Neben dem Europäischen und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt es seit 2006 auch auf dem afrikanischen Kontinent eine regionale gerichtliche Instanz zum Schutz der Menschenrechte: den Afrikanischen Gerichtshof für die Rechte der Menschen und Völker. Er feiert dieses Jahr sein zehnjähriges Bestehen.
Der Gerichtshof ist ein Organ der Afrikanischen Union (AU) und hat seinen Sitz in Arusha im Nordosten Tansanias. Das Protokoll zur Schaffung eines afrikanischen Menschenrechtsgerichtshofs wurde 1998 in Burkina Faso verabschiedet und ist im Januar 2004, nach der Ratifizierung durch eine ausreichende Zahl von AU-Mitgliedstaaten, in Kraft getreten. 30 der 54 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union haben bis heute das Protokoll zur Errichtung des Gerichtshofs ratifiziert.
Der Gerichtshof setzt sich aus elf Richtern zusammen, die von der Vollversammlung der AU gewählt werden. Die Richter werden von den Mitgliedstaaten nominiert und in geheimer Wahl von der AU-Versammlung der Staatsoberhäupter und Regierungschefs gewählt.
Letztes Jahr wurden insgesamt 33 Klagen beim Gerichtshof eingereicht. «Aktuell sind 61 Fälle anhängig, 25 wurden bereits abschliessend entschieden», schreibt der deutsche Landesrichter Markus Löffelmann in einem Aufsatz für die «Europäische Grundrechtezeitschrift» (Heft 18–20). Löffelmann leitete von 2008 bis 2010 das deutsche Unterstützungsteam für den afrikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
In Afrika wurde der Ruf nach der Verankerung von Menschenrechten seit dem Ende der Kolonialzeit und der folgenden Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten laut. Das war in den 1960er-Jahren. Afrikaexperten und Juristen diskutierten an zahlreichen Treffen über die Möglichkeit eines regionalen Menschenrechtssystems mit einer Kommission als Hüterin der Menschenrechte. Die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten brachte aber bald schon auch Diktatoren und Militärregimes an die Macht, die zur jahrzehntelangen Destabilisierung des Kontinents beitrugen und die keinerlei Interesse an der Wahrung von Menschenrechten hatten.
Steiniger Weg zum Schutz der Menschenrechte
Der normative Grundstein für ein afrikanisches Menschenrechtssystem wurde deshalb erst viel später mit der afrikanischen Charta für Menschenrechte und Rechte der Völker im Jahr 1981 gelegt – ohne dass dabei gleichzeitig ein Gerichtshof eingerichtet worden wäre, der Verstösse gegen die Charta hätte ahnden können. Die Vertragsparteien konnten sich bloss auf die Schaffung einer Menschenrechtskommission einigen.
Die Charta wird «Banjul-Charta» genannt, weil ihr endgültiger Entwurf in Banjul, der Hauptstadt Gambias, verabschiedet wurde. Sie war das erste kontinentale Menschenrechtsinstrument in Afrika.
Die Banjul-Charta wurde beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) am 27. Juni 1981 in Nairobi einstimmig verabschiedet und trat am 21. Oktober 1986 in Kraft. Die OAU war die Vorgängerorganisation der Afrikanischen Union.
Die Menschenrechtskommission nahm dann 1987 ihre Arbeit auf. Sie besteht darin, die Menschenrechte zu schützen und ihre Durchsetzung zu fördern. Sie war allerdings kein Gerichts-, sondern einzig ein Überwachungsorgan, was die Verurteilung eines Staats ausschloss. Es sollte wieder Jahre dauern, bis die Idee für einen Gerichtshof im Jahre 1993 erneut aufkam. Der Anstoss dafür kam dieses Mal von der internationalen Juristenkommission mit Sitz in Genf. Ein Jahr später erteilte der OAU-Generalsekretär – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Genozids in Ruanda – den Auftrag, ein Protokoll zur Errichtung eines afrikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu erarbeiten. Ein erster Entwurf kam 1995 bei einem Expertentreffen in Kapstadt zustande. 1997 folgten zwei weitere Treffen, bis das Protokoll 1998 schliesslich von den Staatschefs am OAU-Gipfeltreffen in Burkina Faso unterzeichnet wurde. 2004 trat es in Kraft.
Wegweisende Entscheide
Am 22. Januar 2006 wurden beim Gipfeltreffen in Khartum die ersten elf Richter gewählt und im Juni in Banjul vereidigt. Seither hat der Gerichtshof diverse wegweisende Entscheide gefällt:
Der Fall Robert Zongo: Am 13. Dezember 1998 wurde Norbert Zongo, ein Journalist aus Burkina Faso, zusammen mit seinem jüngeren Bruder und zwei Kollegen ermordet. Die Leichen wurden im Süden des Landes in einem Auto aufgefunden. Die Täter wurden bis heute nicht gefasst. Zongo hatte zu diversen politischen und wirtschaftlichen Skandalen recherchiert, insbesondere zum Tod des Chauffeurs von François Compaoré, dem Bruder des damaligen Staatspräsidenten Blaise Compaoré.
Die Beschwerdeführer (Hinterbliebene der Ermordeten und eine burkinische Menschenrechts-NGO) machten vor dem Gerichtshof geltend, der burkinische Staat habe nicht die gebotenen Anstrengungen unternommen, um den Fall abzuklären. Die Ermittlungsbehörden hätten es versäumt, Verdächtige, namentlich François Compaoré, wie geboten, rechtzeitig zu vernehmen.
In seinem Entscheid von 2014 bejahte der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör. Die nationalen Strafverfolgungsbehörden hätten nicht die gebotenen Anstrengungen zur Aufklärung des Mords unternommen.
Der Fall Christopher Mtikilia: Im Juni 2013 erliessen die Richter über eine Individualbeschwerde erstmals einen stattgebenden Entscheid: Christopher Mtikilia hatte dagegen geklagt, dass die Verfassung von Tansania keine unabhängigen Kandidaten bei Wahlen zulässt. Der Gerichtshof sah darin einen Verstoss gegen die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Teilnahme an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten Tansanias.
“Die Richter haben zu wenig Zeit”
Bis auf den Präsidenten üben alle Richter ihr Amt in Teilzeit aus. Die elf Richter müssen Bürger eines AU-Mitgliedstaats sein, wobei bloss eine Person pro Mitgliedstaat im Richtergremium vertreten sein darf. Die Richter vertreten nicht
ihren Staat, sie üben ihr Amt in ihrer persönlichen Funktion als Richter aus. Gemäss Art. 17 des Protokolls muss ihre Unabhängigkeit im Einklang mit internationalem Recht gesichert sein. Die Richterschaft wählt alle zwei Jahre aus ihrer Mitte einen Gerichtspräsidenten sowie dessen Stellvertreter.
Der Gerichtshof kommt alle drei Monate für eine Dauer von 15 Tagen zu ordentlichen Sitzungen zusammen. Bei Bedarf können ausserordentliche Sitzungen einberufen werden. Während der Sitzungen werden Fälle behandelt, öffentliche Anhörungen durchgeführt sowie administrative und personelle Angelegenheiten entschieden.
Interessant und für ein Gericht ungewöhnlich ist, dass es keine Trennung zwischen Richterschaft und Administration gibt. Die Hamburger Rechtsanwältin und Menschenrechtsexpertin Iris Breutz kritisiert: «In der Praxis führt dies zu langwierigen Entscheidungsprozessen. Mit der zunehmenden Anzahl von Fällen verbleibt den Richtern zudem kaum hinreichend Zeit, um Fälle zu behandeln und zu untersuchen.» Ist ein Urteil gesprochen, haben die verurteilten Staaten gemäss Art. 30 des Protokolls die Pflicht, die Urteile zu befolgen und umzusetzen. Ein Vollstreckungssystem existiert jedoch nicht.
Der Gerichtshof ist dafür zuständig, in streitigen Fällen Recht zu sprechen (Art. 3 des Protokolls). Art. 4 erlaubt dem Gerichtshof zusätzlich auf Antrag die Erstellung von Rechtsgutachten («advisory opinions») zu Fragen der Banjul-Charta und zu weiteren Menschenrechtsinstrumenten. Ein entsprechender Antrag kann von einem AU-Mitgliedstaat, der Afrikanischen Union selbst, einem ihrer Organe oder jeder afrikanischen Organisation, die von ihr anerkannt ist, gestellt werden.
Gemäss Art. 5 des Protokolls sind klageberechtigt:
- die Afrikanische Menschenrechtskommission
- ein Vertragsstaat, der eine Beschwerde beim ACtHPR eingereicht hat
- ein Vertragsstaat, gegen den eine Beschwerde bei der Kommission eingereicht wurde
- ein Staat, dessen Bürger Opfer einer Menschenrechtsverletzung geworden ist
- afrikanische zwischenstaatliche Organisationen.
Eingeschränkter Zugang zum Gerichtshof
Individuen können den Gerichtshof nur anrufen, wenn ihr Land das Protokoll ratifiziert und eine Sondererklärung gemäss Art. 34 abgegeben hat. Er stellt klar, dass eine Klage einer Person nur vom Gerichtshof behandelt werden kann, wenn der verklagte Staat dies ausdrücklich durch Abgabe einer gesonderten Erklärung gestattet hat.
Von den 30 Staaten, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkennen, haben bisher nur 7 Staaten diese Sondererklärung hinterlegt: Tansania, Mali, Malawi, Ghana, Benin, die Elfenbeinküste und Burkina Faso. Diese Einschränkung der Individualbeschwerde erschwert den Zugang zum Gerichtshof stark. Durch die Harmonisierung der Verfahrensregeln zwischen Gerichtshof und der Kommission besteht seit 2010 zumindest die Möglichkeit der Vorlage von Fällen durch die Kommission an den Gerichtshof. Und bei der Kommission können Individualbeschwerden gegen einen Staat eingereicht werden.
Neben Individualrechten zählt auch die Gemeinschaft
Die Banjul-Charta ist das rechtliche Basisdokument für afrikanische Menschenrechtsinstitutionen. Die Charta ist stark von den afrikanischen Werten geprägt. So enthält sie nicht nur Rechte des Einzelnen, sondern auch einen umfassenden Pflichtenkatalog. Dieser besagt, dass das Individuum auch Pflichten gegenüber der Familie, der Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft hat (Art. 27). Es wird verpflichtet, seine Mitmenschen «ohne Diskriminierung zu respektieren» und im zwischenmenschlichen Miteinander «Toleranz zu fördern, zu schützen und zu stärken» (Art. 28). In Art. 29 wird festgehalten, dass der Einzelne für eine harmonische Familie zu sorgen, seine Eltern zu respektieren, seine intellektuellen und physischen Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, Steuern zum Wohl der Gemeinschaft zu zahlen, afrikanische kulturelle Werte aufrechtzuerhalten und die nationale Unabhängigkeit und territoriale Integrität seines Landes zu unterstützen hat.
Gemäss Expertin Iris Breutz unterscheidet sich die Banjul-Charta durch diesen Pflichtenkatalog stark von der europäischen Idee der Menschenrechte. In einem Aufsatz schreibt sie: «Diese sieht den Einzelnen in erster Linie als Rechteinhaber und den Staat als Pflichtenträger. Mithin haben die Menschenrechte in Europa vornehmlich den Charakter von Abwehrrechten gegenüber dem Staat. In der afrikanischen Tradition geht man eher von einer Wechselwirkung zwischen Rechten und Pflichten aus, die den Einzelnen neben dem Staat auch zum Pflichtenträger erklärt.»
Laut Löffelmann wurde der Gerichtshof im Vorfeld mit grossen Vorschusslorbeeren bedacht. Nach einigen Jahren betrachteten viele seine Entwicklung zunehmend mit Enttäuschung: «Zu schleppend verlief der organisatorische Aufbau des Gerichts. Zu gross war die Zurückhaltung der Mitgliedstaaten – vor allem bei der Zulassung des wichtigen Individualbeschwerdeverfahrens, das die Unterzeichnung einer Zusatzerklärung voraussetzt. Und zu zögerlich wurde der Gerichtshof überhaupt von der Zivilgesellschaft in Anspruch genommen.»
Das bestätigt auch das European Center for Constitutional and Human Rights: «Der EGMR und der interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte sind viel prominenter, auch wegen wichtiger, über den Einzelfall hinaus bedeutender Entscheidungen zum Menschenrechtsschutz.»
“Grenze der Belastbarkeit ist erreicht”
Gemäss Löffelmann hat sich der Gerichtshof im letzten Jahr günstig entwickelt: «Ich gehe davon aus, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Ein Problem bleiben die begrenzten Ressourcen. Fallzahlen wie der EGMR könnte der Gerichtshof zurzeit auch nicht nur ansatzweise bewältigen.» In der letzten Sitzung im September verhandelte der Gerichtshof 70 Beschwerden und 4 Rechtsgutachten. «Damit dürfte die Grenze der Belastbarkeit erreicht sein», so Löffelmann.
Massgeblich werde für die weitere Entwicklung sein, ob weitere Staaten dem Individualbeschwerdeverfahren beitreten werden. Der Prozess des Beitritts verlaufe aber nur schleppend. Hier müsste von Seiten Europas mehr Werbung betrieben werden, fordert Löffelmann. «Die Flüchtlingskrise wäre eigentlich ein passender Anlass dafür.»
Widerstand gegen den Internationalen Strafgerichtshof
Die Afrikanische Union will die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Menschenrechte ausbauen.
Am 30. Mai 2016 wurde in der senegalesischen Hauptstadt Dakar der frühere Diktator des Tschads, Hissène Habré, wegen Vergewaltigung, sexueller Sklaverei und angeordneten illegalen Tötungen während seiner Regierungszeit von 1982 bis 1990 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Über den «Pinochet Afrikas» zu Gericht sass ein von der Afrikanischen Union (AU) und dem Senegal eingesetztes Sondertribunal. Gemäss Beobachtern verlief der Prozess vorbildlich. Zuvor forderte die Uno jahrelang die Auslieferung Habrés.
Dass sich die AU zu diesem Vorgehen aufraffte, ist kein Zufall: Erstmals wurde ein afrikanischer Despot vor ein afrikanisches Gericht gestellt. Sonst war es nämlich aus afrikanischer Sicht bisher stets der internationale Strafgerichtshof in Den Haag, dersich solcher Fälle annahm.
Doch der Haager Gerichtshof wird in Afrika zunehmend als ein vom Westen geprägtes Organ angesehen, das nicht objektiv handle. Oder in den Worten von Gambias Informationsminister Sheriff Bojang: «Faktisch ist es ein internationales Tribunal von Weissen gegen Afrikaner.» Tatsächlich: Alle 23 bis jetzt vor dem Haager Gericht verhandelten Fälle stammen aus Afrika.
Immer mehr afrikanische Länder künden nun die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof auf. Allein im Oktober traten Südafrika, Burundi und Gambia aus.
Parallel dazu gibt es Bestrebungen, die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Menschenrechte (siehe Haupttext) auf das Völkerrecht im Allgemeinen zu erweitern.
So wurde auf dem AU-Gipfel im Juni 2014 ein Protokoll zur Errichtung eines African Court of Justice and Human Rights offiziell verabschiedet. Der neue Gerichtshof soll aus drei Kammern bestehen: einer für internationale Straftaten, einer Menschenrechtskammer und einer Kammer für Integrationsfragen in der Afrikanischen Union. Pikant: Vorgesehen ist eine Klausel zur Immunität amtierender Staatsoberhäupter und «senior officials», die auch für schwere Straftaten wie Völkermord oder Kriegsverbrechen gilt.
Damit hätten die afrikanischen Machthaber das erreicht, was US-Präsidenten schon lange für sich in Anspruch nehmen: Kein internationaler Strafgerichtshof kann sie zur Rechenschaft ziehen. Die USA anerkennen den Haager Gerichtshof nicht. 2002 wurde der «American Service-Members Protection Act» rechtskräftig, der den US-Präsidenten ermächtigt, eine militärische Befreiung seiner Staatsbürger vorzunehmen, die sich in Den Haag verantworten müssten. Zudem kann allen Staaten, die nicht Mitglied der Nato sind und das Statut ratifizieren, die US-Militärhilfe gestrichen werden.