1. Aufgabe der Sozialversicherungen
Normen begleiten uns im Leben allgegenwärtig. Dabei hat das Recht unterschiedliche Funktionen. In manchen Fällen verbietet das Recht etwas – etwa die Mehrfachehe – oder verlangt von uns zwingend eine Zahlung, so zum Beispiel im Steuerrecht. In anderen Fällen will das Recht unser Verhalten beeinflussen, was zum Beispiel bei Subventionen der Fall ist. Das Strafrecht schliesslich sanktioniert verpönte Verhaltensweisen von uns, indem Strafen festgelegt werden. Diese unterschiedlichen Funktionen des Rechts muss die Gesetzgebung immer im Auge behalten, wenn Normen aufgestellt werden.
Wie soll das Recht umgehen mit Entwicklungen im sozialen Bereich? Wie steht es im Besonderen mit neuen, vielfältigen Familienformen? Von solchen Entwicklungen wird primär das Familienrecht gefordert, doch ist offensichtlich auch das Sozialversicherungsrecht gefragt. Beiden Rechtsgebieten ist eigen, dass sie Personen schützen wollen.
Das Familienrecht legt zum Beispiel fest, wie Unterhalts- oder Unterstützungspflichten geordnet sind. Das Sozialversicherungsrecht legt für Unselbständigerwerbende einen bestimmten Mindestschutz beim Eintritt eines Unfalls fest. In bestimmten Fällen wird im Sozialversicherungsrecht eine bestimmte Tätigkeit für bestimmte Personen schlicht verboten. So verhält es sich zum Beispiel, wenn jemand an Allergien leidet – ihm ist in der Folge verboten, in entsprechenden Risikobereichen tätig zu sein. Andernorts legt das Sozialversicherungsrecht Zwangsabgaben in Form von Beiträgen oder Prämien fest, beispielsweise AHV-Beiträge oder Beiträge an Pensionskassen.
Sollen Familienrecht und Sozialversicherungsrecht auf das Auftreten von neuen Familienformen reagieren? Oder soll das Recht agieren und präventiv eingreifen? Wenn berücksichtigt wird, dass sowohl das Familien- wie auch das Sozialversicherungsrecht den Schutz von Personen ins Zentrum stellen, steht im Vordergrund, auf bestimmte Entwicklungen mit den richtigen – dem Schutzgedanken entsprechenden – Normen zu reagieren. Die Gesetzgebung soll also das Aufkommen und Ausbreiten von neuen Familienformen einordnend beobachten und mit den zutreffenden Schutznormen darauf reagieren. Bei diesen Einordnungen muss zentral berücksichtigt werden, was die betroffenen Personen ihrerseits anstreben. Dies schliesst pauschale Lösungen oft aus, was aber im Familien- und im Sozialversicherungsrecht nicht unbekannt ist. Es muss jeder Einzelfall zutreffend eingeordnet werden. Sowohl das Familien- wie auch das Sozialversicherungsrecht müssen sich also der anspruchsvollen Aufgabe widmen, soziale Entwicklungen kritisch zu beobachten und für den Schutzgedanken reagierend die je richtigen Folgen festzulegen.
Der vorliegende Beitrag will aufzeigen, wie im geltenden Sozialversicherungsrecht auf Patchworkfamilien eingegangen wird. Dabei wird sich zeigen, dass das Sozialversicherungsrecht zu den sich langsam entwickelnden Rechtsgebieten gehört. Zwar befindet es sich in ständiger Entwicklung, doch fällt hier eben ins Gewicht, dass sozialversicherungsrechtlich massgebende Ausgangslagen von ganz unterschiedlichen Faktoren, insbesondere auch von wirtschaftlichen Entwicklungen, bestimmt werden. Es zeigt sich, dass das Sozialversicherungsrecht auf wirtschaftliche Entwicklungen rascher reagiert als auf Entwicklungen im Familienrecht.
2. Unterstellung und Finanzierung
Im Sozialversicherungsrecht ist die Versicherungsunterstellung individuell geordnet. Für Patchworkfamilien heisst dies, dass – wie auch für familienrechtlich zusammengehörige Personen – die Versicherungsunterstellung für jede einzelne Person zu prüfen ist. Typisches Beispiel dafür bildet die AHV. In diesem Sozialversicherungszweig muss jede einzelne Person die Voraussetzungen der Versicherungsunterstellung erfüllen. Sogenannte Familienversicherungen existieren im Sozialversicherungsrecht nicht.
Freilich ergeben sich bestimmte Besonderheiten, wobei es um die Versicherungsfinanzierung geht. Hier sieht Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG eine besondere «Mitfinanzierung» für Ehepaare vor. Freilich hat wegen des Individualversicherungsprinzips diese Mitversicherung nur Bedeutung, wenn beide Ehepartner der AHV unterstehen. Lebensgemeinschaften werden bei der Ordnung der Versicherungsunterstellung und bei der Versicherungsfinanzierung im Sozialversicherungsrecht nicht erfasst. Gemäss der früheren Rechtsprechung war die im – damals noch so bezeichneten – Konkubinat lebende Frau, die den gemeinsamen Haushalt führt und dafür von ihrem Partner Naturalleistungen und allenfalls zusätzlich ein Taschengeld erhält, hinsichtlich dieser Tätigkeit beitragsrechtlich als Unselbständigerwerbende zu betrachten.1
Diese Rechtsprechung ist vom Bundesgericht inzwischen korrigiert worden. Das Gericht berücksichtigte dabei die neueren Tendenzen der Rechtsprechung, den Wertewandel in der Gesellschaft, die fehlende Akzeptanz der bisherigen Rechtsprechung und deren mangelnde Durchsetzbarkeit sowie die in der Literatur geäusserte Kritik. Konkubinatspartner und ‑partnerinnen (ohne eigene Erwerbstätigkeit) gelten demnach als Nichterwerbstätige.2 Damit geht einher, dass die Konkubinatszeit nicht mehr als ALV-rechtliche Beitragszeit gilt.3
3. Fragen des Leistungsrechts
3.1 Erziehungsgutschriften
Bei Patchworkfamilien fallen Erziehungsgutschriften, wie sie in der AHV vorgesehen sind, massgebend ins Gewicht. Mit den Erziehungsgutschriften wird die prinzipiell angenommene Einkommenseinbusse ausgeglichen, die sich während der Phase der Kindererziehung an sich ergibt. Es handelt sich um eine äusserst generell gehaltene Regelung. Sie berücksichtigt insbesondere nicht, wer die Erziehungstätigkeit effektiv übernommen hat. Massgebend ist einzig, wem die elterliche Sorge für das Kind zusteht.4 Bei geschiedenen oder nicht miteinander verheirateten Eltern sowie bei gemeinsamer elterlicher Sorge bestehen Sonderregelungen.5
3.2 Pflegekinder
Im Sozialversicherungsrecht haben unter bestimmten Voraussetzungen auch Pflegekinder einen Leistungsanspruch. So legt zum Beispiel Art. 22ter AHVG fest, dass Pflegekinder, die nach Entstehung des Anspruchs auf eine Rente der 1. Säule in Pflege genommen werden, Anspruch auf eine Kinderrente haben, wenn es sich um Kinder des anderen Ehegatten handelt. Bezogen auf Waisenrenten ist massgebend, ob das Pflegekind unentgeltlich zu dauernder Pflege und Erziehung aufgenommen worden ist. Auch im Rahmen der Familienzulagenregelung werden Pflegekinder erfasst,6 wobei hier ebenfalls geprüft wird, ob eine unentgeltliche Aufnahme zu dauernder Pflege und Erziehung erfolgt.7
Die Kriterien für die Annahme der Unentgeltlichkeit berücksichtigen die von Hans Winzeler (Die Bemessung der Unterhaltsbeiträge für Kinder, Diss., Zürich 1974) in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt des Kantons Zürich ermittelten Ansätze; diese entsprechen in etwa den zum Unterhalt absolut notwendigen Auslagen.8 Es wird also auf eine Berücksichtigung der effektiven Unterhaltskosten verzichtet, um eine einheitliche und praktikable Lösung – eben eine Tabellenlösung – heranziehen zu können.9 Dabei werden – in Aufgabe einer älteren Rechtsprechung10 – nicht mehr die um einen Viertel reduzierten, sondern die ungekürzten Ansätze als massgebend betrachtet.11 Die jeweils massgebenden Werte sind im Anhang III der vom Bundesamt für Sozialversicherungen herausgegebenen Rentenwegleitung (RWL) abgedruckt.12
3.3 Drittauszahlung von Leistungen
Die Frage der Drittauszahlung von sozialversicherungsrechtlichen Leistungen hat bei Patchworkfamilien hohe Bedeutung. Die gesetzliche Regelung ist schwierig zu überblicken. Ausgangspunkt bildet Art. 20 ATSG, welcher die Gewährleistung zweckgemässer Verwendung der sozialversicherungsrechtlichen Leistung betrifft. Freilich ist die entsprechende Regelung bezogen auf die Voraussetzungen einer Drittauszahlung sehr streng.
Dass die Geldleistung nicht für den Unterhalt verwendet wird, stellt die Grundvoraussetzung der Drittauszahlung dar. Dabei ist der Unterhalt im zivilrechtlichen Sinne zu verstehen.13 Kumulativ verlangt das Gesetz eine hinzukommende Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Dies kann bei einer bloss drohenden Notwendigkeit der fürsorgerischen Unterstützung noch nicht angenommen werden.14 Vielmehr muss es sich um eine regelmässige Unterstützung handeln, was durch den Begriff des Angewiesen-Seins unterstrichen wird.15
Bei Patchworkfamilien fällt ins Gewicht, dass die einzelnen Sozialversicherungsgesetze sehr oft von den strengen Bestimmungen für eine Drittauszahlung in Art. 20 ATSG abgewichen wird.
Eine Durchsicht der einzelgesetzlichen Normen zur Drittauszahlung von Leistungen zeigt nämlich, dass – jeweils unter Kennzeichnung einer Abweichung von Art. 20 ATSG – in einem weiten Bereich Drittauszahlungen vorgenommen werden können. Die entsprechenden Regelungen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass die Voraussetzung der Sozialhilfeabhängigkeit nicht zu erfüllen ist, was mit sozialpolitischen Überlegungen begründet wird.16
Beispiele solcher (von Art. 20 ATSG) abweichender Drittauszahlungsbestimmungen bilden Art. 22ter AHVG sowie Art. 71ter AHVV. Bei solchen zusätzlichen Drittauszahlungstatbeständen ist sorgfältig abzuklären, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmass Art. 20 ATSG und die gestützt darauf erlassene Vollzugsbestimmung17 Bedeutung haben. Daneben bleiben – sowohl gegenüber Art. 20 ATSG wie auch gegenüber den einzelgesetzlichen Drittauszahlungstatbeständen – regelmässig zivilrichterliche Anordnungen vorbehalten.18
3.4 Lebensgemeinschaft in der beruflichen Vorsorge
Das Konkubinat – beziehungsweise die «Lebensgemeinschaft» – wird im Sozialversicherungsrecht ausdrücklich in der beruflichen Vorsorge erfasst. Es geht um die zentrale Bestimmung von Art. 20a BVG. Freilich muss im Auge behalten werden, dass Ansprüche beim Konkubinat – beziehungsweise bei einer Lebensgemeinschaft – nur bestehen können, wenn die jeweilige Vorsorgeeinrichtung dies im Reglement vorsieht.
Das Gesetz selber legt keine Ansprüche fest, sondern überlässt den Entscheid, ob überhaupt Leistungsansprüche vorgesehen sein sollen, dem Reglement der Vorsorgeeinrichtung.
Zu Art. 20a BVG besteht eine reichhaltige Rechtsprechung. Sie bezieht sich primär auf die Voraussetzungen für Leistungsansprüche bei einer Lebensgemeinschaft (Variante 1), betrifft daneben aber auch die eher selten anzutreffende Variante, dass die verstorbene Person eine andere Person in erheblichem Masse unterstützt hat (Variante 2).
3.4.1 Rechtsprechung zur Lebensgemeinschaft
Die Vorsorgeeinrichtung kann reglementarisch die Begünstigung in einer Lebensgemeinschaft festgelegen (Art. 20a BVG Ingress). Die Rechtsprechung erachtet es hier als zulässig, dass – insbesondere mit Blick auf beweisrechtliche Aspekte – schon zu Lebzeiten eine entsprechende Lebensgemeinschaft der Vorsorgeeinrichtung gemeldet werden muss.19 Die letztgenannte Voraussetzung muss bei der Ordnung der Versicherungssituation unbedingt im Auge behalten werden.
Eine allgemeine Begünstigung im Testament reicht zur Anspruchsbegründung nicht aus.20 Die in einem Testament verbalisierte Willenserklärung, den Lebenspartner hinsichtlich der reglementarischen Hinterlassenenleistungen zu begünstigen,  bedarf eines ausdrücklichen Hinweises auf die einschlägigen Reglementsbestimmungen oder wenigstens auf die berufliche Vorsorge.
Bei der Ausgestaltung der Leistungsansprüche kommt den Vorsorgeeinrichtungen eine erhebliche Gestaltungsfreiheit zu.21 Allerdings muss die Regelung von Art. 20a BVG bezogen auf die einzelnen Elemente und die Kaskadenordnung beachtet werden. Begünstigte Person einer Lebensgemeinschaft zu sein setzt damit voraus, dass die Lebensgemeinschaft mindestens fünf Jahre – nicht kürzer – ununterbrochen und unmittelbar vor dem Tod der versicherten Person bestand.22
Eine entsprechende Regelung gilt im Übrigen im Freizügigkeitsbereich (vgl. Art. 15 FZV). Immerhin zeigt der Vergleich von Art. 20a BVG und Art. 15 FZV einen unterschiedlich geregelten Aspekt betreffend Leistungsausschluss beim Bezug einer Witwen-/Witwerrente.23
3.4.2 Rechtsprechung zur Unterstützung
Für die Qualifikation der Unterstützung als erheblich ist in zeitlicher Hinsicht in der Regel eine Dauer von mindestens zwei Jahren vorausgesetzt.24
3.5 Anspruch auf Familienzulage
Von besonderer Praxisrelevanz ist die Frage, welcher Person bei Patchworkfamilien der Anspruch auf Familienzulage zusteht. Ausgangspunkt bildet die Frage, für welche Kinder eine Anspruchsberechtigung besteht. Hier werden in Art. 4 Abs. 1 FamZG auch Stiefkinder und Pflegekinder genannt. Wenn – was häufig der Fall ist – mehrere Personen für das gleiche Kind Anspruch auf Familienzulagen erheben können, steht nur einer Person der Anspruch zu. Die allfällige Anspruchskonkurrenz wird durch Art. 7 FamZG geordnet, wobei sechs nacheinander anzuwendende Kriterien zu berücksichtigen sind.
Das Vorgehen im Einzelnen zeigen die beiden folgenden Beispiele. Die Beispiele nennen eine bestimmte Ausgangslage. In der Folge werden die in Art. 7 Abs. 1 FamZG genannten Kriterien angewendet. Wenn bei einem bestimmten Kriterium eine Person nicht erfasst wird, entfällt diese Person für die weitere Prüfung.
Beispiel 1: Das Kind lebt bei seiner Mutter A. Sie erzielt im Kanton 1 als Selbständigerwerbende ein Einkommen von jährlich 30 000 Franken. Mutter A lebt mit dem Partner C zusammen, der ebenfalls im Kanton 1 ein Einkommen von jährlich 120 000 Franken aus unselbständiger Erwerbstätigkeit erzielt.
Der Vater B des Kindes lebt getrennt von der Mutter A und erzielt im Kanton 2 als Angestellter ein Einkommen von jährlich 80 000 Franken.
Prinzipiell kann der Anspruch auf Familienzulage der Mutter A, dem Vater B oder dem mit Mutter und Kind zusammenlebenden Partner C zustehen (Art. 7 Abs. 1 lit. a FamZG). Das Kriterium nach Art. 7 Abs. 1 lit. b FamZG (elterliche Sorge) führt zum Wegfall des Anspruchs von C, weshalb noch Mutter A und Vater B zu berücksichtigen sind. Nach der Regelung von Art. 7 Abs. 1 lit. c FamZG steht der Anspruch auf die Familienzulage der Mutter A zu, weil das Kind überwiegend bei der Mutter A lebt.
Beispiel 2: Das Kind lebt bei Pflegeeltern im Kanton 1. Die Pflegeeltern sind nicht erwerbstätig. Mutter A und Vater B haben die gemeinsame elterliche Sorge.
Die Mutter A ist im Kanton 2 tätig und erzielt ein Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit von jährlich 60 000 Franken. Sie lebt mit Partner C zusammen, der im Kanton 2 ein Jahreseinkommen von 120 000 Franken erzielt. Der Vater B ist teilinvalid und erzielt im Kanton 1 20 000 Franken Resterwerbseinkommen pro Jahr.
In Frage für den Anspruch auf Familienzulage kommen Mutter A, Partner C sowie Vater B (Art. 7 Abs. 1 lit. a FamZG). Weil Partner C keine elterliche Sorge hat, entfällt er beim Kriterium nach Art. 7 Abs. 1 lit. b FamZG. Das Kriterium von Art. 7 Abs. 1 lit. c FamZG (Person, bei der das Kind überwiegend lebt), hilft weder Mutter A noch Vater B, weil das Kind bei Pflegeeltern lebt. Hingegen ordnet das Kriterium von Art. 7 Abs. 1 lit. d FamZG (Person, auf welche die Familienzulagenordnung im Wohnsitzkanton des Kindes anwendbar ist) den Anspruch dem teilinvaliden Vater zu.
3.6 Arbeitslosenversicherungsrecht
Im Arbeitslosenversicherungsrecht ist mit Blick auf Patchworkfamilien auf zwei Besonderheiten hinzuweisen.
Zunächst muss beachtet werden, dass Art. 14 AVIG bei bestimmten Voraussetzungen vorsieht, dass ausnahmsweise eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit erfolgt. Es geht um Tatbestände der Trennung oder Scheidung der Ehe beziehungsweise des Todes des Ehegatten, falls diese Tatbestände mit sich bringen, dass die andere Person gezwungen ist, eine unselbständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder zu erweitern. Hier gilt nach der Rechtsprechung, dass die Auflösung des Konkubinats nicht zu den Befreiungstatbeständen zählt. 25
Im zweiten Punkt gelten Besonderheiten, wenn diejenige Person, welche Leistungen der Arbeitslosenversicherung beansprucht, eine sogenannte arbeitgeberähnliche Stellung hat (etwa: Einpersonen-AG oder Gesellschafter einer GmbH). Hier gilt, dass – trotz entrichteten ALV-Beiträgen – keine ALV-Entschädigungen gewährt werden.26 Davon wird nur in engstem Rahmen abgewichen. Massgebend für ein Abweichen ist ein Sachverhalt, in welchem die betreffende Person unabhängig von der arbeitgeberähnlichen Stellung des Ehegatten unfreiwillig arbeitslos geworden ist.27
Keine Ausnahme vom fehlenden Anspruch auf die Entschädigung gibt es bei (auch) definitiv zerrütteter Ehe. Es ist also nicht entscheidend, ob mit zunehmender Dauer des Getrenntlebens von Ehepartnern das Missbrauchsrisiko überhaupt verringert  wird oder wegfällt. Es kann nicht Aufgabe der Arbeitslosenkasse sein, abzuklären, aus welchen Gründen ein Ehepaar getrennt lebt, ob die Ehe möglicherweise zerrüttet ist oder wie die Chancen für eine Aufgabe des Getrenntlebens stehen.28
3.7 Koordination der Leistungen
Aus dem weiten Bereich der leistungsrechtlichen Koordination im Sozialversicherungsrecht sei auf die Regelung von Art. 69 Abs. 2 ATSG hingewiesen. Hier wird festgelegt, dass die Überentschädigungsgrenze unter allfälliger Berücksichtigung des Einkommensausfalls von Angehörigen festgelegt werden muss. Hier kann also ins Gewicht fallen, ob eine angehörige Person die Erwerbstätigkeit beim Eintritt eines versicherten Risikos ganz oder teilweise einstellt.
Bei den Angehörigen muss ein tatsächlicher Einkommensausfall bestehen. Arbeitsleistungen von Angehörigen ohne einen konnexen Einkommensausfall können insoweit nicht berücksichtigt werden.29
Zwischen dem Versicherungsfall und den Einkommenseinbussen muss ein Kausalzusammenhang bestehen. Dabei wird beispielsweise abzuklären sein, ob der Versicherungsfall beziehungsweise seine Folgen den Angehörigen objektiv daran hindern, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und ob der Angehörige subjektiv entschieden hat, wegen dieser Hinderung eine Erwerbstätigkeit nicht auszuüben. Soweit sozialversicherungsrechtliche Leistungen Einkommenseinbussen bereits abdecken oder die infrage stehende Arbeitsleistung entschädigen (etwa Hilflosenentschädigungen), kann eine Berücksichtigung der Einkommenseinbusse im Rahmen der Überentschädigungsberechnung nicht erneut erfolgen.
Indem die Gesetzgebung in Art. 69 Abs. 2 ATSG eine weite Formulierung gewählt hat und in den Gesetzesberatungen auch Lebenspartnerinnen und ‑partner als Beispiele genannt wurden, wird erkennbar, dass der Begriff des Angehörigen offen zu verstehen ist. Die Angehörigkeit kann sich mithin aus einer familienrechtlichen Beziehung oder aus einer sonstigen Nähe – insbesondere aus dem gemeinsamen Haushalt beziehungsweise einer Lebensgemeinschaft – ergeben.
Art. 69 ATSG hat faktisch vor allem eine Bedeutung beim Zusammenfallen von UV-Taggeld und IV-Rente. Das folgende Beispiel zeigt das Vorgehen in rechnerischer Hinsicht:
Schritt 1: Zusammenstellen der beanspruchbaren Leistungen. Ein Versicherter erhält von der Invalidenversicherung eine Rente von total 51 192 Franken im Jahr (inklusive Kinderrenten).
Bei der Unfallversicherung beträgt sein versicherter Lohn 100 000 Franken. Der Versicherte ist 100 Prozent arbeitsunfähig. Er bekommt ein Suva-Taggeld von 80 000 Franken. X kann somit insgesamt 131 192 Franken beanspruchen.
Schritt 2: Bestimmen der Überentschädigungsgrenze nach Art. 69 Abs. 2 ATSG. Wegen des Unfalls entgeht dem Versicherten ein Verdienst von 100 000 Franken. Die Einkommenseinbusse seiner Ehefrau beträgt 40 000 Franken. Der Versicherte läge damit bei der Grenze von 140 000 Franken. Seine beanspruchbare Leistung ist 131 192 Franken. Somit ist bei ihm keine Überentschädigungskürzung vorzunehmen.
4. Auf Entwicklungen gezielter eingehen
Patchworkfamilien stellen ein Beispiel dar für soziale Entwicklungen, die grosse praktische Bedeutung erlangt haben. Das Rechtssystem ist gefragt, soweit die Zielsetzungen des betreffenden Rechtszweiges es gebieten, normierend zu steuern beziehungsweise zu schützen.
Im Vergleich von Familienrecht und Sozialversicherungsrecht ergeben sich dabei Berührungspunkte, weil beide Rechtszweige – neben anderen Zielsetzungen – einen bestimmten sozialen Schutz gewähren wollen. Daneben bestehen allerdings auch je eigene Zielsetzungen, weshalb nicht zwingend gleichlaufende Entwicklungen der beiden Rechtsgebiete bestehen.
Das Sozialversicherungsrecht hat bislang sehr wenig auf neue Familienformen reagiert, doch erscheint es als notwendig, auf bestimmte Entwicklungen gezielter einzugehen und bestimmte Regelungen neu zu schaffen oder im Vergleich zum bestehenden Recht neu zu fassen.
BGE 116 V 179, E. 2.
BGE 125 V 214.
BGE 125 V 217 f.
Art. 29sexies Abs. 1 AHVG.
Art. 52fbis AHVV.
Art. 4 Abs. 1 lit. c FamZG.
Art. 5 FamZV.
BGE 103 V 55.
BGE 122 V 129.
Vgl. BGE 122 V 129 ff.
BGE 122 V 183 ff.
Vgl. www.bsv.admin.ch.
Vgl. etwa Art. 276 f. ZGB und dazu BGE 134 V 16 f.; zur Abgrenzung von der Unterstützungspflicht vgl. SVR 1994 IV Nr. 9.
Vgl. BBl 1999 4712: «bereits eine Fürsorgeabhängigkeit»; anders BGE 101 V 20.
Vgl. zu diesem Kriterium auch BGE 106 V 155 f.
Vgl. BBl 1999 4796.
Vgl. etwa die Anwendungsbeschränkung in Art. 1 Abs. 2 lit. b ATSV.
Vgl. BGE 119 V 430.
Vgl. BGE 136 V 127.
Dazu BGE 142 V 233.
Vgl. dazu BGE 137 V 383. Für ein Anwendungsbeispiel vgl. BGE 137 V 105.
BGE 144 V 327, E. 4.1 und 4.2 (Beantwortung der offen gelassenen Frage in BGer 9C_284/2015 vom 22.4.2016, E. 3., nicht publ. in: BGE 142 V 233, aber in: SVR 2016 BVG Nr. 33, S. 135).
BGE 135 V 80. Damit werden beim bisherigen Bezug einer Witwen-/Witwerrente Gestaltungsmöglichkeiten erschlossen; der Anspruch kann begründet werden, wenn an die Stelle einer Vorsorgeeinrichtung eine Freizügigkeitseinrichtung tritt.
BGE 140 V 50, E. 3.4.
BGE 137 V 133.
BGE 123 V 234.
BGer 8C_837/2017 vom 16.4.2018.
BGer 8C_639/2015 vom 6.4.2016, E. 5.2.2.
SVR 2013 KV Nr. 3, BGer 9C_43/2012 vom 12.7.2012, E 4.2.
Literaturhinweise
Cornelia Döbeli, Wie Patchworkfamilien funktionieren, Zürich 2013.
Heinz Hausheer, «Normen mit Verfassungsrang als prägende Gestaltungsfaktoren des Familienlebens bzw. des Familienrechts», in: ZBJV 2015, S. 303 ff.
Susanne Kappler / Tobias Kappler, Handbuch Patchworkfamilie, 2. Auflage, Bonn 2018.
Ueli Kieser, «Familienrecht und Sozialversicherungsrecht – eine Skizze», in: Brücken bauen – Festschrift für Thomas Koller, Bern 2018, S. 375 ff.
Daniela Klöti, Das schweizerische Pflichtteilsrecht im Spannungsfeld sich wandelnder Näheverhältnisse, Bern 2014.
Annkatrin Looser, «Der Familienbegriff im Sozialversicherungsrecht», in: FamPra.ch 2013, S. 596 ff.
Thurid Neumann, «Patchworkfamilie: Rechtliche Probleme der Patchwork-Familie», in: Familienrecht kompakt 9/2014 vom 20.8.2014, S. 158
Anne Sanders, Mehrelternschaft, Tübingen 2018.
Ingeborg Schwenzer, «Familienrecht und gesellschaftliche Veränderungen», in: FamPra.ch 2014, S. 966 ff.