Christoph Reut ist Staatsanwalt im Kanton Appenzell Ausserrhoden. An der Tagung rund um das neue Sexualstrafrecht vom 16. Juni 2023 analysierte er die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu diesem Thema. In den drei Jahren 2020 bis 2022 behandelte die strafrechtliche Abteilung jeweils zwischen 42 und 55 Beschwerden. «Die Erfolgschance für Beschuldigte lag während dieser Zeitspanne bei 2,4 bis 5,5 Prozent.»
Umgekehrt seien Beschwerden der Staatsanwaltschaften oder der Opfer regelmässig gutgeheissen worden. Zwar handelte es sich hier nur um eine bis vier Beschwerden in den drei Jahren. Reut folgert: «Staatsanwälte handeln geradezu nachlässig, wenn sie einen zweitinstanzlichen Freispruch nicht ans Bundesgericht weiterziehen.»
Diese Zahlen zeigen: Das Bundesgericht ist nicht immun gegen gesellschaftliche Entwicklungen. In Strafverfahren um Sexualdelikte haben Beschuldigte in Lausanne offenbar kaum Erfolgschancen. Das Parlament setzt mit dem revidierten Sexualstrafrecht ebenfalls auf eine stärkere Pönalisierung, sowohl was die Art der strafbaren Handlungen wie den Strafrahmen angeht.
Laut bisherigem Gesetzeswortlaut liegt eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung nur dann vor, wenn das Opfer durch Bedrohung oder Gewalt zu sexuellen Handlungen gezwungen wurde. Konkret: Geschlechtsverkehr, den nicht beide Personen wollen, wird nach aktuellem Gesetz einzig dann als schweres Unrecht qualifiziert, wenn das Opfer zum Geschlechtsverkehr genötigt wurde. Der Täter muss also Gewalt anwenden, das Opfer bedrohen, unter psychischen Druck setzen oder zum Widerstand unfähig machen. Setzt er sich über ein ausdrückliches Nein des Opfers hinweg und wendet dabei kein Nötigungsmittel an, liegt keine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung vor.
Neu reicht ein Nein in Worten oder Gesten aus
Ab Juli 2024 werden alle sexuellen Handlungen an einer Person gegen deren Willen als Verbrechen mit einer Freiheitsstrafe sanktioniert. Eine Vergewaltigung oder ein sexueller Übergriff liegen bereits vor, wenn das Opfer dem Täter durch Worte oder Gesten zu verstehen gibt, dass es nicht einverstanden ist, und der Täter den Willen des Opfers bewusst ignoriert. Auch ein Erstarren des Opfers als Folge eines Schocks – das sogenannte Freezing – gilt neu als Ablehnungszeichen. Der Täter wird wegen Vergewaltigung oder sexuellen Übergriffs belangt, sofern er diesen Schockzustand erkennt.
Zudem wird vor allem auch die Definition der «Vergewaltigung» erweitert. Neu zählen neben dem Beischlaf auch beischlafähnliche Handlungen als Vergewaltigung. Konkret fallen künftig Analverkehr und Oralverkehr ebenfalls unter den Tatbestand, und es können auch männliche Personen Opfer einer Vergewaltigung werden. Das Eindringen in die Vagina kann zudem nicht nur mit dem Penis, sondern auch mit einem anderen Körperteil, etwa der Hand, oder mit einem Gegenstand erfolgen. Kommt zusätzlich eine Nötigung hinzu, etwa durch Gewalt oder Drohung, gilt bei Vergewaltigungsdelikten eine Mindeststrafe von einem Jahr.
Durch die verwendete Formulierung «beischlafähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist» wird verhindert, dass auch ein Zungenkuss eine Vergewaltigung darstellen kann. Bei diesem wird zwar in den Körper des Opfers eingedrungen, es handelt sich aber nicht um eine beischlafähnliche Handlung. Ein Zungenkuss kann jedoch eine sexuelle Nötigung darstellen.
Neuer Tatbestand des sexuellen Übergriffs
Welche Auswirkungen hat das neue Gesetz? Stephan Schlegel, Strafverteidiger in Zürich und Mitverfasser des Handkommentars zum Schweizerischen Strafgesetzbuch, verweist auf das Hauptproblem von Strafverfahren wegen Sexualdelikten. «Auch wenn mit dem neuen Sexualstrafrecht der Tatbestand der Vergewaltigung erweitert und ein neuer Tatbestand des sexuellen Übergriffs geschaffen werde, handelt es sich in aller Regel um Vieraugendelikte mit ‹Aussage gegen Aussage›-Situationen». Entscheidende Bedeutung hätten die Aussagen der Beteiligten, sagt Schlegel.
Beim Schockzustand ist noch vieles unklar
Das neue Gesetz wertet den Zustand des Schocks des Opfers als Ablehnungszeichen. Das Gesetz schreibt von «Schockzustand». Für Schlegel ist in diesem Punkt alles unklar. «Der Schockzustand war bisher kaum ein Thema.» Er habe den Eindruck, in den vergangenen Jahren sei die Beschreibung eines Schockzustands in Opferbefragungen vermehrt aufgetaucht, und zwar in erster Linie in Fällen, bei denen es aufgrund der Vorgeschichte starke Indizien für einvernehmlichen Sex gab. Das Beweisproblem bleibe jedoch auch hier, sagt Strafverteidiger Schlegel: «Die Staatsanwaltschaft muss beweisen, dass das Opfer in einem Schockzustand war, und dass der Täter diesen wahrgenommen hat.»
Worauf dies hinausläuft, ist für Linda Sutter, Staatsanwältin für Sexualdelikte beim kantonalen Untersuchungsamt St. Gallen, klar: «Der Fokus der Untersuchung wird sich noch stärker auf die Aussagen der Betroffenen verschieben.» Denn die neuen Rechtsbegriffe wie «Schockzustand» müssten gefüllt werden. Deshalb sei von grosser Bedeutung, dass die Befragung von Beschuldigten und Opfern äusserst sorgfältig durchgeführt werde, um hochwertige Aussagen zu erhalten.
Für Sutter ist klar, dass eine präzise Dokumentation der Befragung dabei unerlässlich ist: «Denn die Einvernahme als Beweismittel wird in der Untersuchung und vor Gericht nochmals deutlich an Bedeutung gewinnen.» Die Basler Opferanwältin Béatrice Müller bekräftigt dies in einem Interview mit der Beratungsstelle Opferhilfe beider Basel: «Die Strafuntersuchungsbehörden müssen nun nachweisen, dass die Täter das Nein des Opfers erkennen konnten oder es zumindest hätten erkennen müssen.»