Die Standesorganisation der Schweizer Ärzte (FMH) betreibt eine aussergerichtliche Gutachterstelle. An diese kann sich ein Patient wenden, wenn er vermutet, dass er wegen eines Diagnose- oder Behandlungsfehlers einen erheblichen Gesundheitsschaden erlitten hat.
Im Jahr 2013 verfasste die Stelle laut Jahresbericht 79 Gutachten. In 30 Fällen wurden ein oder mehrere Diagnose- oder Behandlungsfehler bejaht, in 49 Fällen stellte sie keinen Fehler fest.
Im Durchschnitt 18 Monate bis zu einem Entscheid
Der Zürcher Rechtsanwalt Michael Ausfeld findet die FMH-Gutachterstelle grundsätzlich eine gute Einrichtung. Aber: «Sie ist konkret so ausgestaltet, dass die Geschädigten vergrault werden. Das Verfahren ist enorm langwierig.» Die Zürcher Rechtsanwältin Bettina Umhang stimmt ihm zu: «Bis ein Gutachten vorliegt, dauert es im Durchschnitt eineinhalb Jahre.» Auch zwei Jahre seien keine Seltenheit. «Das ist für meine Klienten inakzeptabel.»
Rechtsanwältin Valérie Rothhardt von der FMH-Gutachterstelle bestätigt die Länge der Verfahren: Letztes Jahr dauerte es durchschnittlich 17 bis 18 Monate, bis ein Entscheid erging. Sie begründet dies damit, dass oft ein multidisziplinäres Gutachterteam gesucht werden müsse. Zudem hätten Patient, Arzt oder Spital sowie deren Versicherer Parteirechte und könnten sich zu den vorgeschlagenen Gutachtern äussern. Eine Verkürzung der Verfahrensdauer könnte gemäss Rothhardt insbesondere durch fristgerechtes Mitwirken aller Parteien erreicht werden. Sie sagt: «Es ist ein grosses Anliegen der FMH, die Verfahrensdauer bei hochbleibender Qualität möglichst zu verkürzen.»
“Drei Viertel der Fragen rausgekippt”
Der Luzerner Opferanwalt Marco Unternährer bemängelt, das Verfahren sei sehr formalistisch gehalten: «Die Abklärung ist lediglich auf die Frage der Sorgfaltspflichtverletzung beschränkt. Fragenkataloge sind nur in sehr beschränktem Ausmass möglich.»
In einem Fall, in dem es um eine fehlerhafte Operation gegangen sei und in dem schon ein Gutachten des Unfallversicherers vorgelegen habe, habe er einen Fragenkatalog geschickt. Unternährer: «Die FMH hat drei Viertel meiner Fragen rausgekippt – ich dürfe diese nicht stellen. In einem FMH-Gutachten kann man gemäss Reglement nur die Frage stellen, ob eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliege oder nicht. In ein Gutachten gehört aber nicht nur die Frage der Sorgfaltspflichtverletzung des ärztlichen Eingriffs. Das Gutachten hat sich auch über deren Folgen – bezogen auf das Erwerbsleben oder den Haushalt – zu äussern.» Dass dies nicht der Fall sei, sei die grosse Schwäche der FMH-Begutachtung.
Unternährer schlägt vor, dass Fragenkataloge umfassend zugelassen werden sollten, damit das Problem versicherungsmässig gesamtheitlich geregelt werden könnte: «Wenn der Arzt schon beurteilt, ob eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, sollte er auch weitere Fragen klären können.»
Rothhardt verweist bei dieser Kritik auf Artikel 13 Absatz 1 des Reglements. Danach äussere sich das FMH-Gutachten zur Fehler-, Schadens- und Kausalitätsfrage. Der Experte werde beauftragt, zu den Fehlervermutungen nach Artikel 7 Absatz 1 des Reglements Stellung zu nehmen. Der Gutachter solle einen durch den Fehler verursachten Gesundheitsschaden möglichst klar und vollständig beschreiben. «Hingegen ist es Sache der Parteien, sich aufgrund des medizinischen Gutachtens über die wirtschaftlichen Folgen des durch den Fehler verursachten Gesundheitsschadens zu einigen. Diesbezügliche Änderungen sind bei der Gutachterstelle nicht vorgesehen», so die FMH-Anwältin.
Auch Rechtsanwältin Bettina Umhang stösst sich daran, dass man als Partei zur Person des Gutachters nicht mitreden kann. Man dürfe nicht einmal Wünsche anbringen. «Wird ein Kollege eines angezeigten Arztes als Gutachter vorgeschlagen, kann ich mich nicht dagegen wehren.» Ihr Vorschlag: «Gutachterwünsche sollten mit der Gegenseite besprochen werden können, und es sollte ein Einigungsversuch über die Person des Gutachters unternommen werden.»
Rothhardt verweist in ihrer Stellungnahme gegenüber plädoyer auf die grosse Kompetenz der von der FMH ausgewählten Gutachter. Parteien könnten aber Gutachter begründet ablehnen, wenn die Voraussetzungen vorlägen.
Selbst Experten sind überfordert
Theoretisch kann sich jeder Patient an die FMH-Gutachterstelle wenden und für zirka 600 Franken ein Gutachten erhalten. In der Praxis ist das nicht so. Umhang kritisiert: «Eine durchschnittlich gebildete Person ist nicht in der Lage, die formalen Anforderungen der FMH zu erfüllen.» Ein Patient müsse sich für den Antrag auf ein Gutachten einen Anwalt nehmen. «Sogar ich als Expertin bekomme die Anträge immer wieder zur Verbesserung zurück.» Man müsse im Einzelnen die Akten zusammenfassen und genau darauf verweisen, wo was stehe. Dies sei viel Kleinarbeit. Normalerweise seien Gutachteraufträge viel einfacher zu erteilen. Ihr Verbesserungsvorschlag: «Die Formalien sollten heruntergeschraubt werden. Es sollte genügen, dass man die Akten schön geordnet einreicht und die Korrespondenz mit der Haftpflichtversicherung des Spitals beilegt, das man kritisiert. Daraus könnten die Gutachter ersehen, was man kritisiert und was die Antwort der anderen ist.»
Zu den überhöhten Formvorschriften sagt Rothhardt: Der Patient habe die Behandlungsgeschichte so darzulegen, wie er sie selbst erlebt habe. Er solle seine Vermutungen zum Behandlungsfehler, zum Gesundheitsschaden und zum Zusammenhang zwischen dem Fehler und dem Schaden im Klartext mitteilen. Des Weiteren sei die Gutachterstelle über den Stand des Verfahrens zu informieren. Hat der Patient zum Beispiel bereits eine Zivilklage eingereicht? Ist eine Einigung mit der Haftpflichtversicherung zustande gekommen? «Mit der Unterzeichnung des Antrags und der Beilage einer Kopie der Krankengeschichte sind die formellen Voraussetzungen für den Antrag erfüllt», so Rothhardt.
Die FMH-Juristin verweist zudem darauf, dem Patienten würden verschiedene Dokumente zur Verfügung gestellt wie zum Beispiel ein Musterantrag, Musterbriefe und eine Checkliste. «Der Patient könne sich auch jederzeit mit der FMH-Gutachterstelle telefonisch in Verbindung setzen und werde hinsichtlich der Voraussetzungen durch die Spezialisten der Gutachterstelle beraten.»