plädoyer: In Ihrer Abschiedsvorlesung an der Universität Basel haben Sie den Strafrichtern vorgeworfen, sie würden sich «vom Recht entfernen». Ein harter Vorwurf. Wie waren die Reaktionen?
Albrecht: Ich habe fast nur positive Feedbacks erhalten. Die Unzufriedenen haben die Vorlesung als «interessant» bezeichnet – oder noch häufiger einfach dazu geschwiegen. Als der Text dann in der «Zeitschrift für Strafrecht» publiziert wurde, erhielt ich ebenfalls vorwiegend zustimmende Reaktionen. Inhaltliche Kritik an einzelnen Aussagen gab es kaum.
Sie diagnostizieren bei den Richtern «ein Desinteresse am Recht». Wie kommen Sie darauf? Richter verstehen sich doch als Rechtsanwender. Ich bin mir bewusst, dass ich viele Strafrichter und -richterinnen mit meinen Äusserungen irritiert habe. Trotzdem halte ich an meiner Kritik fest. Denn es geht grundsätzlich um die Frage, wie die Gerichte mit der Strafgesetzgebung umgehen. Dazu meine ich: Die Gesetze werden oft einseitig politisch interpretiert, in einem autoritären Sinn. Das entspricht dem aktuellen Zeitgeist, der dazu tendiert, zentrale Prinzipien des Strafrechts wie beispielsweise die Verhältnismässigkeit oder das Schuldprinzip auszuhebeln und die individuelle Freiheit der beschuldigten Personen zu missachten.
Was verstehen Sie unter «Zeitgeist»? Die politische Haltung der Bevölkerung oder der publizierten Meinungen?
Beides. Konkret: Ich stelle in der Strafjustiz heute viel mehr Vergeltungs- und Sicherheitsdenken fest als früher. Offenkundig fehlt es dort am Mut, den liberalen Gehalt unserer Rechtsordnung zu verteidigen. Eine negative Rolle spielen dabei gewisse Medien, deren Gedankengut von den Gerichten teilweise leichtfertig übernommen wird.
Sie wirkten rund 25 Jahre am Basler Strafgericht. Stellten Sie dort beim Vergeltungs- und Sicherheitsdenken einen Generationenkonflikt fest?
Nein. Ich habe seit längerer Zeit bemerkt, dass sich das Denken der Mitglieder der Gerichte generell verändert. Für mich war es schon damals eine Überraschung am Gericht, dass ich von jüngeren nie «links überholt» wurde. Ich war sehr erstaunt, wie schnell sich junge Leute unkritisch dem Justizbetrieb anpassten.
Warum hat sich das Denken der Strafrichter in letzter Zeit so stark verändert, obwohl die Kriminalität in der Schweiz niedrig ist und nicht zugenommen hat?
In der Bevölkerung haben hinsichtlich der Kriminalität die Sensibilität und die Angst zugenommen. Und die Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten nahm deutlich ab. Das hängt sicher auch mit der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Situation zusammen, also auch mit der sozialen Unsicherheit des Individuums. Die ungewisse Zukunft löst in der Bevölkerung mehr Ängste aus als früher.
Die Leute haben auch Angst vor Minaretten, obwohl es in der Schweiz praktisch keine gibt. Was steckt dahinter?
Es ist sicher so, dass es politische Strömungen gibt, die solche Themen aufgreifen und bewirtschaften. Den Grund für die eigene Unzufriedenheit sieht man gerne bei den Ausländern, die sich als Sündenböcke eignen. Diese Ausländerfeindlichkeit ist auch in den Gerichten stark vertreten. Sie sind ein Spiegel der Gesellschaft.
Sind die Strafrichter wirklich so anfällig auf den Zeitgeist? Sind Richter nicht eher Personen, die über den aktuellen Entwicklungen stehen? Und weise Entscheide fällen – unabhängig vom konkreten Druck der Gesellschaft oder der Medien?
Das ist ein sehr idealistisches Richterbild, das in der Regel nicht der Wirklichkeit entspricht. Trotzdem: Tendenziell habe ich in die Justiz mehr Vertrauen als in das Parlament. Aus meiner Sicht arbeiten die Gerichte zumeist reflektierter. Aber ich musste in den vergangenen Jahren trotzdem lernen, dass auch Richterinnen und Richter anfällig sind auf politischen Druck.
Sie sprachen in Ihrer Abschiedsvorlesung auch von einem «hartnäckigen Widerstand» der Richter gegenüber dem Recht.
Zwischen einem Anpassen an gewisse Zeitströmungen und einem hartnäckigen Widerstand gegenüber dem Recht liegt aber ein grosser Unterschied. Beim einen lässt man sich mit dem Mainstream treiben. Widerstand muss man nur leisten, wenn man gegen die Strömung schwimmt. Wir haben hier aber den Fall, dass sich der Mainstream gegen das Recht wendet. Das zeigt sich beispielsweise auf der Gesetzesebene. Hier wird uns ein starker Widerstand der Legislative gegen wichtige Rechtsprinzipien vor Augen geführt. Man setzt sich beim Erlass neuer Bestimmungen zum Teil bewusst über die Verfassung hinweg. Beispiel: Einwanderungsinitiative, Pädophilieinitiative, Verwahrungsinitiative usw. Ähnlich verhält es sich auch auf der Ebene der Gesetzesanwendung, indem die Gerichte gesetzliche Normen oder Rechtsprinzipien, die ihnen im konkreten Fall nicht passen, zuweilen einfach ignorieren. Beispiel: die Grundsätze der Unschuldsvermutung oder der Verhältnismässigkeit bei der Anordnung von prozessualen Zwangsmassnahmen.
Der richterliche Spielraum – etwa bei den Sanktionen – wird durch den Gesetzgeber immer mehr eingeschränkt. Warum wehren sich die Richter nicht gegen solche Einschränkungen?
Das ist für mich ein Rätsel. Wahrscheinlich hängt das mit einem unreflektierten richterlichen Rollenverständnis und vor allem mit der grossen Arbeitsbelastung zusammen. Salopp gesagt: Man ist um jeden Fall froh, den man vom Tisch hat.
Die Richter sind in den gleichen Parteien organisiert wie die Volksvertreter in Bern. Trotzdem erlässt das Parlament eine Strafprozessordnung, die von Richtern heftig kritisiert wird. Auch Sie sprechen von der «Entmachtung der Richter», vom «kurzen Prozess». Haben sich die Richter nicht um die neue Strafprozessordnung gekümmert?
Die meisten Richterinnen und Richter waren mit den beschlossenen Verfahrensvereinfachungen durchaus einverstanden. Die Ausweitung der Strafbefehlskompetenz der Staatsanwaltschaft bis zu sechs Monaten hat die Arbeitsbelastung für die Gerichte stark reduziert. Allein dieser Effekt wog wohl schwerer als alle rechtsstaatlichen Bedenken gegenüber dem Schnellverfahren.
Verstehen wir Sie richtig: Dass jetzt 90 Prozent der Straffälle im Strafbefehlsverfahren erledigt werden, finden die Richter zwar nicht gut, aber sie begrüssen es aus ihrer persönlichen Arbeitssituation heraus?
Ja, hier spielt eine wesentliche Rolle die Erwägung, dass man sich gegen einen Strafbefehl wehren kann, wenn man damit nicht einverstanden ist. Das ist das klassische Argument. Die Praxis für die Betroffenen sieht indes anders aus: Viele Beschuldigte reagieren relativ hilflos gegenüber einem solchen schriftlichen Bescheid. Sie verstehen ihn oft nicht einmal, selbst wenn sie der deutschen Sprache mächtig sind. Das Problem der speziellen Juristensprache darf man nicht unterschätzen.
Ihre Kritik geht auch Richtung Bern. Dort seien «viele ehrgeizige Architekten» auf der Baustelle Strafrecht tätig. Ihre Hauptvorwürfe?
Wenn soziale Probleme im öffentlichen Bewusstsein auftauchen, werden sofort neue Gesetzesbestimmungen erlassen. Die Pädophilieinitiative ist dafür ein gutes Beispiel. Die Initiative wurde eingereicht. Dies löste im Parlament Ängste aus, weil man ein hartes Vorgehen gegen Pädophile als sehr populär einschätzte. Also erliess man ein Gesetz mit Tätigkeits- und Rayonverboten – als Ergänzung zum Strafgesetzbuch. Der Erlass wird nächstes Jahr in Kraft treten. Es sind sieben Textseiten Gesetz zu diesem einzigen Problem. Das ist der Sache nicht angemessen. Als weiteres Beispiel ist die revidierte Fassung des Allgemeinen Teils des Sanktionenrechts zu nennen. Nach jahrelangem Feilschen wurde das Gesetz im Jahr 2007 in Kraft gesetzt. Es wird jetzt bereits wieder revidiert – ohne seriöse Evaluation, einfach nur deswegen, weil gewisse Strafverfolgungs- und Justizbehörden Druck ausübten. Zentrales Thema war dabei die bedingte Geldstrafe. Das hat man als Anlass genommen, um die Rechtsentwicklung zurückzudrehen. Und jetzt kommt man wieder mit kurzen Freiheitsstrafen.
Wir haben in Bern, Freiburg, Basel, Zürich und Lausanne Universitäten mit anerkannten Strafrechtlern. Finden diese Universitätslehrer in Bundesbern kein Gehör?
Vor kurzem besprachen wir das Problem an einer schweizerischen Strafrechtslehrtagung. Fazit: Wir gehen wahrscheinlich zu wenig entschlossen an die Öffentlichkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass auch unter den Professorinnen und Professoren zu vielen Fragen keine einheitliche Meinung besteht. Es gibt eben auch dort unterschiedliche politische Haltungen. Das Ergebnis davon ist die Tatsache, dass in der Strafgesetzgebung der Bedarf an wissenschaftlicher Beratung offenbar immer kleiner wird.
Viele neue Gesetze, weniger Reflexion – steigert das die Qualität der Gesetzgebung?
Nein, sicher nicht.
Widerspricht diese Entwicklung nicht dem liberalen Staatsverständnis?
Die Frage ist, was man darunter versteht. Parteien, die den Begriff «liberal» im Namen führen, meinen in der Regel Wirtschaftsliberalismus und nicht Freiheitsschutz für beschuldigte Personen gegenüber dem strafenden Staat.
Sie sprachen in ihrer Abschiedsvorlesung von einem repressiv-autoritären Staatsverständnis. Ist das ein Vorwurf an das Parlament oder an die Justiz?
Den Vorwurf habe ich gegenüber beiden Instanzen erhoben. Immer mehr Strafgesetze, immer strengere Strafgesetze – es geht also um eine Ausweitung und Verschärfung. Die Justiz macht hier bereitwillig mit. Beispielsweise bei der Betäubungsmitteldelinquenz. Hier hatten wir während einer gewissen Zeit eine liberalere Praxis, auch beim Bundesgericht. Jetzt stelle ich eine Verschärfung fest. Das Strafmass wird hier generell wieder höher. Auch bei Vermögensdelikten – etwa Einbruchdiebstählen – will man strenger strafen. Wenn Grossbanken im Verdacht stehen, den Liborzins manipuliert zu haben, was auf gewerbsmässigen Betrug hinauslaufen könnte, hat man nicht das Gefühl einer Verschärfung. Es gibt nicht einmal eine Strafuntersuchung. Das Strafrecht trifft, wie ja hinlänglich bekannt ist, eben nicht alle gleich. Es gibt seit je Kategorien von Delinquenten, die sich schon immer besser wehren konnten als andere. Meine Feststellung von Strafverschärfungstendenzen bezieht sich auf die Alltagsfälle, die von der Justiz bearbeitet werden.
Ihr Kernvorwurf ist, dass sich das Recht aus dem Strafrecht entfernt. Wieso entfernt sich das Recht vom Strafrecht, wenn die Richter nur das vollziehen, was der Gesetzgeber in Bern beschlossen hat?
Der Gesetzgeber liefert als Gesetz ein Rohprodukt, das auf den einzelnen Fall angewendet werden muss. Bei diesem Konkretisierungsakt zeigt sich dann, wo man den Schwerpunkt legen will. Und hier habe ich den Eindruck, dass die Praxis elementare Rechtsprinzipien wie den Schuldgrundsatz oder die Verhältnismässigkeit zugunsten der Vergeltung und Prävention oft aus den Augen verliert.
Wo konkret herrscht bei Strafrichtern heute Masslosigkeit?
Ein sehr heikler Bereich ist zum Beispiel die Untersuchungshaft. Man verhängt heute bedenkenlos markant längere Untersuchungshaft als früher. Das widerspricht teilweise krass dem Grundsatz der Unschuldsvermutung. Hier wäre deutlich mehr Zurückhaltung nötig.
Werden im Strafprozess neben der zunehmenden U-Haft auch andere Zwangsmassnahmen vermehrt angeordnet?
Ja, das ist so. Abgesehen davon herrscht heute eine gewisse Masslosigkeit auch bei der Anordnung von freiheitsentziehenden strafrechtlichen Massnahmen. Dies gilt insbesondere für die drastische Sanktion der «kleinen Verwahrung», wie man sie verniedlichend bezeichnet. Der Anwendungsbereich dieser Massnahme hat sich in letzter Zeit erheblich ausgeweitet.
Wie sehen Sie die weitere Entwicklung? Kommt bald ein Umschwung?
Diese Frage stelle ich mir seit Jahren. Ich hoffte immer wieder, dass es zu einem Umschwung kommen würde. Davon kann aber im Moment keine Rede sein. Ich bin nicht optimistisch. Ich weiss nicht, ob ich eine positive Wende noch erleben werde.
Das heisst für die Zukunft: mehr neue Gesetze, mehr Ausgrenzung und mehr Steuergelder für Gefängnisse?
Ja, das ist leider so. Es sieht nicht so aus, als ob in unmittelbarer Zukunft das Verantwortungsbewusstsein der Strafgesetzgebung und der Justiz gegenüber der Rechtsidee rasch ansteigen wird. Was mich zusätzlich bedrückt, ist der universitäre Lehrbetrieb. Wenn ich ehemalige Studierende von mir in Aktion sehe, sei es in der Politik oder am Gericht, bin ich nicht nur erfreut. Dann frage ich mich schon ab und zu, was ich als Dozent eigentlich falsch gemacht habe.
Liegt es an der fehlenden Vermittlung von rechtsstaatlichen Grundsätzen?
Ich glaube, die jungen Leute werden nach ihrem Studium sehr stark durch die Praxis geprägt und teilweise auch verdorben. Die Wirkung der Macht auf eine Person darf man ebenfalls nicht unterschätzen. Sobald gewisse Leute etwas Macht bekommen, sieht man, dass diese Macht auch leicht korrumpieren kann.
Ist denn die Ausbildung zu sehr oder zu wenig fallbezogen?
Die im Unterricht diskutierten Fälle sind regelmässig konstruiert. Beweisfragen werden ausgeklammert. Der Sachverhalt ist immer schon klar. In der Praxis hingegen ist die Herstellung des relevanten Sachverhalts die zentrale Aufgabe. Ausserdem: Strafzumessung ist an der Uni nur selten ein Thema. Hier könnte man in der Lehre mehr leisten und mehr mit Praktikern zusammenarbeiten. Damit würde man die Sensibilität bei den Studierenden für die Beweisfragen und die strafrechtlichen Sanktionen stärken.
Was geben Sie den Studenten in Ihrer Vorlesung für das Leben mit?
Den Ratschlag, sich durch die Praxis nicht entmutigen zu lassen und ein kritisches Bewusstsein hinsichtlich der freiheitsbedrohenden Risiken der Strafjustiz zu behalten. Die Tätigkeit in einer Strafbehörde, sei es als Staatsanwalt oder als Richterin, sollte man stets massvoll ausüben. Daran mangelt es aber derzeit leider allzu oft.
Peter Albrecht, 68, Dr. iur., war von 1978 bis 2002 Gerichtspräsident am Strafgericht Basel-Stadt. Zugleich lehrte er als Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Basel (bis Mitte 2013). Heute liest er noch an der Universität Bern zum Sanktionenrecht und Betäubungsmittelstrafrecht.