Tiefere Steuern für die Unternehmen – höhere AHV-Beiträge für die Bevölkerung: Über dieses Steuer-AHV-Paket stimmte das Volk am 19. Mai ab.
Bereits im Abstimmungskampf wurde kritisiert, die Vorlage verstosse gegen den Grundsatz der Einheit der Materie. Nach der Annahme gelangten deshalb mehrere Beschwerdeführer ans Bundesgericht. Sie beanstandeten, dass die bei der Abstimmung gestellte Frage den Grundsatz der Einheit der Materie verletzt und die unverfälschte Stimmabgabe verhindert habe. Sie stützten sich auf Artikel 34 Absatz 2 der Bundesverfassung. Dieser Artikel schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Das Bundesgericht ist aber nicht auf die Beschwerden eingetreten.
Die Vorgeschichte: Im Jahr 2017 lehnte das Volk in zwei separaten Abstimmungen die Unternehmenssteuerreform III sowie die Altersvorsorge 2020 ab. Bundesrat und Parlament änderten in der Folge die Unternehmenssteuervorlage leicht und wollten für die Steuerverluste soziale Kompensationen vorsehen. So schlug der Bundesrat eine Erhöhung der Familienzulagen vor. Das Parlament hingegen verband die Unternehmenssteuerreform mit der Frage der AHV-Zusatzfinanzierung.
Abstimmung trotz rechtlicher Zweifel
Ein Gutachten des Bundesamts für Justiz weckte Zweifel an der Vereinbarkeit dieses Entwurfs mit dem Grundsatz der Einheit der Materie. Die Vorlage wurde trotzdem vom Parlament verabschiedet und dem Referendum unterstellt. Sie wurde am 19. Mai mit 66,4 Prozent der Stimmen angenommen.
In der Bundesverfassung ist die Garantie der politischen Rechte im Kapitel der Grundrechte ausgeführt. Der Anspruch auf Einheit der Materie lässt sich von der Abstimmungsfreiheit herleiten, insbesondere vom Recht zur freien Willensbildung und zur unverfälschten Stimmabgabe (Artikel 34 Absatz 2 BV). Die konstante Rechtsprechung des Bundesgerichts untersagt es, in einer dem Volk vorgelegten Vorlage mehrere Vorschläge unterschiedlicher Natur und Ziele zu verbinden. Denn dies würde den Bürger zu einer globalen Annahme oder Ablehnung zwingen, auch wenn er mit einem Teil der Vorschläge einverstanden wäre. Deshalb muss unter den Teilen einer Vorlage ein innerer Zusammenhang sowie eine Einheit des Zwecks bestehen. Es muss ein Sachzusammenhang vorliegen, der die Zusammenlegung von mehreren Vorschlägen in einer einzigen Frage objektiv gesehen als gerechtfertigt erscheinen lässt.
Die Beschwerdeführer fochten das Ergebnis der Abstimmung unter Berufung auf die Verletzung dieses Grundsatzes beim Bundesgericht an – trotz Artikel 189 Absatz 4 BV, wonach Akte der Bundesversammlung beim Bundesgericht nicht angefochten werden können. Sie betonten, nicht den Entscheid der Bundesversammlung als solchen zu beanstanden. Sie zweifelten vielmehr das Ergebnis der Abstimmung an, weil der Souverän seine Stimme nicht unverfälscht zum Ausdruck habe bringen können. Die Stimmberechtigten konnten die Vorlage nur annehmen oder ablehnen. Die Annahme nur eines Teils erforderte Konzessionen in einem ganz anderen Bereich, ein einziges Ja oder Nein reichte dann nicht aus, um den Willen auszudrücken.
Das Bundesgericht stützte das Nichteintreten auf Artikel 189 Absatz 4 BV – eine Verfassungsbestimmung im Kapitel zur Organisation der Behörden und ihrer Kompetenzen. Für den Schutz der Grundrechte ist dies unbefriedigend. Der Schutz der Abstimmungsfreiheit der Bürger darf nicht durch eine Verfassungsbestimmung organisatorischer Natur zunichtegemacht werden.
Parlamentarische Initiative will klare Regelung
Zurzeit ist eine parlamentarische Initiative hängig (18.436). Sie will, dass jeder Beschluss, der dem obligatorischen oder fakultativen Referendum unterliegt, die Einheit der Materie einhalten muss. Der Vorstoss ist mit 6 zu 4 Stimmen bei 2 Enthaltungen in der zuständigen Kommission des Ständerats angenommen worden. Die Kommission des Nationalrats hat sie mit 13 zu 10 Stimmen bei 2 Enthaltungen abgelehnt.
Eine gesetzgeberische Lösung ist wohl nötig, damit das Bundesgericht seiner Pflicht, die Grundrechte zu garantieren, nachkommen kann. Es wäre vorstellbar, in einem Bundesgesetz zu regeln, dass ein Erlass zwingend so dem Volk vorzulegen ist, dass sich die Abstimmenden separat über jedes einzelne Objekt der Vorlage äussern können – zumindest, wenn die Bundesversammlung in einem einzigen Erlass mehrere Bundesgesetze ändert oder zwei Entscheide ohne inneren Zusammenhang beschliesst.