Saland liegt im Zürcher Tösstal. Hier befindet sich der «Techpark», eine Reihe mehrerer Gewerbebauten. In einem der Gebäude sind unter anderem eine Tierklinik und die Naturnah GmbH untergebracht – sowie das Anwaltsbüro von Adriano Marti.
Eine Gewerbezone in Saland ist kein typisches Arbeitsumfeld für einen Rechtsanwalt. Untypisch ist das Büro von Marti (62) auch im Innern: Wie ein Büro sieht es nicht aus, eher wie eine zweigeschossige Wohnung. Mit seiner Partnerin wohnt Marti aber anderswo in der Region.
Auf zwei Etagen verteilt hat es deshalb Platz für eine Besprechungsecke und einen Arbeitsplatz mit juristischer Standardliteratur – aber auch für einen grossen Gong, afrikanische Trommeln und eine Bücherwand mit allerlei Kunst- und Philosophiebüchern.
«Ich stamme aus einem künstlerisch-pädagogischen Umfeld», sagt Marti, der in Küsnacht ZH als Sohn einer Klavier- und Primarlehrerin und eines Sekundarlehrers aufwuchs. Er schlug wie seine Eltern eine Lehrerlaufbahn ein, entschied sich dann aber mit 33 für ein Jusstudium. «Vielleicht auch, um einen Gegenpol zu meiner familiären Prägung zu schaffen», wie Marti sagt.
Das Lizentiat absolvierte er 2001 in Zürich. Am Bezirksgericht Bülach ZH stiess er während seiner Zeit als Auditor zum ersten Mal auf das Thema, das ihn bis heute nicht mehr loslässt: die fürsorgerische Unterbringung. Hinter dem scheinbar unverfänglichen Begriff stehen Zwangsweinweisungen in Psychiatrien und manchmal Zwangsmedikationen. Es sei für ihn einschneidend gewesen, «wie sich die Betroffenen ohne jede Unterstützung durch Rechtsvertreter verteidigen mussten und einer Übermacht von Fachleuten gegenübersassen», sagt Marti.
Im letzten Jahr wurden in der Schweiz 18 367 fürsorgerische Unterbringungen verfügt. Die Zahl ist im internationalen Vergleich hoch. Ein Umstand, der von der Stiftung Pro Mente Sana und von Rechtsanwälten seit Jahren kritisiert wird (plädoyer 5/2021).
Wenige kennen sich im Thema so gut aus wie Marti. Er bearbeitete mehrere Hundert Fälle und erstritt vor Bundesgericht Leitentscheide. Auch am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg war Marti erfolgreich: 2015 hiess dieser eine Beschwerde von ihm gut. Im Kanton Thurgau hatte es nach einer Zwangseinweisung mehrere Monate gedauert, bis Martis Klient einem Richter vorgeführt wurde: ein Verstoss gegen die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
«Jeder Kanton kocht sein eigenes Süppchen»
Ein weiterer Fall von Marti ist in Strassburg seit sechs Jahren pendent: Wieder geht es um den Thurgau. Dort ist die Erwachsenenschutzbehörde nicht nur nach sechs Wochen für die Überprüfung einer fürsorgerischen Unterbringung zuständig, wie das Gesetz es vorsieht. Sie ist auch Beschwerdeinstanz und nimmt damit jene Rolle ein, die in anderen Kantonen erstinstanzlichen Gerichten zukommt. Für Marti eine Verletzung des Rechts auf einen unabhängigen Richter gemäss EMRK.
Das Zivilgesetzbuch regelt bei fürsorgerischen Unterbringungen nur die Grundzüge des Verfahrens. Sobald es konkreter wird, gibt es in der Schweiz grosse Unterschiede. In Basel etwa dürfen nur Ärzte eines Fachteams Zwangseinweisungen anordnen, während dies in Zürich allen zugelassenen Ärzten erlaubt ist. «Jeder Kanton kocht sein eigenes Süppchen», sagt Marti. Es sei stossend, dass ausgerechnet die grundrechtlich heiklen Zwangseinweisungen weitgehend in der Hoheit der Kantone blieben, wo doch vor rund zehn Jahren die Straf- und Zivilprozessordnungen harmonisiert wurden.
Ein weiterer Kritikpunkt: Fürsorgerische Unterbringungen werden oft nicht als Ultima Ratio verfügt, sondern gemäss Marti «sehr breit angewendet». Sein Eindruck: «Man verliert die Freiheit leicht.»
Eine Entlassung gestaltet sich schwieriger. Zwar können Betroffene jederzeit ein Entlassungsgesuch stellen. Die Voraussetzungen würden aber viel genauer geprüft als jene für eine Einweisung. Nur eine Minderheit der Betroffenen sei anwaltlich vertreten. Manche würden erst über andere Eingewiesene oder das Klinikpersonal über die Möglichkeit informiert, dass sie sich an Anwälte wenden können. «Selbst die nackte Rechtsmittelbelehrung ist nach wie vor nicht sichergestellt», sagt Marti.
Trotz des kritischen Blicks: Verteufeln will Marti das Instrument der fürsorgerischen Unterbringung nicht. «Jede Gesellschaft hat ihre Ordnung und Grenzen.» Es gäbe Fälle, in denen es für die verantwortliche Instanz kaum andere Möglichkeiten gäbe, als jemanden in eine Klinik einzuweisen. Und manchmal seien Zwangseinweisungen für die Betroffenen gleichzeitig Warnsignal und milderes Mittel – dann nämlich, wenn strafrechtliche Massnahmen wie die «kleine Verwahrung» nach Artikel 59 StGB im Raum stünden.
«Einfühlungsvermögen und viel Herzblut»
Dieser differenzierte Blick auf das Thema unterscheidet Marti von anderen Anwälten. Insbesondere vom im August verstorbenen Edmund Schönenberger, der als resoluter Kämpfer für die Rechte der Zwangseingewiesenen Pionierarbeit leistete – sich aber auch im Klaren war, dass er «nicht nachvollzogen» werden könne (plädoyer 1/2022). Schönenberger gründete in den 1980er-Jahren den Verein Psychex (später Psychexodus), der für viele Zwangseingewiesene noch heute erste Anlaufstelle ist. Auch Marti ist nach wie vor auf einer Anwaltsliste des Vereins geführt. Mitglied ist er schon länger nicht mehr.
Der St. Galler Anwalt Roger Burges, der ebenfalls Betroffene der Fürsorgerischen Unterbringung vertritt, würde den Verein gerne wiederbeleben – am liebsten gemeinsam mit Marti: «Er verfügt über ein grosses Einfühlungsvermögen und viel Herzblut. Er bleibt an Fällen dran, die andere schon längst aufgegeben hätten.»
Auch als Familien- und Teamcoach tätig
Marti hat als Anwalt auch andere Schwerpunkte. Zu diesen gehören neben dem Erwachsenenschutzrecht unter anderem das Straf- und das Strafprozessrecht. Mehrfach vertrat er auch Betroffene und ihre Angehörigen in Verfahren gegen Klinikverantwortliche. Es ging um widerrechtliche Isolation, Zwangs-medikation, einen sexuellen Übergriff oder einen plötzlichen Todesfall während einer Behandlung.Und er bietet Dienstleistungen als Coach an, unter anderem bei Familien- und Teamkonflikten.
Auch die Work-Life-Balance ist Marti wichtig: Er ist Mitglied in einem Singkreis und tanzt gerne. Seine künstlerische Prägung kam ihm offensichtlich auch nach Jahren harter juristischer Kost nicht abhanden.