Offene Fragen um das St. Galler Verhüllungsverbot
Inhalt
Plädoyer 06/2018
03.12.2018
Thomas Geiser, Ursula Uttinger
Grundsätzlich hat das Volk immer recht. Weiss der Gesetzgeber aber immer, was er schreibt? Die Stimmbevölkerung des Kantons St. Gallen hat am 23. September mit Zweidrittelmehrheit ein Verhüllungsverbot eingeführt. Der Gesetzgeber formulierte es so: «Wer sich im öffentlichen Raum sowie an Orten, die öffentlich zugänglich sind, durch Verhüllung des Gesichts unkenntlich macht und dadurch die öffentliche Sicherheit oder den religiösen o...
Grundsätzlich hat das Volk immer recht. Weiss der Gesetzgeber aber immer, was er schreibt? Die Stimmbevölkerung des Kantons St. Gallen hat am 23. September mit Zweidrittelmehrheit ein Verhüllungsverbot eingeführt. Der Gesetzgeber formulierte es so: «Wer sich im öffentlichen Raum sowie an Orten, die öffentlich zugänglich sind, durch Verhüllung des Gesichts unkenntlich macht und dadurch die öffentliche Sicherheit oder den religiösen oder gesellschaftlichen Frieden bedroht oder gefährdet, wird mit Busse bestraft.»
•
Was bedeutet dies im Alltag? In erster Linie eine Herausforderung für die Polizei. Sieht ein Polizist jemanden in einer Burka durch St. Gallen spazieren, muss er darauf achten, was unter der Burka hervorscheint: Sind es Männerbeine, ist eine Personenkontrolle angezeigt. Handelt es sich um einen gesuchten Verbrecher, stellt er eine öffentliche Gefahr dar und darf vermutlich wegen Burkatragens gebüsst werden. Womöglich stört der Mann auch den Religionsfrieden im Islam.
•
Schauen Frauenbeine hervor, darf der Polizist nichts tun. Wie sollte eine Frau mit Burka die öffentliche Sicherheit gefährden oder den Religionsfrieden stören? Auch eine Personenkontrolle ist nicht angezeigt, weil es sich um Racial Profiling handeln würde. Anders verhält es sich, wenn die Frau mit Burka ein Auto oder ein Velo fährt. Ihr Gesichtsfeld ist eingeschränkt, das verletzt die Verkehrsregeln. Allerdings sind das Tatbestände des Strassenverkehrsgesetzes, nicht des Verhüllungsverbots.
•
Sieht man unter der Burka gar nichts, handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um ein Gespenst. Es könnte die öffentliche Sicherheit durchaus gefährden. Etwa, indem es Verkehrsteilnehmer ablenkt, was zu Unfällen führen kann. Das Gespenst selber verletzt aber das Strassenverkehrsgesetz nicht. Zwar muss eine Velofahrerin mindestens eine Hand am Lenker haben. Das gilt selbstredend auch für Burkaträgerinnen. Es ist aber nirgends vorgeschrieben, dass ein Fussgänger Füsse auf dem Boden haben muss. Zu prüfen wäre, ob Bestimmungen der Luftfahrt verletzt sind. Jedenfalls sollte der Polizist das Gespenst nicht auffordern, die Verhüllung abzuwerfen. Er könnte es gar nicht mehr büssen, weil nach Abwurf der Hülle nichts mehr vorhanden ist. Wobei das Nichts im Sinne des Nihilismus ja gerade aufzeigt, dass es so, wie es ist, ohne Sinn und Zweck ist.
•
Die Zukunft wird zeigen, ob das neue Gesetz aus praktischen Gründen nicht umsetzbar – oder einfach nur sinnlos ist.