plädoyer: Frau Baltzer, Sie haben den Ruf, häufig zu vergleichen. Welche Druckmittel setzen Sie ein, um die Parteien und deren Anwälte zu überzeugen?
Christine Baltzer: Keine. Wenn die Parteien zu mir kommen, wissen sie, dass ich den Fall abschliesse. Sei es mit Vergleich oder mit einem Urteil. Das ist mein Job. Da weiss ich die Autorität des Gerichts hinter mir. Ich begründe meinen Vergleichsvorschlag. Zusätzliche Druckmittel brauche ich nicht. Im Gegenteil: Mir ist wichtig, dass während einer Verhandlung nicht Druck aufgebaut, sondern abgebaut wird.
Herbert Heeb: Ich habe aber auch schon ganz anderes erlebt. Zum Beispiel, dass Richter unablässig auf die Kostenfolge hinweisen. Ein Gerichtspräsident hat mir und dem Gegenanwalt sogar einmal einen Brief geschickt mit der Aufforderung, wir sollen uns jetzt endlich einigen, sonst würde das Verfahren mindestens fünf Jahre dauern. Das Gericht könne kein zusätzliches Personal einstellen. Und noch massiver: An einer Weiterbildung für Anwälte hat ein ehemaliger Präsident des Zürcher Handelsgerichts eine Folie gezeigt zum Thema «Wie fördert man einen Vergleich?». Darauf stand an letzter Stelle: «Hunger, Durst und Müdigkeit.»
Baltzer: So geht es natürlich nicht. Und der Hinweis auf die Kosten kann erst noch fragwürdig sein, denn zumindest in der zweiten Instanz gibt es zwischen einem Urteil und einem Vergleich keine grossen Kostenunterschiede mehr. Die meisten Ausgaben, wie Anwaltshonorare oder Gelder für erstinstanzliche Beweisverfahren sind ja schon angefallen. Meine Erfahrung zeigt: Vergleiche entlasten Richter der zweiten Instanz nicht. Ein guter Vergleich muss genauso seriös vorbereitet werden wie ein gutes Urteil.
Heeb: Das ist vorbildlich. Aber Richter verfolgen auch eigene Interessen, wenn sie Vergleiche fördern. Der Vergleich erspart dem Gericht zum Beispiel das Beweisverfahren.
Baltzer: Vergleiche können zeit- und ressourcensparend sein. Richtig. Vor allem in Kantonen, wo Entscheide immer schriftlich begründet werden müssen. Im Kanton Baselland muss die erste Instanz ihr Urteil aber nur schriftlich begründen, wenn eine Partei appelliert oder wenn das Urteil schriftlich eröffnet wird.
plädoyer: Kann sich ein Anwalt gegen einen Richter wehren, der ungebührlich Druck aufsetzt, um die Parteien zu einem Vergleich zu bringen?
Heeb: Man kann höchstens an Ort und Stelle protestieren und dem Richter sagen, man akzeptiere sein Vorgehen nicht. Andere Mittel gibt es nicht; insbesondere ist auch die Praxis zum Ausstand eines Richters wegen der Art, wie er Vergleichsverhandlungen führt, höchst zurückhaltend. Oft kennt man die Richter und geht mit entsprechend hoher oder geringer Erwartung in die Vergleichsverhandlung.
Baltzer: Als Gerichtspräsidentin sollte man sich vielleicht informell ab und zu die Meinung seiner Kollegen anhören, wie man als Primadonna auf die Parteien wirkt, und sein Verhalten entsprechend ändern.
Heeb: Schön, aber leider werden die Richter, mit denen man dieses Problem hat, kaum so souverän sein und sich einer internen Begutachtung stellen.
plädoyer: Was ist ein guter Vergleich?
Baltzer: Das Wichtigste ist, dass die Parteien genügend Zeit haben, ihre Anliegen zu erklären. Und das Gericht muss ihnen einen Vergleich so erklären, dass sie ihn auch verstehen. Ich fühle mich besser, wenn beide Parteien nicht hässig aus dem Gerichtssaal gehen. Ein guter Vergleich heisst aber nicht, dass sich die Parteien in der goldenen Mitte treffen.
Heeb: Ein Vergleich ist schlecht, wenn der Richter den Vergleich nach dem Kräfteverhältnis der Parteien ausrichtet. Kaum hat dieser Richter das Gefühl, dass der Widerstand gegen den Vergleich auf der einen Seite stärker ist, macht er gegenüber der anderen Seite Druck. So verkommt der Vergleich zum Basar.
Baltzer: Das stimmt. Vor allem junge Richter, die wenig Erfahrung haben, müssen aufpassen, nicht in diese Falle zu tappen. Das Feilschen um Franken und Rappen sollte man vermeiden. Das geht jedoch nur, wenn man gut vorbereitet ist und den Vergleich nicht als eine Summe von Einzelvorschlägen verkauft, sondern als Gesamtpaket.
Heeb: Voraussetzung für einen guten Vergleich ist, dass der Richter durch seine Autorität und Neutralität ein Klima schafft, das den Parteien eine Einigung ermöglicht. Wenn nur die Anwälte und ihre Parteien zusammensitzen, ist das schwieriger.
Baltzer: Gerade erstinstanzlich, wo ja weitaus die meisten Vergleiche geschlossen werden, müssen Richter nicht unbedingt herausragende Juristen, sondern vor allem kommunikativ sein und ein gutes Rechtsgefühl haben. Generell gilt, bei einem guten Vergleich ist die Akzeptanz der Parteien höher als bei einem Urteil. Inhaltlich müssen Urteil und Vergleich nicht einmal weit auseinander liegen.
plädoyer: Wie macht ein Anwalt seinem Klienten einen Vergleich schmackhaft? Erwarten die Parteien nicht einen Urteilsspruch?
Heeb: Nein. Ob Urteil oder Vergleich ist den Parteien in der Regel egal. Wichtig ist ihnen, dass das
Ergebnis möglichst nahe bei ihrer Vorstellung liegt.
plädoyer: Herr Heeb, Sie haben an der heutigen Vergleichsjustiz wenig auszusetzen.
Heeb: Nein. Nichts Grundsätzliches, da ein guter Vergleich im Interesse der Parteien liegt. Dies hängt auch mit der Rechtsunsicherheit zusammen: Weil in vielen Fragen, zum Beispiel des Familienrechts das Urteil des Gerichts schwer bis gar nicht vorhersehbar ist, ist für die Parteien die vergleichsweise Einigung oft sicherer. In solchen Fragen würde ich mehr Klarheit begrüssen. So hatte die frühere, eindeutige Praxis, Kinder praktisch immer der Mutter zuzuteilen, wenigstens den Vorteil, dass es seltener zu den entsetzlichen Streitigkeiten um das Sorgerecht kam.
plädoyer: Mehr Präjudizien geben mehr Rechtssicherheit. Ist diese Rechtssicherheit in Gefahr, wenn in einigen Kantonen in der zweiten Instanz knapp 20 Prozent der Fälle mit Vergleich erledigt werden?
Heeb: Ich glaube nicht, dass der Mangel an Klarheit in vielen Rechtsfragen eine Frage der zu geringen Anzahl von Prädjudizien ist. Viele Urteile über konkrete Unterhaltsbemessungen schaffen keine klaren Verhältnisse, wenn alles Ermessensentscheide sind. Hingegen sollte dort, wo eine erste Instanz einen klaren Fehlentscheid gefällt hat, die obere Instanz durch Urteil und nicht durch Vergleich korrigieren.
Baltzer: Rechtssicherheit ist für die einzelne Partei nicht interessant. Sie ist für Anwälte und untere Instanzen von Bedeutung. Bei der heutigen Vergleichsquote gibt es sicher genügend Fälle, die weitergezogen werden, bis hin ans Bundesgericht.
Heeb: Es gibt Situationen, in denen Richter auch mit der grössten Lebenserfahrung nicht einschätzen können, wer gelogen hat, obwohl klar ist, dass eine der Parteien gelogen haben muss. In solche Situationen sollte man nicht versuchen, den Parteien einen Vergleich aufzudrängen und ihnen das Beweisverfahren auszureden. Es ist doch erstaunlich, dass heute im Kanton Zürich vor dem Einzelrichter gerade einmal 1,6 Prozent der Fälle mit einem Beweisverfahren entschieden werden.
Baltzer: Einverstanden. Vergleichsgespräche machen nicht in jedem Fall Sinn. Wenn jemand lügt, ist ein Vergleich häufig nicht angebracht.
plädoyer: Wie sollen Richter mit Vergleichsverhinderern umgehen?
Baltzer: Ein Richter muss seinen Vergleichsvorschlag einfach noch besser erklären. In der Regel sind die Parteien froh, wenn ein Vergleichsvorschlag auf dem Tisch liegt. Anwälte und Parteien, die mit dem Kopf durch die Wand wollen, sind eher selten.
Heeb: Primär muss immer die Meinung der Parteien im Mittelpunkt stehen. Wenn sie keinen Vergleich wollen, kann man sie auch nicht dazu zwingen. Ich bin jedoch überzeugt, dass Vergleichsverhinderer eine wichtige Funktion haben. Für die Rechtsfortbildung sind nicht die vernünftigen Rechtsanwälte und Parteien verantwortlich, sondern die «unvernünftigen». Das zeigte sich zum Beispiel im Bereich der Zwangspsychiatrie oder der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nur solche unbequemen Anwälte treiben die Rechtsprechung voran.