Artikel 54, Absatz 1, Satz 2 der Zivilprozessordnung lautet: «Die Entscheide werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.» Das geht im Internetzeitalter am einfachsten online. Diese Meinung vertritt Daniel Hürlimann, Assistenzprofessor für Wirtschaftsrecht mit Schwerpunkt Informationsrecht an der Uni St. Gallen. Er sitzt – neben dem Direktor des Bundesamts für Justiz, Martin Dumermuth – im Vorstand des Vereins eJustice.ch. Dessen Zweck: «Förderung des Einsatzes von Informationstechnologie zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und Bürgernähe in der Rechtspflege von Bund, Kantonen und Gemeinden.»
Das Bundesgericht publiziert seit 2007 online alle End- und Teilentscheide sowie vom Abteilungspräsidium bezeichnete Vor- und Zwischenentscheide anonymisiert. So weit sind die Kantone noch lange nicht. Das ergibt eine plädoyer-Recherche in zehn Kantonen.
Aargau: Auf der Internetseite des Kantons sind nur «Aargauische Gerichts- und Verwaltungsentscheide» bis ins Jahr 2014 auffindbar (www.ag.ch/Kanton nach Organisation/Gerichte/Über uns/Gesetze & Entscheide). Die Sammlung enthält ausgewählte Entscheide, aber keine der Bezirksgerichte. Immerhin: Es gibt ein Stichwortregister und eine Volltextsuche.
Laut Nicole Payllier, Sprecherin der Gerichte Kanton Aargau, wird die Sammlung von Leitentscheiden nur einmal jährlich produziert. Sie sind in der Regel im Sommer des Folgejahrs online einsehbar. Es würden nur «wegleitende Entscheide» veröffentlicht, den Urteilen der Bezirksgerichte fehle der Leitentscheidcharakter meistens. Der Aargauische Anwaltsverband kritisiert die Sammlung als «ungenügend». Sekretär Felix Weber würde es begrüssen, wenn die Entscheide möglichst vollständig und auch von ersten Instanzen zeitnah publiziert würden.
Basel-Landschaft: Das Baselbieter Kantonsgericht hinkt mit der Publikation von Entscheiden ebenfalls hinterher (www.bl.ch/Gerichte/Rechtsprechung/Rechtsprechung des Kantonsgerichts). Anfang Mai ist kein einziges Urteil des laufenden Jahrs online. Eine Volltextsuche gibt es, die Entscheide lassen sich nach Rechtsgebieten ordnen. Laut Gerichtsverwalter Martin Leber werden Entscheide «laufend ins Internet gestellt». Anfang Jahr sei aber mit Verzögerungen zu rechnen, weil der Jahresabschluss Priorität habe.
Basel-Stadt: Abrufbar sind aktuelle Entscheide des Appellationsgerichts (www.rechtsprechung.gerichte-bs.ch). Möglich ist eine Suche nach Geschäftsnummer, Jahrgang oder im Volltext. Entscheide des Zivilgerichts sind nicht online. Laut dessen Verwaltungschef Markus Grolimund ändert sich das in nächster Zeit nicht.
Bern: Obergericht und Verwaltungsgericht schalten laufend ausgewählte Entscheide auf (www.justice.be.ch/Rechtsprechung/Entscheide). Eine Volltextsuche gibt es bei den Urteilen des Verwaltungsgerichts, nicht aber beim Obergericht. Laut Rafael Küffer, stellvertretender Generalsekretär des Obergerichts, soll eine Suchfunktion Anfang 2017 verfügbar sein. Entscheide der Regionalgerichte sind nicht präsent. Daran soll sich so rasch nichts ändern.
Luzern: Die Gerichte führen eine aktuell gehaltene Sammlung mit Leitentscheiden (gerichte.lu.ch/Rechtsprechung/LGVE). Urteile sind nach Instanz, Datum oder mit einer Volltextsuche auffindbar. Online sind sieben Bezirksgerichtsurteile aus den Jahren 1991 bis 2009. Laut Kantonsgerichtsschreiberin Franziska Betschart sind erstinstanzliche Entscheide von geringerem Interesse.
St. Gallen: Auch die sanktgallischen Gerichte schalten aktuelle Entscheide im Internet auf (www.gerichte.sg.ch/Rechtsprechung). Urteile des laufenden Jahres sind noch rar. Vom Kantonsgericht sind zwei Entscheide der Zivilkammern online, von der Strafkammer und Anklagekammer noch kein einziger. Eine Suche ist nach Fallnummer, Artikel oder im Volltext möglich. Martin Bauer, stellvertretender Generalsekretär des Kantonsgerichts, begründet die Verzögerung damit, dass die Urteile nur nach Eintritt der Rechtskraft oder bei einem Weiterzug nach dem Entscheid des Bundesgerichts publiziert werden. Die Abfassung der Begründung, die Anonymisierung und die Aufbereitung bräuchten Zeit.
Schaffhausen: Das Obergericht hat erst zwei Entscheide von 2016 publiziert (www.sh.ch/Gerichte/Obergericht/Entscheide des Obergerichts/2016). Eine Volltextsuche gibt es nicht, nur eine Sortierung nach Jahrgang. Die Jahrgänge selbst kann man nach Stichworten durchsuchen. Gemäss dem leitenden Gerichtsschreiber Beat Sulzberger verzögert die nötige Bearbeitung die Veröffentlichung. So würden Leitsätze formuliert sowie Sachverhalt und Erwägungen zusammengefasst.
Thurgau: Grundsatzentscheide des Obergerichts werden einmal jährlich mit dem Rechenschaftsbericht ins Netz gestellt. Der aktuellste stammt aus dem Jahr 2014 (ogbuch.tg.ch). Immerhin sind die Berichte per Volltextsuche erschlossen. Laut Obergerichtssprecher Thomas Soliva sind die Entscheide des Vorjahrs etwa ab Juni/Juli online. Das Obergericht habe zu wenig Personal, um die Entscheide laufend ins Web zu stellen. Die Entscheide der Bezirksgerichte sind online nicht auffindbar.
Zürich: Der Kanton hat eine umfangreiche Entscheiddatenbank, die derjenigen des Bundesgerichts gleicht. Seit Mitte 2011 werden laufend alle materiellen Entscheide anonymisiert publiziert (www.gerichte-zh.ch/Entscheide/Entscheide Neuheiten). Laut Obergerichtssprecherin Andrea Schmidheiny kommen weitere hinzu, so besondere Nichteintretensentscheide.
Unter «Entscheide neue ZPO» und «Entscheide neue StPO» wird publiziert, was die Kammern selbst als interessant bezeichnen. Unter «Entscheide suchen» ist eine Volltextsuche möglich. Bezirksgerichte haben keine Entscheide online.
Zug: Der Kanton Zug gehört bei der Internetpublikation von Gerichtsurteilen zu den Schlusslichtern. Die Gerichts- und Verwaltungspraxis (GVP) ist nur bis 2014 verfügbar (www.zg.ch/Behörden/Zivil- und Strafrechtspflege/Gerichts- und Verwaltungspraxis). Eine Volltextsuche gibt es nicht. Die Leitentscheide lassen sich als PDF-Dokument herunterladen, in diesem Dokument kann man Stichworte suchen. Das Zuger Verwaltungsgericht veröffentlicht einzelne Entscheide gelegentlich (www.zg.ch/Behörden/Verwaltungsrechtspflege/Verwaltungsgericht/aktuelle Entscheide). Laut Manuela Frey, Generalsekretärin des Obergerichts, ist die GVP normalerweise Ende Februar des Folgejahrs online. Dieses Jahr sei es wegen Softwareproblemen zu Verzögerungen gekommen. Die GVP nimmt laut Frey auch Entscheide der ersten Instanz auf.
Fazit: Bis auf das Obergericht Zürich treffen die kantonalen Gerichte eine Auswahl der im Internet publizierten Entscheide. Urteile erster Instanzen sind fast nicht anzutreffen.
Hürlimann fordert, dass alle Gerichte sämtliche Urteile im Internet publizieren. Eine inhaltliche Auswahl sei «aus Transparenzgründen, aber auch wegen der fehlenden Voraussehbarkeit des Präjudizcharakters eines Entscheids abzulehnen». Schon vor fünfzig Jahren schrieb Oskar Bosshardt, damals Präsident des Zürcher Verwaltungsgerichts: «Ein Urteil, dessen Begründung die gebotene Überzeugungskraft hat, gewinnt weit über den Einzelfall hinaus Bedeutung, sodass es nicht nur die Parteien, sondern die Öffentlichkeit angeht.»
Anonymisierung von Urteilen erleichtern
Dass erst- und zweitinstanzliche Entscheide seltener zitiert werden als jene des Bundesgerichts ist laut Hürlimann eine Folge der mangelnden Zugänglichkeit. Auch könnten gut begründete Urteile die Parteien überzeugen und von einem Weiterzug absehen lassen. Das führe «zu einem mindestens so grossen öffentlichen Interesse an erst- und zweitinstanzlichen Urteilen wie an Bundesgerichtsentscheiden».
Das Argument, die Publikation im Internet sei zu aufwendig, lässt Hürlimann nicht gelten. Urteile könnten anonymisierungsfreundlich abgefasst werden, indem die Parteinamen nur im Rubrum und Dispositiv vorkommen. Spezialsoftware führe Anonymisierungen zum Teil automatisch aus. Das Obergericht Zürich setzt 120 Stellenprozente für Anonymisierungen ein – aufgeteilt auf sechs Leute, meist Jus-Studenten. Laut Hürlimann sind die Kosten des Internetservers für Urteilsdatenbanken minim. Der Verein eJustice.ch beteilige sich teilweise sogar daran.