Bei der Ausrufung der besonderen Lage am 16. März berief sich der Bundesrat auf Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung (BV). Diese polizeiliche Generalklausel ermächtigt die Landesregierung, befristete Verordnungen zu erlassen, «um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen». Gestützt auf diese Norm erliess der Bundesrat am 13. März die «Covid-19-Verordnung 2».
Gemäss der Freiburger Staatsrechtlerin Eva Maria Belser soll Artikel 185 BV vor allem die klassischen Polizeigüter schützen: öffentliche Sicherheit, Leib und Leben, Freiheit, Eigentum, öffentliche Gesundheit oder Treu und Glauben im Geschäftsverkehr.
Im Jahr 2008 ging der Bundesrat laut Belser aber darüber hinaus, als sich der Bund mit bis zu sechs Milliarden Franken an der Grossbank UBS beteiligte und eine Pflichtwandelanleihe zeichnete. Das Bundesgericht hiess das Vorgehen gut, weil laut BGE 137 II 431 «in Ausnahmesituationen auch die ökonomische Stabilität und der Schutz des Finanzmarkts ein entsprechend schützenswertes polizeiliches Gut darstellen». Weiter heisst es im Urteil: «Da die Gefahrenabwehr und die Funktionsfähigkeit der Märkte bzw. das wirtschaftliche Gleichgewicht eng zusammenhängen, ging es beim finanzmarktrechtlichen Funktionsschutz nicht um eine wirtschaftspolitische, sondern in erster Linie um eine wirtschaftspolizeiliche Massnahme. Es kann darin eine gestützt auf die bestehenden, traditionell anerkannten Polizeigüter (in Abgrenzung zu diesen) erweiterte Polizeiaufgabe gesehen werden.»
Mit dieser kurzen Passage, die «im Urteil kaum begründet war», habe das Bundesgericht der Anrufung der polizeilichen Generalklausel «kräftig die Tür geöffnet», kritisiert der Basler Staatsrechtler Markus Schefer. Benjamin Schindler, Staatsrechtsprofessor an der Uni St. Gallen, stimmt zu. Lausanne habe ein «sehr offenes Begriffsverständnis» durchblicken lassen. Das sei ein Steilpass für den Bundesrat gewesen, dieses Jahr den Notstandsartikel auch dort anzurufen, wo es um die wirtschaftliche Abfederung der Folgen des Lockdowns ging.
Viel zu weit reichende Regelungen beschlossen
Schefer kritisiert, die Ausdehnung auf wirtschaftliche Aspekte habe zur Folge, «dass automatisch eine weniger unmittelbare Gefährdung genügt». Das führe zu einer enorm breiten Zuständigkeit des Bundesrates, «um letztlich alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen zu regeln, die dazu dienen, das geordnete Leben in der Schweiz sicherzustellen». Für Schindler mutiert der Notstandsartikel der BV so «zu einer allgemeinen Wohlfahrtsklausel für ausserordentliche Lagen».
Er hätte es als ehrlicher erachtet, die Massnahmen dort, wo sie sich ausserhalb der verfassungsrechtlichen Kompetenzen bewegten, auch als solche zu deklarieren, «nämlich als extrakonstitutionelles Notrecht». Dies hätte «die Notwendigkeit aufgezeigt, rasch zum verfassungsrechtlichen Normalzustand zurückzukehren».
Auch der Zürcher Staatsrechtler Giovanni Biaggini kritisiert in einem Beitrag im Schweizerischen Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht (ZBI) harsch, dass der Bundesrat «gesetzes-, ja verfassungsderogierende Bestimmungen» auf Artikel 185 Absatz 3 BV abgestützt habe. Biaggini zeigt sich erstaunt, «mit welcher Selbstverständlichkeit dabei Regelungen beschlossen wurden, die weit über die in diesem Artikel ausdrücklich genannten Schutzgüter – öffentliche Ordnung, innere und äussere Sicherheit – hinausweisen.» Auch er ist der Ansicht, aus der Generalklausel polizeilicher Natur sei plötzlich «eine Art Wohlfahrtsstaats-Generalklausel» geworden. Staatsrechtler Andreas Kley bekräftigt ebenfalls, die Polizeigeneralklausel erlaube «die gezielte und direkte Bekämpfung der auftretenden Gefahren – nicht aber darüber hinausgehende».
Für Markus Schefer bringt das die Schweiz in eine ungemütliche Situation: «Wir sind jetzt an einen Ort gelangt, an dem Artikel 185 BV praktisch keine Grenzen hat.» Biaggini fordert in der ZBI das Parlament deshalb auf, «klar Stellung zu beziehen» und die bundesrätliche Überdehnung des Notstandsartikels deutlich zu kritisieren. Er hofft, «dass sich der übermässige Rückgriff auf Artikel 185 BV im Rahmen der März-Verordnungen in der Rückschau als kurzes pandemisches Intermezzo entpuppt und nicht zu einem unguten Präzedenzfall wird».
Rechtsstaatliche Sicherungen notwendig
Nach geltendem Recht entscheidet der Bundesrat allein, ob ein Anwendungsfall des Notstandsartikels der BV vorliegt. Soll daraus eine allgemeine Wohlfahrtsklausel für alle ausserordentlichen Situationen werden, sollte der Bundesrat laut Schindler einen Auftrag des Parlaments erhalten. «So wie dies mit den Vollmachtenbeschlüssen der Bundesversammlung von 1939 geschehen ist.» Auch Eva Maria Belser sieht Reformbedarf. Selbst wenn sehr schnelle Entscheide nötig seien, sollte es möglich sein, parlamentarische Kommissionen zu konsultieren. Es sei wichtig, die Verfahren unter die Lupe zu nehmen und zu überlegen, wo und wie man demokratische und rechtsstaatliche Sicherungen einbauen könne: «Braucht es eine Notrechtskommission, die sofort informiert und konsultiert werden kann? Braucht es neue gesetzliche Grundlagen für ein E-Parlament, damit die Legislative auch beteiligt werden kann, wenn keine Session stattfindet?»
Schefer schlägt eine ständige parlamentarische Kommission aus den Präsidenten und Vizepräsidenten der anderen Kommissionen vor, die in Notstandssituationen bei der Verordnungsgebung umfassend informiert wird: «Wenn jemand den Durchblick bei einem Geschäft hat, dann sind es die Kommissionsmitglieder.» Einen Krisenrat – wie etwa von Ökonom Bruno S. Frey in der «Neuen Zürcher Zeitung» gefordert – lehnt Schefer ab. Das Parlament sei das «demokratisch am besten legitimierte Organ auf Bundesebene».
Auch Belser zieht einen Parlamentsausschuss dem besonderen Krisenrat vor. «Parlamentarier sind für ihre Ämter gewählt und kennen einander sowie die Abläufe. In Krisenzeiten sollte möglichst viel so funktionieren wie zu normalen Zeiten. Und bestehende Behörden sollten gestärkt und nicht zugunsten von Ad-hoc-Gremien über Bord geworfen werden.» Schindler sieht ebenfalls keinen Bedarf an «zusätzlichen Expertengremien». Solche Ideen seien in der Geschichte des Schweizer Bundesstaats immer wieder aufgetaucht. So habe der Staatsrechtler Max Imboden in seinem «Helvetischen Malaise» von 1964 einen «zivilen Generalstab» vorgeschlagen: «Verwirklicht wurde bislang keine dieser Ideen.»