Seit dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung im Januar 2011 kann die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl erlassen, wenn sie eine Busse, eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen, eine gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden oder eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten für ausreichend hält. Allfällig zu widerrufende bedingte Strafen oder Entlassungen sind dabei zu berücksichtigen.
Strafbefehle sind bei den Staatsanwaltschaften sehr beliebt. Im Kanton Bern etwa wurden letztes Jahr 77 742 Strafbefehle erlassen – davon 75 719 ohne eine vorangehende Untersuchung. Zum Vergleich: Im selben Jahr stellten die Staatsanwaltschaften in Bern 1996 Verfahren ein, in 517 Fällen erhoben sie bei einem Gericht Anklage. Insgesamt endeten im Kanton Bern letztes Jahr fast 97 Prozent der Straffälle mit einem Strafbefehl. Der emeritierte Freiburger Professor Franz Riklin kritisierte schon vor einem knappen Jahr in der NZZ: «Es gibt kaum ein zivilisiertes Land mit einem so krassen Missverhältnis zwischen Normal- und derartigen inquisitorischen Schnellverurteilungsverfahren.»
Ähnlich ist die Situation in den Kantonen Aargau, Baselland und St. Gallen: Letzterer erledigte gut 92 Prozent der Strafverfahren mit einem Strafbefehl – nämlich 28 357 Fälle – bei 1971 Einstellungen und 416 Anklagen. Im Kanton Aargau endeten 90 Prozent der Fälle mit einem Strafbefehl (31 847 Strafbefehle, 2785 Einstellungen, 609 Anklagen), im Baselbiet 89 Prozent (24 503 Strafbefehle, 1770 Einstellungen und 1312 Anklagen).
Im Zweifel für den Strafbefehl
Im Kanton Zürich ist die Zahl der durch die Staatsanwaltschaften erlassenen Strafbefehle deutlich geringer: Im vergangenen Jahr wurden nur 15 685 Strafbefehle erlassen, rund 10 200 Fälle wurden eingestellt oder sistiert, in knapp 1500 Fällen kam es zu einer Anklage. Damit wurden im Kanton Zürich im vergangenen Jahr bloss 57,3 Prozent der Strafverfahren mit einem Strafbefehl erledigt, in 37,3 Prozent der Fälle wurden die Verfahren eingestellt oder sistiert und in 5,4 Prozent der Fälle erfolgte eine Anklage. Die im Vergleich zu den andern untersuchten Kantonen relativ niedrigere Zahl von Strafbefehlen ist dadurch zu erklären, dass die Staatsanwaltschaften des Kantons Zürich keine Übertretungen bearbeiten. Diese werden von den Statthalterämtern und Stadtrichterämtern erledigt.
Dass die Staatsanwälte in den Kantonen viele Strafbefehle ausstellen, ist eine Folge des neuen Strafprozessrechts: Es sieht vor, einen Strafbefehl selbst dann zu erlassen, wenn nur die geringfügige Möglichkeit eines strafbaren Verhaltens besteht. Das hat zur Folge, dass die Staatsanwaltschaft einem Beschuldigten auch dann einen Strafbefehl schickt, wenn grosse Zweifel an der Schuld bestehen. Denn nach Lehre und Rechtsprechung ist die Einstellung des Strafverfahrens nur dann möglich, wenn die strengen Voraussetzungen von Artikel 319 StPO erfüllt sind. Wenn aber Zweifel an einem strafbaren Verhalten bestehen, ist Anklage zu erheben oder ein Strafbefehl zu erlassen.
Unternimmt die mit einem Strafbefehl eingedeckte Person nichts, wird dieser zum rechtskräftigen Urteil. Für Marc Thommen, Professor für Strafrecht an der Universität Zürich, ist der Strafbefehl deshalb faktisch eine «Verdachtsstrafe auf Widerruf». Laut Thommen könnte das Problem, dass die Staatsanwaltschaft bei Zweifeln am Sachverhalt einen Strafbefehl erlassen muss, dadurch gelöst werden, dass Anklagen auch bei Strafen unter sechs Monaten zugelassen werden. Hier ist nach bisheriger Auffassung zu Artikel 352 StPO nur ein Strafbefehl möglich.
Verletzung des rechtlichen Gehörs
Strafbefehle weisen einen noch gravierenderen Mangel auf: Sie verletzen den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör. Gestützt auf Artikel 309 StPO kann die Staatsanwaltschaft nämlich unter Verzicht auf eine Eröffnungsverfügung sofort einen Strafbefehl erlassen. Das heisst: Strafbefehle können unmittelbar und ohne staatsanwaltschaftliche Einvernahme erlassen werden. Dem Bestraften wird das rechtliche Gehör bloss gewährt, wenn er in der polizeilichen Einvernahme für den Fall der Überweisung explizit eine Einvernahme durch den Staatsanwalt verlangt oder wenn er Einsprache gegen den Strafbefehl erhebt.
Thommen sagt dazu: «Praktisch führt der Weg zur Einvernahme über die Einsprache. Das heisst: Der Strafbefehlsempfänger muss sich seine Anhörung aktiv erkämpfen. Das ist grundrechtlich bedenklich.» Ein Strafbefehl ohne Einvernahme wäre gemäss Thommen nur mit dem grundsätzlichen Anspruch auf rechtliches Gehör vereinbar, wenn der Beschuldigte explizit auf eine Anhörung verzichtet hätte. Und ein solcher Verzicht kann laut Thommen nur dann gültig sein, wenn der Beschuldigte hinreichend darüber informiert worden ist und er diese Information verstanden hat. Viele Beschuldigte wissen gar nicht, dass sie einen Anspruch darauf haben, angehört zu werden. Und dass sie diesen Anspruch nur durchsetzen können, indem sie Einsprache erheben. Es fehlt daher vielfach an einem gültigen Verzicht.
Seriöse Bestrafung ohne Anhörung unmöglich
«Auch aus sanktionsrechtlicher Sicht ist eine Einvernahme unverzichtbar», betont Thommen. Denn sowohl eine kurze Freiheitsstrafe wie auch die Gewährung des bedingten Vollzugs einer Geldstrafe setze eine Prognose über das künftige Verhalten des Täter voraus. Zudem bestimme sich bei einer Geldstrafe die Anzahl der Tagessätze nach dem Verschulden und die Tagessatzhöhe nach Einkommen und Vermögen, Lebensaufwand, allfälligen Familien- und Unterstützungspflichten sowie nach dem Existenzminimum.
Thommen ist der Ansicht, dass eine Anhörung immer stattzufinden hat, wenn eine unbedingte Freiheitsstrafe zur Diskussion steht. Nur schon deshalb, weil abzuklären ist, ob der Beschuldigte die Strafe in Form von gemeinnütziger Arbeit verbüssen will und kann. «Die Einschätzung der Bewährungsaussichten und die Subsidiaritätsordnung sind auf eine persönliche Beurteilung des zu Bestrafenden ausgelegt, eine seriöse Bestrafung setzt deshalb eine Einvernahme voraus.» Doch wie häufig erheben Betroffene Einsprache gegen einen Strafbefehl? Die Unterschiede sind gross: Im Kanton Baselland wurden bei total 24 503 erlassenen Strafbefehlen nur gegen 218 Einsprachen erhoben – das sind gerade einmal 0,89 Prozent der Fälle. Im Kanton St. Gallen betrug die Einsprachequote 4,81 Prozent, in Bern 6,18 Prozent, im Aargau 7,43 Prozent – also achtmal so viel wie im Baselbiet. Die Einsprachequote im Kanton Zürich für das Jahr 2013 gab die Medienbeauftragte der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich nicht bekannt.
Weshalb Einsprachen unterbleiben
Laut Thommen ist das Strafbefehlsverfahren grundsätzlich darauf angelegt, dass keine Einsprache erhoben wird: «Würde nämlich jeder Beschuldigte das ordentliche Verfahren verlangen, so gäbe es keinen Effizienzgewinn.» Er nennt vier Hauptgründe, weshalb eine Einsprache in der Realität meistens unterbleibe:
Erstens überblicken viele Beschuldigte die Dimension des Verfahrens nicht, vor allem, wenn vor dem Erlass des Strafbefehls keine staatsanwaltschaftliche Einvernahme stattgefunden hat. Das ist häufig der Fall. Zweitens werden Strafbefehle oft nicht übersetzt. Wer die deutsche Sprache nicht versteht, erfährt gar nicht, was ihm vorgeworfen wird, und wehrt sich deshalb auch nicht dagegen. Drittens gibt es Empfänger von Strafbefehlen, die mehr auf dem Kerbholz haben, als ihnen im Strafbefehl vorgeworfen wird. Sie sind deshalb froh, wenn sie nur mit einem Strafbefehl bestraft werden. Viertens dürften sich laut Thommen viele Bestrafte scheuen, Einspruch zu erheben, da es dann zu einer öffentlichen Gerichtsverhandlung kommen könnte. «Die Parteiöffentlichkeit ist für den Beschuldigten der wesentliche Grund, weshalb er das Strafbefehlsverfahren der gerichtlichen Erledigung vorzieht», sagt Marc Thommen.