilweisen) Aufschub der diesbezüglichen Steuer unter dem Aspekt der Veräusserung eines mit einer intakten Wohnliegenschaft überbauten Grundstücks zu prüfen.
Steuerrekursgericht des Kantons Zürich, Entscheid GR.2021.15 vom 30.11.2021