Das schweizerische Anwaltsgesetz schreibt für die Zulassung zur Anwaltsprüfung ein Praktikum von mindestens einem Jahr Dauer vor. Die nähere Regulierung ist den Kantonen vorbehalten.
Eine grosse Mehrheit der Kantone beschränkt die Praktikumsdauer auf die vom Bundesrecht vorgegebenen zwölf Monate.
So auch der Kanton Solothurn. Von den zwölf Monaten muss ein Jurist sechs Monate bei einer Anwaltskanzlei und sechs Monate bei einem solothurnischen Gericht oder bei der Staatsanwaltschaft absolvieren. In der juristischen Prüfungsverordnung von Solothurn steht jedoch, dass Abwesenheiten wegen Militär, Zivilschutz, Krankheit, Ferien usw. nicht an die Dauer des Praktikums angerechnet werden. Sämtliche Absenzen müssen also während dieser zwölf Monate nachgeholt werden. Eine kurzfristige Verlängerung wegen Krankheit oder anderen Absenzen ist in Solothurn nicht möglich. Ferien gibt es nicht.
Solothurner Praktikant geht vor Bundesgericht
Der Kanton praktiziert diese Regeln derart strikt, dass Probleme entstehen: Als der Jurist Camill Droll 2017 als Auditor sein sechsmonatiges Praktikum beim Richteramt Dorneck-Thierstein absolvierte, wurde er für zwei Tage in den Zivilschutz aufgeboten. Diese beiden Tage musste Droll nachträglich nachholen. Für den Juristen «absolut inakzeptabel». Über den Rechtsweg machte er geltend, dass eine Nichtanrechnung der absolvierten zwei Tage im Zivilschutz an die Dauer des Rechtspraktikums rechtswidrig sei. Die Nichtanrechnung sei diskriminierend, da er damit gegenüber einer Frau schlechtergestellt sei. Die Staatskanzlei und das Verwaltungsgericht sahen das anders und verneinten gar ein schützenswertes Interesse an der Feststellung der Diskriminierung. Der Jurist zog die Beschwerde ans Bundesgericht weiter und wartet nun «gespannt» auf das Urteil.
Droll veranschaulicht die unmöglichen praktischen Seiten der Solothurner Praxis: «Um die zwei Tage nachzuholen, habe ich an mehreren Tagen eine Stunde länger gearbeitet. Das geht wiederum nur, wenn der Auditor weiss, dass eine Absenz bevorsteht und er noch genügend Zeit hat, die Absenz nachzuholen. Wird eine Person jedoch zwei Tage vor Ende des Praktikums krank, ist dies unmöglich. Wie soll ein Jurist in einer solchen Lage noch kurzfristig ein zweitägiges Praktikum finden?»
Andere Kantone reagieren unbürokratisch und mit Augenmass auf solche Situationen. Zwar werden auch andernorts die Abwesenheiten wegen Militär, Zivilschutz, Krankheit, Ferien usw. nicht an die Dauer des Praktikums angerechnet. Man kommt den Praktikanten aber entgegen:
Kanton Aargau: Hier müssen laut Nicole Payllier, Sprecherin der Aargauer Gerichte, kurze Abwesenheiten von bis zu drei Tagen nicht nachgeholt werden.
Kanton Luzern: Auch hier kommt man den Auditoren laut der Präsidentin der Anwaltsprüfungskommission, Marianne Heer, «bewusst und mit Überzeugung» entgegen. So heisst es in der Verordnung: «Übersteigen beim einjährigen Praktikum die Absenzen wegen Ferien, Militär- oder Zivilschutzdienst, Krankheit oder anderen Gründen die Dauer von sechs Wochen, so verlängert sich das Praktikum entsprechend.» Zudem gilt «die Absolvierung eines Wiederholungs- oder Ergänzungskurses im Militärdienst und von analogen Diensten im Zivilschutz» nicht als Absenz.
Kanton Zürich: «Abwesenheiten von bis zu fünf Arbeitstagen werden bei Auditoren toleriert», sagt Thomas Sägesser, leitender Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Meilen. Die Absenzen müssten nicht nachgeholt werden. Und beim Bezirksgericht Zürich kann laut Kommunikationschefin Sabina Motta ein Auditor auf Wunsch die Anstellung um die Anzahl der Fehltage verlängern, sofern das Nettoarbeitsjahr wegen Fehltagen nicht erreicht werde.
Kanton Bern: Hier dauert die praktische Ausbildung 18 Monate. Den Auditoren sind während dieser Zeit Abwesenheiten von maximal acht Wochen erlaubt. «Übersteigen die Abwesenheiten diese erlaubte Zeit, muss das Praktikum um mindestens diese Dauer verlängert werden», sagt Gabriella Spielmann vom Obergericht Bern.
Solothurn: “Kein Grund für eine Praxisänderung”
Der Kanton Solothurn steht mit seiner rigorosen Praxis also allein da. Für Franz Fürst, Chef Legistik und Justiz bei der Staatskanzlei, besteht «kein Grund für eine Praxisänderung». Abgesehen vom am Bundesgericht hängigen Fall habe die konsequente Praxis, Abwesenheiten wegen Militär, Zivilschutz, Krankheit, Ferien usw. nicht an die Dauer des Praktikums anzurechnen, bislang zu keinen Problemen geführt.