Stephen Hanlon ist ein engagierter und renommierter Anwalt. Er ist Chef der Rechtsabteilung bei der «National Association of Public Defenders» (NAPD). Das ist die Vereinigung der vom Staat angestellten Pflichtverteidiger der USA. Hanlon repräsentiert in dieser Funktion rund 16 000 Anwälte im ganzen Land. Ihre Arbeit ist auf allen Ebenen – Bund, Einzelstaaten, Landkreisen und Gemeinden – von einer Dauerkrise geprägt. Hanlon: «Wenn Sie in eine Internetsuchmaschine die Wörter ‹öffentliche Pflichtverteidiger› und ‹Krise› eingeben, erhalten Sie Zigtausende Ergebnisse.»
Die Misere dauere seit Jahrzehnten an und sei eigentlich, so Hanlon, «keine Krise mehr, sondern ein nationaler und internationaler Skandal». Eine «Schande» sei es: Mandanten, die ihre Pflichtverteidiger trotz der Gefahr jahrzehntelanger Haftstrafen nur wenige Stunden sprechen können, hoffnungslos überarbeitete Anwälte, die Jahr für Jahr Hunderte von Angeklagten vertreten.
In den USA praktizieren laut der Anwaltskammer «American Bar Association» (ABA) insgesamt 1,3 Millionen Anwälte. Es gibt zwei Arten von Verteidigern: Die sogenannten «Public Defenders» stehen in einem Arbeitsverhältnis zum Staat. Die Löhne sind tiefer als bei Anwälten in der Privatwirtschaft. Die angestellten Verteidiger müssen die Verteidigungen annehmen. «Panel Attorneys» hingegen sind selbständigerwerbend. Das Gericht beauftragt sie in einzelnen Straffällen zur Verteidigung, etwa wenn kein staatlicher Verteidiger verfügbar ist oder ein Interessenskonflikt vorliegt.
Diese Anwälte erhalten einen im Vergleich zu andern rechtsanwaltlichen Tätigkeiten tiefen Tagesansatz.
400 Mandanten in sieben Monaten
Die öffentlichen Pflichtverteidiger sind mit der Fülle der Verfahren überfordert. Neu daran ist nichts: Schon 1993 wandte sich in New Orleans im Staat Louisiana der öffentliche Pflichtverteidiger Rick Teissier mit einer Beschwerde an ein Staatsgericht und verlangte, von dem ihm übertragenen Mordfall State versus Peart entbunden zu werden. In sieben Monaten hatte Teissier über 400 Mandanten vertreten, zum Zeitpunkt von State versus Peart bearbeitete der Pflichtverteidiger 70 Fälle teils schwerster Verbrechen. Das Gericht gab der Beschwerde statt und verlangte vom Staat Louisiana eine grosszügigere Ausstattung der öffentlichen Pflichtverteidigerbüros.
Seither hat sich wenig geändert. Noch immer müssen staatliche Pflichtverteidiger in Louisiana und anderen US-Staaten pro Jahr Hunderte von Beschuldigten vertreten. Nicht selten versäumen sie wegen Überarbeitung wichtige Gerichtstermine und können kaum Zeit mit einem Mandanten verbringen, dem ein schweres Vergehen zur Last gelegt wird.
US-Pflichtverteidiger hätten «haarsträubende und unvertretbare Arbeitsbelastungen», moniert denn auch die Anwaltskammer ABA. Stephen Hanlon formuliert es noch drastischer: Anwälte, Richter und Staatsanwälte verstiessen beim Umgang mit bedürftigen Angeklagten fortlaufend «gegen ihre eigenen Regeln». «Alle beschwichtigen, man solle sich keine Sorgen deswegen machen, weil es ja nur um arme Leute geht, die mehrheitlich von brauner und schwarzer Hautfarbe sind», so Hanlon weiter. Vier Fünftel der Angeklagten können sich keinen privaten Anwalt leisten.
Die Mängel in der Verteidigung tragen zu Fehlurteilen bei. Manchmal verbringen Unschuldige Jahre oder Jahrzehnte hinter Gittern. Der Schriftsteller und Anwalt John Grisham arbeitet beim «Innocence Project» mit, das unschuldig Verurteilten in US-Gefängnissen hilft. Laut ihm sind zwischen 2 und 10 Prozent der Inhaftierten unschuldig. Bei einer Gesamtzahl von rund 2,3 Millionen Insassen sind dies «zwischen 46 000 und 230 000 Menschen». Laut Grisham wurden viele von ihnen verurteilt, weil sie von Pflichtverteidigern «mit wenig oder keiner Erfahrung» vertreten wurden.
Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden
Die Anwältin Jee Park leitet das Büro des «Innocence Project» in Louisiana und arbeitete zuvor als Public Defender in New Orleans. Louisiana sei ein armer Staat. Finanziert werden die staatlichen Pflichtverteidiger laut Park durch eine «unglaublich unverlässliche Quelle», nämlich durch Verkehrsdelikte. Geld fehle an allen Ecken und Enden. Die Anwältin lobt die Herkulesarbeit der staatlichen Verteidiger in New Orleans, sagt aber, dass Beschuldigte manchmal unter überarbeiteten Anwälten «leiden».
Gemäss der Anwaltskammer ABA reicht die Kapazität der staatlichen Pflichtverteidiger in Louisiana lediglich für ein Fünftel der aktuellen Arbeitsbelastung. Es sind Fälle bekannt, bei denen Public Defender weniger als zehn Minuten mit einem Angeklagten verbringen.
Autodiebe oder wegen Körperverletzung Angeklagte werden noch schlechter betreut. Solche Beschuldigte litten «besonders unter dem Mangel an Ressourcen», sagt Stephen Hanlon. In 94 Prozent der Delikte vor Staatsgerichten schliessen Staatsanwaltschaft und Pflichtverteidiger vor Prozessbeginn einen «Plea Deal» ab, bei dem sich der Angeklagte zu einem geringeren Straftatbestand schuldig bekennt. Dadurch wird ein Prozess vermieden – ob der Deal sachgerecht ist, bleibt offen.
Auch im Teilstaat Missouri im Mittleren Westen sind Pflichtverteidiger überfordert. Michael Barrett, der Direktor von Missouris Pflichtverteidigungsbehörde, sagt, oft sitze ein Tatverdächtiger «wochenlang im Gefängnis, ehe er sich mit einem Anwalt besprechen kann». In vielen Bundesstaaten fehlt es an Personal und Geld, in anderen Staaten sowie Städten, etwa in Washington oder San Francisco, verfügen Public Defender hingegen über ausreichende Mittel und Stellen.
Das gesamte System, auf Bundes- wie auf Staatsebene, «hat sich darauf eingelassen, viel mehr zu bearbeiten, als es eigentlich kann», konstatiert Stephen Hanlon. So war es eigentlich nicht gedacht: Der 6. Zusatz der US-Verfassung garantiert jedem Angeklagten das Recht auf ein «baldiges und öffentliches Verfahren» sowie auf den Beistand eines Anwalts. Verwirklicht wurde dieses Recht allerdings erst 1963 durch eine höchstrichterliche Entscheidung im Fall Gideon versus Wainwright.
Clarence Earl Gideon war in Florida wegen Einbruchs angeklagt und verurteilt worden, nachdem sein Antrag auf einen Rechtsanwalt zuvor abgelehnt worden war. Gideon ging vor das oberste Bundesgericht und behauptete, seine Inhaftierung sei verfassungswidrig, da ihm die Hilfe eines Anwalts verweigert worden sei. Das Verfassungsgericht gab ihm recht: «Eine Person, die zu arm ist, um einen Anwalt zu bezahlen, kann keinen fairen Prozess erhalten, wenn ein Rechtsbeistand verwehrt wird», lautete das Urteil. Mit dem Fall Gideon versus Wainwright erteilte das Oberste Gericht einen klaren Auftrag, allen armen Beschuldigten auf Kosten des Staats Verteidiger zur Seite zu stellen.
Wer als Public Defender arbeiten möchte, muss Enthusiasmus, Idealismus sowie eine hohe Belastbarkeit mitbringen. Junge Anwälte in grossen US-Kanzleien verdienen im ersten Berufsjahr im Durchschnitt 135 000 Dollar, im fünften Jahr bereits 172 000 Dollar. Ein Public Defender dagegen erhält beim Berufsantritt im Durchschnitt nur 47 500 Dollar und nach fünf Jahren rund 64 000 Dollar.
Selbst wer Menschen vertritt, die wegen Kapitalverbrechen angeklagt sind und zum Tode verurteilt werden könnten, muss sich innerhalb enger finanzieller Grenzen bewegen. So klagt die in Alabamas Staatshauptstadt Montgomery ansässige Bürgerrechtsorganisation «Equal Justice Initiative», dass die Pflichtverteidiger von «nahezu der Hälfte» der zum Tode Verurteilten in Alabama nicht mehr als 1000 Dollar für Verteidigungaufwand ausserhalb des Gerichts ausgeben durften. Das Resultat seien Fehlurteile – sowie oft ein beschämender Mangel an Gerechtigkeit für arme Beschuldigte, kritisiert die Bürgerrechtsorganisation.
“Pflichtverteidiger setzen ihre Lizenz aufs Spiel”
Jeder spiele dieses Spiel mit, sagt Stephen Hanlon: Die Public Defenders, die Panel Attorneys, die Staatsanwälte und die Richter. «Die Pflichtverteidiger setzen eigentlich ihre Anwaltslizenz aufs Spiel», meint Hanlon. Eine Lösung des ethischen Dilemmas erforderte, mehr Pflichtverteidiger einzustellen und ihre Gehälter zu erhöhen. Hanlon glaubt nicht, dass dies geschehen wird. Es sei «zu teuer». Eher könne das Problem im Gefolge «explodierender Kosten für die Gefängnisse» gelöst werden. «Ob Armut oder Obdachlosigkeit, ob Geisteskrankheit oder Drogenabhängigkeit: Wir haben alles kriminalisiert, zwischen 35 und 40 Prozent der Insassen von Strafanstalten gehören zu einer dieser Kategorien», sagt Hanlon. Werde diesen Menschen nicht mehr der Prozess gemacht, verringerte sich die Arbeitsbelastung der Pflichtverteidiger und entsprechend länger könnten sie sich anderen Mandanten zuwenden.
«Auch der intelligente und gebildete Laie hat nur wenig oder gar kein Geschick in der Wissenschaft des Rechts. Wird er eines Verbrechens beschuldigt, ist es ihm im Allgemeinen nicht möglich, zu beurteilen, ob die Anklage gut oder schlecht ist. Er kennt die Regeln der Beweisführung nicht. Mangels Hilfe eines Rechtsbeistands macht man ihm den Prozess ohne eine korrekte Anklage und verurteilt ihn aufgrund unzulänglicher Beweise oder nicht relevanter oder anderweitig nicht zulässiger Beweise.» Dies waren die Worte des obersten Bundesrichters Hugo Black im Fall Gideon versus Wainwright. Für viele Verfahren gegen ärmere Amerikaner gelten sie noch immer.