Massenverträge sind heute eine Notwendigkeit der Ökonomie und werden durch die sogenannte Plattformökonomie oder Sharing Economy noch mehr gefördert. Wiederholte Leistungen mit demselben Inhalt enthalten auch das Risiko, dass sich bei gewissen Ereignissen eine Schlechterfüllung auf viele Verträge auswirken kann. Das Prinzip «Ein Geschädigter, eine Klage» kann dann oft nicht befriedigend sein, vor allem wenn es für den Einzelnen nur um bescheidene Beträge geht.
Mit solchen «Streuschäden» steht der Einzelne ohne eine wirklich sinnvolle Lösung da. Eine Mediation scheint nur begrenzt erfolgversprechend, da der bei Misserfolg anzuschliessende gerichtliche Weg eher hoffnungslos ist. Es gibt also wenig Druck auf die Gegenpartei, eine Lösung zu finden. In der Tat, eine Klage einzureichen kostet oft mehr, als der eigentliche Schaden für die Einzelperson ausmacht. Man denke an die Annullierung eines Konzerts im Hallenstadion oder den Abgasskandal. Die Beträge sind im Vergleich zu den Gerichts- und Anwaltskosten eher tief. Ökonomen sprechen deshalb von «rationaler Apathie». Die Apathie ist aber nur für den Einzelnen rational. Sie führt jedoch (für den Vertragspartner) durch die Akkumulation von Streuschäden aus den (einzelnen) Vertragsverletzungen zu einem ungewollten Gewinn.
In gewissen Fällen (zum Beispiel bei missbräuchlichen AGB-Klauseln) können Konsumentenorganisationen oder der Staat klagen. Artikel 10 UWG erlaubt aber in solchen Fällen nur eine Feststellungs- oder Unterlassungsklage. Die (positive) Wirkung für den Einzelnen bleibt beschränkt. Diese Organisationen könnten selbstverständlich auch einem Einzelnen helfen, eine «Testklage» einzureichen. Es gibt dann möglicherweise eine Drittfinanzierung des ganzen Verfahrens. Das Ergebnis des Verfahrens soll dann die Erledigung von ähnlich gelagerten Fällen ermöglichen. Die Organisation solcher Testklagen ist aber nicht einfach, da man zuerst die verschiedenen Geschädigten aufrufen muss und dann nur ein paar wenige auswählen kann. Eine einfache Streitgenossenschaft wäre an sich möglich (Artikel 71 ZPO). Sie ist aber in der Praxis nicht immer leicht realisierbar, unter anderem weil die Parteien nicht wirklich verbunden sind und auch Ansprüche erheben können, die nicht unbedingt gleichzeitig auftauchten.
Sogenannte Massengeschäfte und die daraus fliessenden Streuschäden rufen deshalb nach einem Paradigmenwechsel. Es braucht heute eine «Massenklage» in der Form eines kollektiven Rechtsschutzes, der nicht nur in der Form einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage existiert, sondern auch die Verurteilung zu Schadenersatz ermöglicht. Diese allgemein gültige Sammelklage sollte voraussichtlich in der ZPO Platz finden, damit die Koordination zwischen den verschiedenen Verfahren möglich wird. Dafür plädiert auch die Eidgenössische Kommission für Konsumentenfragen in ihrer Empfehlung an den Bundesrat vom 17. Februar 2015.
Wenn man also den Konsumentinnen und Konsumenten nicht nur zahnlose Rechte geben, sondern sicherstellen will, dass die Unternehmen, die Schäden bei Konsumentinnen und Konsumenten verursachen, dafür auch wirklich haften müssen, sollte man für Massengeschäfte eine Art «Massenklage» in der ZPO einführen.
Prof. Dr. Pascal Pichonnaz
Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg, Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Konsumentenfragen