Der Rechtsstaat sei «in vielen europäischen Staaten in Gefahr», sagt Bundesrichter Thomas Stadelmann. Der 60-Jährige ist seit 2010 Bundesrichter. Bis Ende November 2018 war er Delegierter der Schweizerischen Richtervereinigung in der Europäischen Richtervereinigung (EAJ) und setzte sich in dieser Funktion vehement für die Rechtsstaatlichkeit und eine unabhängige Justiz in der Türkei ein.
Die Befürchtung des Bundesrichters ist real. Auch das Europaparlament ist laut einem Bericht um die Demokratie, den Rechtsstaat und die Grundrechte in Ungarn besorgt. Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit seien in Gefahr, das Verfassungs- und Justizsystem geschwächt. In Polen wiederum hebelt die konservative Regierungspartei die Justiz als demokratisches Kontrollorgan aus. Wegen der Zwangspensionierung zahlreicher oberster Richter verklagte die EU-Kommission Polen Ende 2018 vor dem Europäischen Gerichtshof.
Die EU-Kommission kann gegen EU-Staaten klagen. Welche Rechtsmittel aber stehen zur Verfügung, wenn ein Nicht-EU-Staat wie die Türkei zwar die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet hat, die Unabhängigkeit seiner Justiz aber systematisch abbaut? Stadelmann: «Die Aktionen gegen den Rechtsstaat in der Türkei haben vielfach keine direkten Auswirkungen auf ein bestimmtes Individuum. Es fehlt also die persönliche Betroffenheit, um eine Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einzureichen.»
Die EMRK kennt zwei Rechtsmittel an den Gerichtshof in Strassburg, den EGMR: Einerseits die Individualbeschwerde. Sie kann von jedem Bürger eines Vertragsstaates, aber auch von nichtstaatlichen Organisationen oder von Personengruppen erhoben werden. Zudem gibt es die Möglichkeit einer Staatenbeschwerde als Mittel zum Schutz der Menschenrechte, die von jedem Vertragsstaat gegen einen anderen Vertragsstaat eingelegt werden kann. Sie wäre das passende Instrument, um gegen Verletzungen des Rechtsstaates in der Türkei vorzugehen. Laut Stadelmann ist sie jedoch «weitgehend wirkungslos». Klage ein Vertragsstaat gegen einen anderen, werde dies als unfreundlicher politischer Akt verstanden. Seit Abschluss der Konvention im Jahr 1950 gab es insgesamt lediglich 23 Staatenbeschwerden.
Anpassung der Menschenrechtskonvention
Deshalb sieht Stadelmann politischen und gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Der Bundesrichter plädiert für eine zusätz-liche Organbeschwerde beim Gerichtshof. «Damit öffnet man zusätzlichen Akteuren die Möglichkeit der Beschwerdeerhebung.» Stadelmann denkt etwa an die parlamentarische Versammlung des Europarates: «Denkbar wäre beispielsweise, dass diese mit einem qualifizierten Mehr ihren Generalsekretär mit der Einreichung einer Organbeschwerde gegen ein Mitgliedsland beauftragen kann.» Andererseits könnte man auch bestehenden Organen – etwa dem Kommissar für Menschenrechte des Europarats oder konkret bestimmten Sonderberichterstattern aus dem Office of the United Nations High Commissioner für Human Rights (OHCHR) – diese Kompetenz einräumen.
Um eine solche Organbeschwerde zu ermöglichen, müsste die EMRK angepasst werden. Stadelmann schlägt die Schaffung eines neuen Artikels 33a EMRK (Organbeschwerde) vor. «In diesem Artikel könnten die konkreten Organe aufgeführt werden, die den Gerichtshof in Strassburg anrufen dürfen.» Der grosse Vorteil einer solchen Organbeschwerde wäre nach Stadelmann die Entkoppelung des Menschenrechtsschutzes von politischen oder diplomatischen Überlegungen. Diese ermächtigten Organe wären politisch unabhängiger und könnten freier von diplomatischen Überlegungen prüfen, ob eine Klage opportun wäre oder nicht. «Zudem müssen sie nicht wie bei der Individualbeschwerde eine persönliche Betroffenheit nachweisen. Sie könnten bereits gegen den Erlass menschenrechtswidriger Gesetze klagen.»
Spannungen zwischen Staaten vermeiden
Sebastian Heselhaus, Staatsrechtsprofessor an der Uni Luzern, teilt die Einschätzung nicht, dass solche internationalen Organisationen politisch und diplomatisch unabhängiger wären als Staaten. Die Aufgaben der beiden Organisationen seien teilweise hochpolitisch. Auch dort seien Spannungen mit Vertragsstaaten nicht ausgeschlossen. Der Professor erinnert daran, dass erst kürzlich der Europarat Russland für die Annexion der Krim gerügt hatte. «Aus Protest zahlt Russland keine Beiträge mehr an den Europarat. Das wirkt sich auch auf die Finanzierung des Gerichtshofs aus.»
Ein wichtiger Grund für die Betrauung eines Gerichtshofes mit der Überprüfung von Menschenrechtsverstössen ist nach Heselhaus gerade, dass man damit direkte Spannungen zwischen Staaten vermeiden wolle. «Das wird man auch bedenken müssen, wenn man mögliche Beschwerden von internationalen Organisationen diskutiert.»
Fonds zur Unterstützung von türkischen Richtern
Die Europäische Richtervereinigung (EAJ) hat einen Fonds eingerichtet, mit dem sie Richter unterstützt, die wegen der Willkürjustiz in der Türkei in Not gerieten. Entlassene finden keinen Job, weil sie nicht mehr im Staatsdienst arbeiten dürfen, und private Arbeitgeber wollen sie nicht beschäftigen. Familien von inhaftierten Richtern werden in Sippenhaft genommen: Sie haben ihre Existenzgrundlage verloren. Bis Oktober zählte die EAJ 460 Gesuche um Unterstützungsleistungen. 140 Familien konnten bis jetzt mit einem einmaligen Beitrag unterstützt werden. Die ausbezahlte Summe beträgt 90 000 Euro – also weniger als 1000 Euro pro Familie.
Beiträge an den Solidaritätsfonds kann man wie folgt leisten: EAJ-Fund, Kastanienbaum, PC 61-944643-8.