plädoyer: Anfang 2007 trat das Bundesgerichtsgesetz (BGG) in Kraft. Nach acht Jahren liegt bereits ein Entwurf für eine Revision vor. War das Gesetz so mangelhaft, dass bereits wieder Handlungsbedarf besteht?
Marino Leber: Ein Postulat des Alt-Ständerats Thomas Pfisterer verlangte, dass man zum Gesetz eine Evaluation durchführt. Dies wurde gemacht. Man kam zum Schluss, das Gesetz habe sich grundsätzlich bewährt, es gebe aber einen Optimierungsbedarf. Dies deckt sich mit meinem Eindruck. Es besteht aber kein absolut zwingender Handlungsbedarf. Einig ist man sich darin, dass der Ausnahmekatalog im öffentlichen Recht unbefriedigend ist. Es ist dort relativ zufällig, welche Entscheide man ans Bundesgericht weiterziehen kann. Jetzt, wo man ein Feintuning macht, kann man einzelne Punkte daran verbessern.
plädoyer: Herr Vischer, geht es wirklich um «Feintuning»?
Daniel Vischer: Es geht um mehr als bloss eine Feinanpassung, es gibt gewisse Paradigmenwechsel. Es wird ein neues System eingeführt: Erstmals soll eine untere Instanz bestimmen, ob ein Fall weitergezogen werden kann. Geplant ist zudem eine grössere Änderung im sensiblen Bereich des Ausländerrechts.
Man muss sich fragen: Besteht überhaupt Handlungsbedarf? Aus Sicht des Parlaments nicht. Die Vorstösse betreffend Zivil- und Strafprozessordnung sind sehr zahlreich, zum BGG gab es praktisch keine. Hätte man die Evaluation nicht gemacht, wäre wahrscheinlich niemand auf die Idee gekommen, das Gesetz zu ändern.
plädoyer: Das BGG sollte der Überlastung des Bundesgerichts einen Riegel schieben. In Zivilstreitigkeiten wurden deshalb etwa die Streitwertgrenzen erhöht. Heute ist das Bundesgericht gemäss den Fallzahlen der letzten Jahre – mit Ausnahme der sozialrechtlichen Abteilungen in Luzern – nicht mehr überlastet.
Leber: Man kann tatsächlich nicht mehr von einer generellen Überlastung sprechen. Das Bundesgericht stellt aber fest, dass es relativ stark mit Bagatellfällen belastet wird. Es will durch eine Einschränkung der Rechtsmittel in solchen Bereichen mehr Kapazitäten freihalten. Im Gegenzug sind Rechtsgebiete heute vom Zugang zum Bundesgericht ausgeschlossen, bei denen nicht einzusehen ist, weshalb das oberste Gericht sich nicht damit befassen soll. Stichwort Interkonnektionsstreitigkeiten im Fernmeldebereich: Hier geht es um die Frage, wie viel wir letztlich für ein Telefongespräch bezahlen.
plädoyer: Bussen bis 5000 Franken sollen nicht mehr weitergezogen werden können. Sind das Bagatellfälle?
Leber: Nicht immer. Es gibt gewisse Bagatellen wie etwa Parkbussen. Daneben gibt es Fälle, die keine Bagatellen, aber von weniger grosser Bedeutung sind, sodass sie nicht unbedingt dem Bundesgericht vorgelegt werden müssen. In einigen Kantonen sind zudem die Gerichtsgebühren mittlerweile recht hoch. Das kann ein grösseres Hindernis sein als der beschränkte Zugang zum Bundesgericht.
Vischer: Diese Auswirkung der ZPO hatten wir schon im Parlament bemängelt. Das Kautionssystem wirkte sich verheerend aus, auch die Haftung der klagenden Partei für die Gerichtskosten.
plädoyer: Nochmals: Ist eine Busse von 5000 Franken für einen durchschnittlichen Haushalt eine Bagatelle? Zu den 5000 Franken kommen noch Gerichtskosten von einigen Tausend Franken. Wir reden also über Fälle, die einen Schweizer Haushalt mit knapp 10 000 Franken belasten können. Zudem kann es auch bei kleinen Bussen um die grundsätzliche Strafbarkeit eines Verhaltens gehen.
Leber: 5000 Franken sind keine Bagatelle. Die Grenze kommt vom Strafregistereintrag her. Was nicht eingetragen wird, ist nicht dramatisch. Aber: Auch in solchen Fällen ist eine Beschwerde in Zukunft möglich, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt.
plädoyer: Weiss man, von wie vielen Fällen Lausanne künftig verschont bliebe, wenn die Streitwertschranke im Strafrecht eingeführt würde?
Leber: Das kann ich nicht sagen.
Vischer: Unser Rechtsmittelsystem ist heute ziemlich absurd: Wir reden hier erstens von Bussen, nicht von Geldstrafen, und zweitens vom Übertretungsstrafrecht. Andererseits gibt es Entscheide des Bundesstrafgerichts in Bellinzona, die man heute mit Bezug auf Tatsachenfragen nicht ans Bundesgericht weiterziehen kann. Somit haben wir bei den Bussen zurzeit einen besseren Rechtsschutz als bei schweren Fällen, die in Bellinzona behandelt werden.
Leber: Dies soll ja auch noch geändert werden, ist aber nicht Gegenstand der vorliegenden BGG-Revision.
plädoyer: Das Bundesgericht soll auch die Rechtsprechung in der Schweiz vereinheitlichen. Besteht nicht die Gefahr, dass die Kantone sehr unterschiedlich Recht sprechen würden, wenn nicht mehr alle Strafentscheide an eine Bundesinstanz weitergezogen werden können?
Vischer: Diese Gefahr besteht. Deshalb bin ich nicht unglücklich, wenn es keine Revision gibt. Für mich steht dieser Punkt aber nicht im Vordergrund. In einem Interview in der NZZ sagte der Präsident des Bundesgerichtes, Gilbert Kolly, das Grundproblem sei die Belastung mit unwesentlichen Fällen. Das Bundesgericht müsste seiner Ansicht nach ein Gericht sein, das nur die wesentlichen Fragen beurteilt. Unser System ist aber nicht so. Wir haben kein Annahmesystem, bei dem das Gericht bestimmt, welche Fälle es behandeln will.
Leber: Es geht nicht darum, flächendeckend ein Annahmeverfahren einzuführen. Dies wäre verfassungsrechtlich nicht möglich. Die neue Auffangklausel ist nur für die Tatbestände des Ausnahmekatalogs und für die Streitwertgrenzen vorgesehen. Wenn es kantonal unterschiedliche Praxen gibt oder eine Vorinstanz von der Praxis des Bundesgerichts abweicht, greift diese Klausel. Das Bundesgericht kann dort für eine Vereinheitlichung sorgen, neu auch in Bereichen, die heute vom Weiterzug ausgeschlossen sind.
plädoyer: Der emeritierte Berner Professor Ulrich Zimmerli kritisiert, dass die subsidiäre Verfassungsbeschwerde abgeschafft werden soll. Dieser Verlust könne nicht durch das Annahmeverfahren kompensiert werden.
Vischer: Ich bin überrascht, wie unbedeutend heute die subsidiäre Verfassungsbeschwerde zahlenmässig ist. An sich ist das System der subsidiären Verfassungsbeschwerde nicht unbedingt naheliegend. Es war einfach ein Auffangrechtsmittel, um gegenüber der früheren staatsrechtlichen Beschwerde keine Verschlechterung einzuführen.
Leber: Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde hatte vor allem die Funktion, die staatsrechtliche Beschwerde weiterzuführen, solange das Prozessrecht nicht vereinheitlicht war. Man konnte die willkürliche Anwendung von kantonalem Prozessrecht rügen. Seit Einführung der Prozessordnungen auf Bundesebene ist die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ein seltsames Rechtsmittel. Es ist doch nicht sinnvoll, wenn das Bundesgericht aufgrund einer subsidiären Verfassungsbeschwerde die Anwendung der ZPO – eines Bundesgesetzes – nur auf Willkür prüfen kann. Künftig sollen Grundsatzfragen immer vor Bundesgericht gebracht werden können, sowohl bei kantonalen Entscheiden als auch bei Bundesentscheiden. Wenn Anzeichen bestehen, dass eine wichtige Norm verletzt worden ist, ist ein besonders bedeutender Fall anzunehmen, der eine Beschwerde ermöglicht.
Vischer: Sie bestreiten also nicht, dass durch die subsidiäre Verfassungsbeschwerde eine gewisse Grundrechts- bzw. Verfassungsrechtsrüge möglich war, die neu nur noch über den Weg der besonderen Bedeutung eines Falles nachgeholt werden kann?
Leber: Das ist so.
plädoyer: Die Einführung einer Einheitsbeschwerde ist formal eine Vereinfachung. Aber neu muss man einfach noch begründen, warum es sich im konkreten Fall um eine Rechtsfrage von besonderer Bedeutung handelt. Das reduziert die Fälle nicht.
Leber: Es geht hier nicht um eine Entlastungsvorlage. Unter dem Blickwinkel der Gerechtigkeit ist es besser, wenn Rechtsmittel nach ihrer Bedeutung behandelt werden. Heute wird bei der subsidiären Verfassungsbeschwerde häufig nur formal begründet, weshalb das Gericht darauf nicht eintreten kann. Schon bei der staatsrechtlichen Beschwerde war es so. Im Übrigen wird das begrenzte Annahmeverfahren schon heute in einigen Rechtsgebieten angewendet: etwa in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, der internationalen Amtshilfe in Steuersachen und im Beschaffungswesen. Dort gibt es ähnliche Klauseln. Damit machte das Bundesgericht gute Erfahrungen.
plädoyer: Im Ausländerrecht reduziert die Vorlage die Rechtsmittel. Warum?
Leber: Ich glaube nicht, dass es sich um eine massive Einschränkung handelt. Es gibt vor allem eine Umstellung: Heute ist die Zulässigkeit der Beschwerde davon abhängig, ob jemand einen Rechtsanspruch auf eine Bewilligung hat. Ist das so, kann man ans Bundesgericht gelangen, sonst nicht. Bei der Beurteilung der Eintretensfrage muss schon auf das Materielle geschielt werden. Zudem gibt es heute häufiger Rechtsansprüche als zur Zeit, als das Gesetz konzipiert wurde. Viele Leute können das Recht auf Familienleben gemäss Art. 8 EMRK geltend machen und haben deshalb einen Rechtsanspruch. Andere nehmen die bilateralen Verträge als Grundlage. Deshalb drängt sich eine Anpassung des Gesetzes auf.
plädoyer: Müssen die Parteien künftig Entscheide der Verwaltungsgerichte und des Bundesverwaltungsgerichts direkt in Strassburg anfechten?
Leber: Wir haben einen andern Ansatz. Es soll darauf abgestellt werden, wie lange jemand in der Schweiz ist. Je länger jemand legal da ist, umso mehr befindet er sich in einer schützenswerten Rechtsposition. Zehn Jahre legaler Aufenthalt oder der Besitz der Niederlassungsbewilligung sind Bedingung für eine Beschwerde ans Bundesgericht. Solche Parteien können nun immer ans Bundesgericht gelangen. Andere Ausländer müssen darlegen, dass es um eine Grundsatzfrage geht oder ein bedeutender Fall vorliegt.
Vischer: Art. 8 EMRK ist heute oft der Grund für einen Gang zum Bundesgericht. Mit der Revision will man die Zahl der Beschwerden im Ausländerrecht verringern. Dies ist offensichtlich die Absicht, wenn ich das NZZ-Interview mit Bundesgerichtspräsident Kolly richtig verstehe. Das halte ich für fragwürdig.
plädoyer: Der Entwurf sieht vor, dass bei solchen Ausländerentscheiden das Bundesverwaltungsgericht entscheiden soll, ob sein Urteil beim Bundesgericht angefochten werden kann. Weshalb soll ein Gericht, das einen Entscheid trifft, selbst festlegen, ob dagegen ein Rechtsmittel möglich ist?
Leber: Dieses besondere Verfahren wird nur für wenige Kategorien von ausländerrechtlichen Entscheiden des Bundesverwaltungsgerichts vorgeschlagen, nicht für Aufenthaltsbewilligungen. Die Idee für dieses Modell kam aus dem Asylbereich. Dort war das Bundesgericht nie zuständig, ausser wenn gleichzeitig ein Auslieferungsverfahren läuft. Das Bundesgericht sollte auch im Asylbereich die Grundsatzfragen entscheiden können.
plädoyer: Weshalb nicht auch hier ein Annahmeverfahren?
Leber: Das wäre schon zu viel. Bis das Bundesgericht entschieden hat, könnten ja die Asylbewerber noch hier bleiben. Also würden sie ein Rechtsmittel einlegen. Es ist ziemlich klar, wann Rechtsfragen im Asylbereich eine Grundsatzbedeutung haben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in seinen Geschäftsberichten festgestellt. Wenn das Gericht künftig zu wenig oder zu häufig auf Grundsatzfälle erkennen würde, müsste dies im Rahmen der Aufsicht und der Oberaufsicht thematisiert werden.
Vischer: Sie können doch nicht ein Verfahrenssystem einführen, in dem die politische Aufsicht – also das Parlament – korrigierend eingreift und der Justiz sagt, was sie machen soll. Das geht von der Gewaltenteilung her nicht. Aber ich bin ja froh, dass man heute einsieht, dass es eine Abnormität ist, dass das Asylrecht vom bundesgerichtlichen Überprüfungsrecht ausgenommen ist. Dass man jetzt eine kleine Öffnung macht, ist an sich zu begrüssen. Ich frage mich aber, ob dieses System sinnvoll ist.
Leber: Realistisch scheint mir für den Asylbereich nur der Status quo oder dann die kleine Öffnung mit der Beschwerdezulassung durchs Bundesverwaltungsgericht.
plädoyer: Strafrechtsprofessor Thommen von der Uni Zürich kritisiert die neue Vorlage als viel zu kompliziert. Sehen Sie das auch so?
Leber: Nein, überhaupt nicht. Man muss doch sehen, dass das BGG im Vergleich zum früheren Organisationsgesetz wesentlich einfacher ist. Vorher hatte man im SchKG-Bereich eine separate Beschwerde oder zum Beispiel noch eine Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen an den ausserordentlichen Kassationshof usw. Das BGG ist einfacher. Wenn man die vorgeschlagene Revision gesamthaft anschaut, wird es nochmals ein bisschen einfacher.
Vischer: Mein Problem ist nicht, dass der Gesetzesentwurf zu kompliziert ist. Mein Problem ist, dass es unter dem Strich Einschränkungen gibt, bei denen ich den Gewinn zu wenig sehe. Dort, wo die Verbesserung sinnvoll wäre, nämlich im Asylrecht, glaube ich nicht, dass es zurzeit auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hat. Von daher befürchte ich, dass man eine Revision anreisst, bei der die Verbesserungen am Schluss wegfallen und die Verschlechterungen bleiben.
Daniel Vischer, 66, ist seit 1988 als freiberuflicher Rechtsanwalt in Zürich tätig. Von 2003 bis 2015 war er Nationalrat der Grünen.
Marino Leber, 58, Rechtsanwalt, ist wissenschaftlicher Berater beim Bundesamt für Justiz. Er war federführend bei der Ausarbeitung der Revision des BGG.
BGG: Die wichtigsten Revisionsvorschläge
Mit der Revision des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) werden zwei Hauptziele verfolgt: Der Zugang zum höchsten Gericht soll auf der einen Seite erweitert, auf der anderen Seite eingeschränkt werden. Das Bundesgericht soll sich mehr mit grundlegenden Fragen befassen können. Eine Beschwerde soll – auch im Rahmen des Ausnahmekatalogs der bisher nicht dem Bundesgericht zugänglichen Rechtsbereiche – immer dann möglich sein, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder wenn aus andern Gründen ein beson-ers bedeutender Fall vorliegt. Diese Regel würde gelten, wenn in Zivilsachen der nötige Streitwert nicht erreicht wurde. Dagegen soll am Bundesgericht im Strafrecht eine Art Streitwertgrenze eingeführt werden: So sollen nur noch Bussen von mehr als 5000 Franken anfechtbar sein. Auch über erleichterte Einbürgerungen und ausländerrechtliche Bewilligungen soll die Vorinstanz endgültig entscheiden. Schliesslich soll die subsidiäre Verfassungsbeschwerde abgeschafft werden.