Die Regelung in der Strafprozessordnung (StPO) ist klar: «Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen», so wörtlich Artikel 3 Absatz 1 StPO. Insbesondere sei es verboten, «bei der Beweiserhebung Methoden anzuwenden, welche die Menschenwürde verletzen». Nach Artikel 10 Absatz 1 StPO «gilt jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig».
In der Realität sieht es häufig anders aus. Drei Beispiele:
Der Fall Jonas Jossen
Der Walliser Student Jonas Jossen will am 29. März 2014 in Bern seinem Bruder beim Zügeln helfen. Als er in Bern ankommt, gleicht die Stadt einer Polizeifestung (siehe Bild). Grund: eine abgesagte Demonstration gegen «Kuscheljustiz» und eine angekündigte Gegendemonstration. Innert kürzester Zeit wird Jossen dreimal von der Polizei einer Personenkontrolle unterzogen: Er muss die Taschen leeren und seine ID zeigen. Zweimal lässt man ihn laufen, beim dritten Mal bindet ihm die Polizei die Hände auf dem Rücken zusammen. Man spediert ihn in einen Gefangenentransporter. Nach mehreren Checks und einem Ganzkörperfoto schliesst ihn die Polizei mit andern jungen Männern in einen «zooartigen Käfig mit einer Toi-Toi-Toilette». Dort muss Jossen vier Stunden ausharren: «Nach einem kurzen Gespräch, bei dem sie mir sagten, dass sie nichts über mich gefunden hatten, liessen sie mich gehen.»
- Das sagt der Experte: Der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy ist der Ansicht, es sei unverhältnismässig und damit rechtswidrig, einem Unschuldigen zur Überprüfung der Identität die Hände auf den Rücken zu binden: «Wenn Jossen die ID gezeigt hat, gibt es keinen Grund, ihn mitzunehmen, und schon gar nicht auf diese Weise.» Auch habe es keinen Grund gegeben, Jossen vier Stunden festzuhalten: «Die Polizei hätte ihn nach der Identitätskontrolle wieder gehen lassen müssen.»
- Das sagt die Strafbehörde: Laut Christoph Gnägi, Mediensprecher der Kantonspolizei Bern, werden angehaltene Personen «aus Sicherheitsgründen grundsätzlich gefesselt transportiert».
Der Fall Daniel Saladin
Am 7. Juli 2009 klingelt bei Daniel Saladin frühmorgens die Hausglocke. Vor der Tür steht Staatsanwältin Patricia Brunner, eskortiert von Polizisten. Sie zeigt Saladin einen Hausdurchsuchungsbefehl. Der Vorwurf: Saladin habe als Lehrer Minderjährigen Pornografie zugänglich gemacht. Die Polizisten durchwühlen seine Wohnung. Als Saladin pinkeln muss, schauen ihm Polizisten zu. Dann führen sie ihn ab.
Zur Zeit der Hausdurchsuchung war Saladin Deutschlehrer an einem Gymnasium in Zürich. Mit seinen 14- und 15-jährigen Schülern hatte er Werke der Weltliteratur gelesen, etwa «Frühlings Erwachen» von Frank Wedekind. Diese werden nun zum Corpus Delicti. Eine Mutter erstattete nämlich bei der Polizei Anzeige: Saladins Unterricht sei für Minderjährige zu sexualisiert.
Diese Beschuldigung führte direkt zur Hausdurchsuchung, ohne dass die Staatsanwältin weiter ermittelt hätte. In allen Punkten, die den Unterricht betreffen, ist Saladin schliesslich freigesprochen worden, die diesbezüglichen Vorwürfe erwiesen sich vor Bezirksgericht als haltlos.
- Das sagen die Experten: Der Zürcher Rechtsanwalt Lorenz Erni hält fest: «Ob ein Polizist einem Beschuldigten anlässlich einer Hausdurchsuchung beim Pinkeln zusehen muss, ist eine Frage der Verhältnismässigkeit.» In solchen Fällen sei eine Interessensabwägung vorzunehmen. Viktor Györffy pflichtet seinem Kollegen bei und betont: «Im konkreten Fall hat es keinen Grund gegeben, den Beschuldigten beim Pinkeln zu überwachen.»
- Das sagen die Strafbehörden: Werner Schaub, Mediensprecher der Kantonspolizei Zürich, sagt: «Verhaftungen von Beschuldigten und Hausdurchsuchungen werden stets im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen durchgeführt.» Staatsanwältin Patricia Brunner wollte sich nicht äussern.
Der Fall Iris Ritzmann
Bei Iris Ritzmann stehen im November 2012 frühmorgens Staatsanwalt Andrej Gnehm und sechs bewaffnete Polizisten mit einem Hausdurchsuchungsbefehl vor der Tür. Der damaligen Titularprofessorin an der Uni Zürich wird vorgeworfen, das Amtsgeheimnis verletzt zu haben, indem sie dem «Tages-Anzeiger» vertrauliche Informationen über die Tätigkeit ihres Arbeitskollegen Christoph Mörgeli gesteckt habe. Bei der Hausdurchsuchung dürfen weder Ritzmann noch ihr Ehemann die beiden Kinder wecken. Das übernimmt eine Polizistin.
Iris Ritzmann muss wegen Verdunkelungsgefahr eine Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Bei der Einvernahme setzt Staatsanwalt Gnehm Ritzmann unter Druck: Er werde die Auswertung ihres Mailverkehrs am nächsten Tag erhalten. Die Frage sei, ob sie ihm bereits jetzt sagen wolle, was in den Mails zu lesen sei, oder ob sie eine Nacht in Haft verbringen und ihre Kinder allein lassen wolle.
- Das sagen die Experten: Für Györffy ist es «unverhältnismässig und damit rechtswidrig», dass Professorin Ritzmann ihre Kinder nicht selbst habe wecken dürfen. Diese Massnahme betreffe auch direkt die Kinder, die offensichtlich unschuldig und psychisch empfindlicher seien als Erwachsene. Auch Erni findet diesen Vorfall «absolut stossend». Er sagt: «Dies hat nichts mit der Sicherstellung der polizeilichen Arbeit zun tun. Durch eine völlig fremde Person im eigenen Bett geweckt zu werden, ist für jedermann ein Schock, erst recht für Kinder.» Es hätte genügt, wenn ein Polizist unter dem Türrahmen gestanden wäre.
Gnehm hat gemäss Györffy klar einen unzulässigen Druckversuch unternommen, als er Ritzmann mittels Drohung dazu bringen wollte, ihm zu sagen, was in den Mails stand. Györffy: «Es gilt der Grundsatz, dass einem Angeschuldigten das Aussageverweigerungsrecht zusteht und er sich nicht selbst belasten muss. Die Drohung des Staatsanwalts zielt aber darauf ab, dass die Angeschuldigte diese Rechte nicht wahrnimmt.» Im Ergebnis habe der Staatsanwalt Ritzmann daher Beugehaft angedroht.
- Das sagen die Strafbehörden: Staatsanwalt Gnehm wollte sich nicht äussern. Pikant ist die Stellungnahme der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft. Sprecherin Corinne Bouvard sagt zum Vorwurf der Drohung: «In Artikel 3 StPO, welcher durch Artikel 140 StPO konkretisiert wird, steht, was an Einvernahmen zulässig ist.» Der von ihr erwähnte Artikel 140 StPO besagt , dass Drohungen bei der Beweiserhebung untersagt sind.