Vor vierzig Jahren schrieb der Berliner Rechtshistoriker Uwe Wesel, die universitäre Rechtswissenschaft habe nicht nur Entscheidungstechniken für die Lösung von praktischen Problemen zu liefern. Sie habe in vielleicht noch höherem Mass die Bedeutung als scheinneutrales Regelsystem, besonders durch seine hohe Abstraktion, die sekundäre Sozialisation der jungen Juristen in stark konservative Richtung zu drängen. Er betonte dabei die Wichtigkeit kritischer Hochschullehrer als Gegengewicht (Aufklärungen über Recht: Zehn Beiträge zur Entmythologisierung, S. 133).
An den heutigen deutschschweizerischen Universitäten liegt nach wie vor der Schwerpunkt auf der reinen Verinnerlichung des geltenden Rechts durch Lernen aus Lehrbüchern und Falllösungen in Klausuren und mündlichen Prüfungen. Immerhin forschen heute an jeder hiesigen Hochschule kritische Rechtswissenschafterinnen und Rechtswissenschafter. Zudem werden gewisse Reflexionsforen für Studierende angeboten.
Hier scheint sich seit Wesels apodiktischem Urteil allenfalls etwas getan zu haben: Das emanzipatorische, machtkritische Potenzial der Rechtswissenschaft wurde möglicherweise aufgewertet, auch wenn sie wesentlich Herrschaftswissenschaft bleibt. Nach meinem Eindruck wird mittlerweile aber wohl etwas ernster genommen, dass das Recht, will es sich bewahren, der Stachel in der Fleischmasse und Fettmasse der Macht sein muss (Peter Noll) – gerade weil die herrschende juristische Meinung viel zu oft der Meinung der Herrschenden entspricht.
Anspruchsvolle Anwaltstätigkeit
Ein beträchtlicher Teil der Juristen nimmt indessen nach dem universitären Abschluss die Anwaltsausbildung in Angriff. Der Anwaltsberuf bietet in der Praxis zahlreiche Fallstricke, wobei die rein rechtstechnischen am Ende wohl die harmlosesten sind. Taktische und strategische Fragen liefern ebenso Knacknüsse wie der Umgang mit dem rechtsrelevanten Sachverhalt. Eine integre Interessenwahrung ist auch charakterlich anspruchsvoll: Jeder Anwältin und jedem Anwalt obliegt es, im Minenfeld von potenziellen Übertragungen und Gegenübertragungen, von zynischer Abgrenzung und Überidentifikation mit dem Standpunkt des Klienten bei gelegentlichen Moraldilemmata einen aufrichtigen Weg zu suchen und dabei wenn möglich weder sich noch seine Mandanten zu (be-)schädigen. Die eigene Eitelkeit hat hinter Anliegen der Klientschaft zurückzustehen.
Das konsequente Einstehen kann im Einzelfall die Anwaltsreputation durchaus beeinträchtigen. Es ist daher nicht immer ganz einfach, bei den zahlreichen Interessengegensätzen den klientenzentrierten Kurs in der Interessenwahrung zu halten – zumal der Mandant die Qualität der anwaltlichen Arbeit meist nur schwer beurteilen kann. Deshalb bestehen oft starke Informations- und Machtasymmetrien. Die redliche Einlösung der Berufspflichten setzt damit letztlich ein nicht oder nur begrenzt justiziables Ethos voraus, dessen Umsetzung immer wieder prekär ist.
Im demokratischen Rechtsstaat kommt einer kritischen Advokatur als Berufsstand überdies eine staatsbürgerliche Funktion zu, die sie von einem simplen Gewerbe unterscheidet. Sie sollte stets auch Teil einer gegenhegemonialen Praxis sein. Denn ihr kommen die zentralen Aufgaben zu, sämtlichen Bürgern den Zugang zum Recht zu garantieren, die Funktionsweise der Justiz kritisch zu hinterfragen, den Rechtsstaat an seine Obliegenheiten zu erinnern und das Recht von der Korrumpierung durch die Macht zu bewahren versuchen.
Wirklich Berufsrelevantes dem Wildwuchs überlassen
Die deutschschweizerischen Anwaltsexamina zeichnen sich durch eine Fixierung auf rechtstechnische Fragen aus. Während praxisrelevante Leistungsnachweise bei vergleichbaren akademischen Praxisberufen wie Psychotherapeuten, Ärztinnen oder Lehrern einen Schwerpunkt bilden und zum Beispiel die Praktika in Berichten oder standardisierten mündlichen Besprechungen reflektiert werden, kommen analoge Inhalte, die für eine praxisnahe oder gar kritische Anwaltskultur sinnvoll wären, in dem zwingenden Anwaltsausbildungscurriculum nicht vor oder werden bestenfalls marginalisiert.
Zwar bieten etwa der Zürcher Anwaltsverband oder die Innerschweizer Stiftung für Rechtsausbildung praxisnahe «Handwerkskurse» an und die Demokratischen Juristinnen und Juristen führen mittlerweile zwei verschiedene Ausbildungswochenenden pro Jahr durch, wobei hier neben handwerklichen Aspekten auch die rechtspolitische Dimension der Anwaltstätigkeit einbezogen wird. Die Deutschschweizer Anwaltsprüfungsreglemente setzen die Wahrnehmung solcher Angebote indes nicht voraus. Einige verlangen immerhin einen Buchhaltungskurs oder prüfen einen Probevortrag. Andere Kantone kennen neben Klausuren und mündlichen Prüfungen wenigstens eine mehrtägige, praxisnähere Hausarbeit. Vielerorts werden aber ausschliesslich in den Prüfungen in extenso Details des formellen oder materiellen Rechts geprüft.
In allen deutschschweizerischen Kantonen ist dies die zentrale Hürde. Ein grundlagenwissenschaftliches oder anwaltsethisches Gefäss zur Diskussion der eigenen künftigen Rolle sucht man vergebens. Die wirklich berufsrelevanten Themen wie der schwierige Umgang mit Moraldilemmata oder mit potenziellen Interessensgegensätzen in der anwaltlichen Interessenswahrung, taktische oder strategische Fragen, Aussagepsychologie oder die (Re-)Konstruktion der relevanten Sachverhalte, werden vollständig dem Wildwuchs der Praxis überlassen. Dafür lernen die Prüfungskandidaten zahlreiche Bundesgerichtsentscheide, Lehrbücher und mancherorts sogar ganze Gesetze für die mündliche Prüfung über Monate regelrecht auswendig. Sie trainieren damit vor allem Fähigkeiten, denen im Anwaltsberuf eine (eher) untergeordnete Bedeutung zukommt. Und mittlerweile wird dieser Drill teils sogar mit Hilfe von privaten Repetitoren bewältigt, wie dies in Deutschland seit Jahrzehnten gängig ist.
Fehlende Grundsatzdebatte
Eine kritische Grundsatzdebatte zu dieser Prüfungspraxis wäre schon nur aus Konsumentenschutz für das rechtsuchende Publikum und für den Erhalt und Ausbau des demokratischen Rechtsstaates zwingend. Sie findet aber kaum statt. Solange sie nicht ernsthaft geführt wird, wird die zentrale, zu verinnerlichende Botschaft in der sekundären Juristensozialisation in der Anwaltsausbildung bis auf Weiteres noch weit stärker zementiert und viel weniger hinterfragt als an der Universität, obwohl just Letzteres als Voraussetzung für eine verantwortungsvolle anwaltliche Berufsausübung bitter nötig wäre. Denn diese lautet letztlich leider nach wie vor: «Auctoritas, non veritas facit legem» (Thomas Hobbes).