Erstmals fällte das Bundesgericht im Herbst 2019 einen Leitentscheid zur automatisierten Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV). Es zog in Betracht, dass diese Technik «die serielle und simultane Verarbeitung grosser und komplexer Datensätze innert Sekundenbruchteilen» ermögliche und aufgrund der Automatisierung das Ausmass einer gewöhnlichen verkehrstechnischen Informationsbeschaffung übersteige.
Damit liege ein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf Privatsphäre vor (Artikel 13 BV). Deshalb sei für den Einsatz eines AFV-Systems zwingend eine formellgesetzliche Grundlage erforderlich (BGE 146 I 11).
Drei Jahre später entschied es in einem weiteren Fall, die AFV dürfe nur «dem Schutz von Rechtsgütern oder öffentlichen Interessen von erheblichem Gewicht dienen». An die «Verhältnismässigkeit automatisierter Abläufe, die eine unbestimmte Vielzahl von Personen betreffen, die keinerlei Anlass zu einer Kontrolle gegeben haben», sei ein strengerer Massstab anzulegen (BGE 149 I 218).
Dies führte zur Aufhebung einer Bestimmung im solothurnischen Polizeirecht, die einen Abgleich von erfassten AFV-Kontrollschilddaten mit sämtlichen Polizei- und Sachfahndungsregistern ermöglicht hätte.
Mitte Oktober fällte das Bundesgericht ein weiteres, zur Publikation vorgesehenes Urteil, worin es mehrere Bestimmungen des Luzerner Polizeigesetzes aufhob. In Bezug auf die AFV hielt es deutlich fest, dass ein schwerer Grundrechtseingriff vorliege, «wenn massenhaft Daten erhoben und automatisch mit anderen Datensammlungen abgeglichen werden, wobei der Eingriff weder anlassbezogen noch aufgrund eines konkreten Verdachts erfolgt» (BGer 1C_63/2023 vom 17. Oktober 2024).
Keine Kameras zur Ahndung von Bagatelldelikten
Aufgrund dieser klaren Aussagen des Bundesgerichts steht fest, dass ein automatischer und ohne konkreten Verdacht erfolgender Datenabgleich immer einen schweren Grundrechtseingriff darstellt und damit auch immer einer formellgesetzlichen und damit referendumsfähigen Grundlage bedarf.
Auch ist ein Einsatz von automatisierter Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung nicht für jede Bagatelle zulässig, sondern nur zum Schutz gewichtiger Rechtsgüter und bei erheblichem öffentlichem Interesse. Dies müsste den AFV-Einsatz zur Verhinderung oder Aufklärung von Übertretungen an sich ausschliessen.
Die Realität sieht allerdings anders aus. Zum Beispiel in der Stadt Zürich. Hier setzt die Stadtpolizei automatische Kontrollschild-Erkennungskameras zur Kontrolle von Fahrverboten mit Zubringererlaubnis ein – einem Delikt mit Strafandrohung von 100 Franken Ordnungsbusse.
Laut Thomas Aegerter, Chef der stadtpolizeilichen Verkehrskontrollabteilung, ist an der Einmündung Münzplatz/Bahnhofstrasse eine sogenannte Catchcam-Kontrollschild-Erkennungskamera der Firma Bredar im Einsatz. Er hält die bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht für anwendbar, auch nicht das Urteil ST.2021.39 des Bezirksgerichts Baden AG, das vor drei Jahren eine Kontrollschild-Erkennungskamera mit genau gleicher Funktionsweise wie in Zürich als AFV-Technologie qualifiziert und für unzulässig erklärt hatte.
«Das Urteil aus dem Aargau erachten wir aufgrund des Territorialitätsprinzips und der Tatsache, dass sich dieses teilweise auf kantonales Recht stützt, als für die Stadtpolizei Zürich nicht anwendbar», so Aegerter. Das Urteil sei zudem falsch, da es zwischen automatischer Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung auf der einen und automatischer Zufahrtskontrolle auf der anderen Seite erhebliche Unterschiede gebe, die vom Bezirksgericht Baden nicht berücksichtigt worden seien.
Überwachung in Zürich ist unzulässig
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass jeder automatische Abgleich mit anderen Datensammlungen als AFV zu qualifizieren ist und einen schweren Grundrechtseingriff darstellt, der zwingend einer formellgesetzlichen Grundlage bedarf.
Ob der Abgleich im konkreten Einzelfall mit einer oder mehreren Datensammlungen erfolgt, ist unerheblich, da es sich stets um eine automatisierte simultane und serielle Datenverarbeitung innert Sekundenbruchteilen handelt und bereits die Führung einer Kontrollschilderliste mit den für einen bestimmten Ort Zufahrtsberechtigten einen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre darstellt.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement und das Eidgenössische Institut für Metrologie hatten schon 2020 den Verzicht auf eine Revision der Geschwindigkeitsmessmittel-Verordnung damit begründet, dass infolge des BGE 146 I 11 für AFV – und damit auch für automatische Kontrollschild-Erkennungskameras zur Überwachung von Fahrverbotszonen – zwingend eine formellgesetzliche Grundlage nötig sei. Das Polizeigesetz des Kantons Zürich erlaubt übrigens bis anhin gar keinen AFV-Einsatz.