Der kanadische Supreme Court ist in der Schweiz wenig bekannt. Das ist erstaunlich. Denn er hat sich über die Zeit hinweg zu einer der weltweit anerkanntesten Institutionen der Rechtsprechung entwickelt. Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo Richter bisweilen wie Popstars gefeiert oder aber in einem politisch aufgeheizten Klima angefeindet werden, sind in Kanada Richterpersönlichkeiten tätig, die höchste Anerkennung in der Rechtswelt geniessen.
So hat etwa Frank Iacobucci nach seinem Ausscheiden aus dem Supreme Court eine wichtige Rolle bei der vergleichsweisen Beilegung von Streitigkeiten mit grosser gesellschaftlicher Tragweite wie etwa im Zusammenhang mit dem traurigen Erbe der sogenannten Residential Schools spielen können. In diesen Schulen wurden Kinder von Ureinwohnern über Jahrzehnte hinweg misshandelt, nachdem sie ihren Eltern entzogen worden waren.
Über Richterin Rosalie Abella, welche die kanadische Justiz über Jahrzehnte prägte, erschien kürzlich gar ein Kinofilm («Without Precedent: The Supreme Life of Rosalie Abella»), obwohl sie während ihrer Amtszeit weitgehend auf Interviews verzichtet hatte.
Das höchste Gericht Kanadas entstand 1875 und teilt damit mit dem Schweizer Bundesgericht das bevorstehende 150-Jahr-Jubiläum. Bei der Gründung deutete wenig darauf hin, dass aus dem Berufungsgericht des damaligen britischen Herrschaftsgebiets dereinst ein echter Supreme Court mit weltweiter Ausstrahlung werden könnte.
Parlament und Gerichte nach britischem Vorbild
Drei Kolonien hatten sich acht Jahre zuvor zu einer Konföderation zusammengeschlossen, die mit dem britischen North America Act 1867 − Frankreich hatte seinen Einfluss in Nordamerika längst verloren − ein Parlament nach dem Vorbild Westminsters erhielt. Gleichzeitig wurden in diesem britischen Gesetzeserlass die Befugnisse der kanadischen Gerichte geregelt und dem neuen Parlament in Ottawa die Möglichkeit eingeräumt, ein allgemeines Berufungsgericht für Kanada zu errichten.
Davon machte das kanadische Parlament Gebrauch, indem es den Supreme Court ins Leben rief. Trotz seiner Bezeichnung entschied dieser noch nicht letztinstanzlich. Entscheidungen konnten nach wie vor an das Judicial Committee des britischen Privy Council in London weitergezogen werden.
Bereits der North America Act von 1867 hielt fest, dass Richter ihr Amt «bei gutem Verhalten» ausüben und auf Anraten des kanadischen Parlaments durch den Generalgouverneur abgesetzt werden können. Formell hat diese Regelung bis heute überlebt, de facto entscheidet aber das Parlament.
Neben mittlerweile gut 1000 vom Bund eingesetzten kanadischen Richtern der Provinzen und Territorien sowie des Bundes können selbst Höchstrichter nach einem Verfahren vor dem Canadian Judicial Council abgesetzt werden, wenn aus bestimmten Gründen die Fortsetzung der Amtsführung das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit, Integrität oder Unabhängigkeit des Richters oder seines Amts gefährden würde.
Richter dürfen bis 75 im Amt bleiben
Verfahren zur Absetzung eines vom Bund eingesetzten Richters sind jedoch selten. Seit der Gründung der Konföderation lassen sich formelle Empfehlungen auf Absetzung an einer Hand abzählen. Gegen ein Mitglied des Supreme Court wurde noch nie eine ausgesprochen. Der Möglichkeit eines Untersuchungsverfahrens ist jedoch eine gewisse disziplinierende Wirkung nicht abzusprechen. Vereinzelt traten die betroffenen Richter vor Abschluss des Verfahrens von ihrem Amt zurück. Kanadische Richter werden auf unbestimmte Zeit eingesetzt und können ihr Amt bis zur gesetzlichen Altersgrenze von 75 Jahren ausüben.
Das kanadische Parlament strebte nach seiner Entstehung nach mehr Unabhängigkeit. Unter anderem wollte es die Gerichtsbarkeit seinen eigenen Richtern vorbehalten. So erliess es 1888 ein Gesetz, das einen Weiterzug von Urteilen an das Judicial Committee des Privy Council in London verbot. Der Griff nach mehr Eigenständigkeit hatte zunächst keinen Erfolg. Das betreffende kanadische Gesetz wurde von den britischen Richtern für ungültig erklärt. Dies verstärkte den Unmut in Kanada und nährte umso mehr den Drang nach umfassender Souveränität.
Mit dem Statute of Westminster 1931 verlieh das britische Parlament seinen Überseegebieten weitgehende rechtliche Unabhängigkeit. Grossbritannien behielt jedoch weiterhin die Möglichkeit, die kanadische Verfassung abzuändern. Mit der wachsenden Unabhängigkeit Kanadas von Grossbritannien gewann auch der kanadische Supreme Court stetig an Bedeutung.
Ab 1933 konnten Strafurteile nicht mehr durch den britischen Privy Council überprüft werden. Nach 1949 war ein Weiterzug nach London auch in Zivilverfahren ausgeschlossen. Damit einhergehend wurde die Zahl der Richter am kanadischen Supreme Court auf neun erhöht.
Kanada erhielt erst 1982 die Verfassungsgewalt
Endgültige Souveränität erlangte Kanada erst 1982 durch das britische Parlament. Mit diesem unumkehrbaren Übergang der Verfassungsgewalt von Westminster nach Ottawa erhielt Kanada auch eine Charter of Rights and Freedoms mit schriftlich festgehaltenen Grundrechten. Die neue Verfassung wurde am 17. April 1982 auf dem Parlamentshügel in Ottawa von Elizabeth II. ausgerufen, nunmehr als Königin von Kanada.
Seither gehört die Wahrung der verfassungsmässigen Rechte zu den vornehmsten Aufgaben des Supreme Court. Gesetzesbestimmungen, die mit der Verfassung unvereinbar sind, haben keine Wirkung und werden vom Supreme Court in letzter Instanz als ungültig erklärt.
Die Aussicht auf diese Macht der Gerichte hatte vor Einführung der Charter of Rights and Freedoms zu einem gewissen Unbehagen in der Politik geführt. Kanada war nicht bereit für eine radikale Abkehr vom britischen System des strengen Vorrangs von Erlassen des Parlaments. Entsprechend wurde gleichzeitig mit der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Notklausel in den Grundrechtskatalog aufgenommen.
Diese erlaubt es den Parlamenten des Bundes wie auch der Provinzen, während einer Zeitdauer von fünf Jahren per Gesetzeserlass von gewissen Teilen der Charta abzuweichen, nicht aber von den demokratischen Grundrechten. Wird das Gesetz vor Ablauf der fünfjährigen Frist nicht erneuert, fällt es ohne weiteres dahin. Während die Parlamente der Provinzen verschiedentlich davon Gebrauch machten, wurde die Klausel auf Bundesebene noch nie angerufen.
Eingeschränkter Zugang zum höchsten Gericht
Der bedeutenden Rolle innerhalb des Staatsgefüges entsprechend, ist der Zugang zum höchsten Gericht stark beschränkt. Mit Ausnahme von Vorlagefragen der Regierung zu Verfassungsauslegungen und strafrechtlichen Verurteilungen, in denen das angefochtene Urteil nicht einstimmig erging, entscheidet der Supreme Court in einem Zulassungsverfahren selbst darüber, welche Fälle er als grundlegend ansieht und in der Folge beurteilt.
So ergehen pro Jahr nur etwa 50 Urteile in der Sache. Dabei handelt es sich um Fälle von grundsätzlicher Bedeutung, mit denen der Supreme Court seine Aufgabe als Hüter der Verfassung und Garant der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Rechts innerhalb der gesamten kanadischen Justiz wahrnimmt, zu der neben den Gerichten der Provinzen und Territorien auch diejenigen auf Bundesebene (Tax Court, Federal Court und Federal Court of Appeal sowie Militärgerichte) gehören. Ist die Zulassungsvoraussetzung im Sinne der «public importance» erfüllt, können vor dem Supreme Court sowohl Verfassungsverletzungen als auch die unrichtige Anwendung von Gesetzesbestimmungen des Bundes und der Provinzen gerügt werden.
Höchster Richter vertritt das königliche Oberhaupt
Von der besonderen Bedeutung des kanadischen Supreme Court im Staat zeugt auch die verfassungsrechtliche Besonderheit, dass dessen Vorsitzender, der Chief Justice, in gewissen Fällen interimistisch die − überwiegend repräsentativen − Aufgaben des Generalgouverneurs auszuüben hat und damit letztlich das königliche Staatsoberhaupt vertritt.
Dies war letztmals 2021 der Fall, als der derzeitige Chief Justice Richard Wagner nach dem abrupten Rücktritt der damaligen Generalgouverneurin während einiger Monate zusätzlich deren Rolle übernahm.
Damit der Supreme Court seine wichtige Aufgabe innerhalb des Staatsgefüges erfüllen kann, ist er längerfristig auf das Vertrauen der kanadischen Bevölkerung angewiesen. In einem föderalen System, in dem sowohl Französisch als auch Englisch als Amtssprachen anerkannt sind und einem Rechtssystem, das neben der Rechtstradition des Common Law auch jene des Civil Law kennt, ist am höchsten Gericht besondere Sensibilität gefragt.
In regionaler Hinsicht ist daher gesetzlich vorgeschrieben, dass drei der neun höchsten Richter aus der Provinz Québec stammen, die vom Civil Law geprägt ist. Traditionsgemäss wurden jeweils drei weitere Richter aus der Provinz Ontario eingesetzt, zwei aus den westlichen Provinzen oder aus Nordkanada und ein Gerichtsmitglied aus den atlantischen Provinzen. Jedes höchstinstanzliche Urteil ergeht gleichzeitig in Englisch und Französisch, wobei keiner Fassung ein Vorrang zukommt.
Während in der Schweiz die erste Bundesgerichtspräsidentin erst 2021 gewählt wurde und der US Supreme Court noch immer auf seine erste Vorsitzende wartet, wurde mit Beverley McLachlin bereits 2000 die erste Frau als Chief Justice von Kanada eingesetzt. Sie übte ihr Amt während 17 Jahren aus – und damit länger als alle Vorgänger. Nach der im letzten Jahr erfolgten Besetzung einer Vakanz stellen Richterinnen erstmals in der Geschichte die Mehrheit am kanadischen Supreme Court.
Oberste Richterin mit indigenen Wurzeln
In jüngster Zeit wurde der Vielfältigkeit der kanadischen Bevölkerung verstärkt auch auf höchster Justizebene Rechnung getragen. Mit der Ernennung von Mahmud Jamal im Jahr 2021, der während seiner Schulzeit mit seinen indischstämmigen Eltern nach Alberta eingewandert war, wurde erstmals ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit Richter am Supreme Court. Ein Jahr später wurde mit Michelle O’Bonsawin die erste indigene Höchstrichterin eingesetzt. Angesichts der problematischen Geschichte Kanadas im Umgang mit seinen Ureinwohnern ist diese Wahl für das Land bedeutsam.
Die Sensibilisierung in Bezug auf Diversität zeugt vom Bewusstsein des Wahlorgans, dass das Vertrauen der vielfältigen und durch Einwanderung geprägten Gesellschaft Kanadas in die Behörden in der Zukunft davon abhängen wird, dass sie sich in den staatlichen Organen vertreten sieht.
Der Wahl der handverlesenen, oft lange im Amt verbleibenden höchsten Richter kommt demnach eine nicht zu unterschätzende symbolische Bedeutung zu.
Keine politische Richterwahl wie in den USA
Der Wahlprozess und die Justiz insgesamt sind in Kanada weniger polarisiert und politisiert als im südlichen Nachbarland. Im Vordergrund steht der Werdegang, das fachliche Rüstzeug und die Erfahrung der kandidierenden Person und nicht Positionen zu brisanten rechtspolitischen Fragen.
Anstelle politischer Parteien üben Berufsverbände Einfluss aus, indem ihre Vertreter – Anwälte, Staatsanwälte, ehemalige Richter oder Angehörige von Universitäten – im Beratungsgremium Einsitz nehmen. Dieses unterbreitet dem Premierminister eine Auswahl geeigneter Kandidaten in Form eines Dreiervorschlags.
Das Verfahren verläuft standardisiert und zunehmend transparent, aber ohne kontrovers geführte öffentliche Anhörungen im Parlament. Zusammen mit dem britisch geprägten Berufsverständnis, in dem sich Richter nicht als potenzielle politische Kraft, sondern als Angehörige einer besonderen − vom Anspruch der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit geprägten − Berufsgruppe mit eigenem Berufsethos verstehen, gelang es dem kanadischen Supreme Court bisher, als unabhängige Gewalt ohne politischen Anstrich wahrgenommen zu werden. Dies ist mit ein Grund für die hohe Akzeptanz höchstrichterlicher Entscheidungen in der kanadischen Bevölkerung.
Gericht bemüht sich um grösstmögliche Öffnung
In der Kommunikation des kanadischen Supreme Court der letzten Jahre fällt auf, dass sich das Gericht bewusst als Institution im Dienste der Bevölkerung versteht. Dieses Selbstverständnis geht einher mit einer Öffnung gegenüber den Rechtssuchenden wie auch der breiten Öffentlichkeit.
Die offene Kommunikation trägt die Handschrift des derzeitigen Chief Justice Richard Wagner, der etwa veranlasst hat, dass sich das Gericht von Zeit zu Zeit aus seinem ehrwürdigen, aber in gewisser Weise auch etwas abweisenden Gebäude oberhalb des Ottawa-Flusses hin zu den Rechtssuchenden begibt. So wurden in den letzten Jahren Gerichtsverhandlungen in Québec City oder in Winnipeg (Provinz Manitoba) durchgeführt.
Die nahbare Kommunikation äussert sich zudem in jährlich stattfindenden Medienkonferenzen und Fernsehinterviews des Chief Justice wie auch in den in verständlicher Sprache gehaltenen Kurzzusammenfassungen der neu ergangenen Urteile.
Damit signalisiert der Supreme Court, dass seine Akzeptanz in der Bevölkerung stets neu erarbeitet und gefestigt werden muss. Zudem zeugt die zunehmende Offenheit von einem Bewusstsein, dass er ungeachtet seiner bedeutenden Rolle im Staat selbst einem Wandel ausgesetzt ist und die Stabilität im Staatsgefüge eine Bereitschaft zu stetigem Fortschritt voraussetzt.
Angesichts der Veränderungen während seiner bald 150-jährigen Geschichte hat der kanadische Supreme Court verschiedentlich unter Beweis gestellt, dass er sich den geänderten Gegebenheiten anpassen und seine vielfältigen Aufgaben als Höchstgericht im Dienst der Bevölkerung erfüllen kann. Der Supreme Court scheint den historisch erlebten Wandel gewissermassen verinnerlicht zu haben. Dies sind gute Voraussetzungen für die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte.