plädoyer: Das Bezirksgericht Pfäffikon ZH schloss die Öffentlichkeit inklusive Journalisten in einem Strafverfahren wegen Mordversuchs aus – für die Verhandlung ebenso wie für die Urteilseröffnung. Das Bundesgericht bezeichnete den Totalausschluss klar als unzulässig. Waren Sie, Frau Mauz, von diesem Entscheid überrascht?
Yvonne Mauz: Eigentlich nicht, weil die Kinder, die Anlass für den Ausschluss der Öffentlichkeit bildeten, nur mittelbare Opfer der Straftat waren. Ich hatte in diesem Verfahren am Bezirksgericht den Vorsitz. Wir schlossen die Öffentlichkeit aus, um die Kinder der Prozessbeteiligten vor einer Retraumatisierung zu schützen. Die Mutter der Kinder hatte zusammen mit ihrem Liebhaber und dessen Bruder versucht, ihren Ehemann zu töten, also den Vater der gemeinsamen Kinder. Eine solche Konstellation stellt eine grosse Ausnahme dar und erforderte den Ausschluss der Öffentlichkeit. Wir bearbeiten in Pfäffikon pro Jahr einige Hundert Fälle in Zivil- und Strafsachen, die alle öffentlich sind und im Internet publiziert werden. Von einem Ausschluss betroffen sind allerhöchstens zwei Fälle pro Jahr. Ich kann daher nicht nachvollziehen, wie man von einer Geheimjustiz sprechen kann.
plädoyer: Nur wenige Monate nach dem klaren Entscheid des Bundesgerichts schloss das Bezirksgericht Pfäffikon erneut in einem Straffall die Öffentlichkeit inklusive Journalisten aus. Halten Sie sich nicht an die höchstgerichtlichen Vorgaben?
Mauz: Bei diesem zweiten Fall ging es um ein Mädchen unter zehn Jahren, das von einem massiven sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie betroffen war. Die beiden Sachverhalte sind nicht vergleichbar. Der Grundsatzentscheid des Bundesgerichts besagt nicht, dass die Öffentlichkeit nie ausgeschlossen werden darf. Es gibt nach wie vor ein richterliches Ermessen. Das Bundesgericht hat Artikel 70 der Strafprozessordnung nicht aufgehoben. Der Artikel lässt den teilweisen oder ganzen Ausschluss zu, wenn die öffentliche Sicherheit oder schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person dies erfordern – insbesondere des Opfers. Auch Absatz 4 von Artikel 70 gewährt einen gewissen Spielraum. Dort steht unmissverständlich, dass die Gerichte ihre Urteile auch in anderer geeigneter Weise eröffnen können. In Betracht fällt insbesondere die Orientierung der Öffentlichkeit mit einer Medienmitteilung. Mir ist nicht klar, wie das Bundesgericht dazu kommt, diese Möglichkeit auszuschliessen. Urteile müssen gemäss Strafprozessordnung nicht zwingend mündlich und in Anwesenheit der Medien eröffnet werden.
Mascha Santschi Kallay: Damit bin ich nur halbwegs einverstanden. Es gilt zwischen der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung und der Öffentlichkeit des Urteils zu unterscheiden. Zum Schutz der Kinder muss – auch im Sinne von Artikel 11 der Bundesverfassung – die Öffentlichkeit von der Gerichtsverhandlung ausgeschlossen werden können. Die Gründe, mit denen man die Öffentlichkeit von der Gerichtsverhandlung ausschliessen kann, sind aber nicht auch auf die Urteilsöffentlichkeit anwendbar. Die Urteilsöffentlichkeit macht vielmehr den Kerngehalt von Artikel 30 Absatz 3 Bundesverfassung aus.
plädoyer: Gilt das auch, wenn Kinder unmittelbar als Angehörige der Prozessparteien involviert sind?
Santschi Kallay: Kinder haben einen besonderen Schutzanspruch – egal in welcher Rolle sie am Prozess teilnehmen, selbst als bloss «Verfahrensbetroffene». Das bedeutet aber nicht, dass die Öffentlichkeit in solchen Fällen in zeitlicher, inhaltlicher und personeller Hinsicht umfassend auszuschliessen ist. Und es heisst insbesondere nicht, dass das Urteil danach geheim gehalten werden darf. Aber die Gerichte müssen Schutzvorkehrungen treffen können, zum Beispiel mit Anonymisierungen im Urteil. Es verletzt aber das Öffentlichkeitsprinzip von Artikel 30 der Bundesverfassung, wenn das ganze Urteil unter Verschluss gehalten wird oder das Gericht nur mit einer Medienmitteilung darüber orientiert.
plädoyer: Wären im Pfäffiker Tötungsprozess mit den indirekt betroffenen Kindern nicht mildere Massnahmen möglich gewesen?
Mauz: Wir haben das selbstverständlich diskutiert. Die Medien arbeiten jedoch sehr unterschiedlich. Einige Gerichtsberichterstatter verzichten zwar auf eine Namensnennung der Prozessbeteiligten, benützen aber die richtigen Initialen oder den richtigen Vornamen. Wir sind ein kleines Gericht in einem kleinen Bezirk. Wenn man zu den Initialen noch eine Ortsbezeichnung hinzufügt oder nur schon, wenn klar ist, dass das Delikt im Bezirk Pfäffikon passiert ist, genügt das oft für die Erkennbarkeit einer Person. Wir wollen nicht, dass involvierte Kinder in der Schule auf die Vorfälle angesprochen werden.
Santschi Kallay: Der Presserat, ein Selbstkontrollgremium der Medien, lässt bei Strafverfahren die Nennung der richtigen Initialen zu. Es ist schwierig, Auflagen gegen Journalisten durchzusetzen, die nicht in Einklang mit den Empfehlungen des Presserats stehen. Die Gerichte sollten sich mit der Medienethik befassen, mit den Standards, die sich die Medien selber geben. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg nimmt regelmässig Bezug auf die Medienethik. Mit andern Worten: Der Journalistenkodex ist für ein Gericht nicht irrelevant, bloss weil er keinen Gesetzescharakter hat und sich nicht auf dem Rechtsweg durchsetzen lässt. Prozessuale Auflagen sind generell problematisch – wegen der Möglichkeiten zur Umgehung und der Verhältnismässigkeit. Auflagen an Medienschaffende sollten nur in begründeten Fällen in Betracht gezogen werden. Bei der Urteilseröffnung greifen sie zudem nicht, nur bei der Verhandlung.
Mauz: Wir Richterinnen und Richter haben auch die Aufgabe, Kinder und Opfer zu schützen. Wenn ich die Interessen abwäge, muss ich eine drohende Persönlichkeitsverletzung mitberücksichtigen. Die sichere Variante ist, die Öffentlichkeit auszuschliessen. Bei den Auflagen machten wir die Erfahrung, dass sie höchst unterschiedlich interpretiert werden. Es gibt auch noch einen anderen Aspekt: Einige Medien wollen mit ihrer Berichterstattung weniger ein Informationsbedürfnis erfüllen als vielmehr ein Sensationsbedürfnis befriedigen. Das ist problematisch, wenn ich an Opfer denke, die ein Leben lang geschädigt und retraumatisiert werden können, nur damit die Leserschaft unterhalten wird.
Santschi Kallay: Einverstanden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führt aus, dass das öffentliche Interesse nicht mit dem gleichzusetzen ist, was eine gewisse Öffentlichkeit interessieren könnte. Es gibt kein rechtlich geschütztes Interesse, alles erfahren zu dürfen, was man aus blosser Neugier oder reiner Sensationslust gerne wissen möchte.
plädoyer: Im Bereich der Schwerkriminalität gibt es indirekt involvierte Angehörige, die retraumatisiert werden könnten. Besteht nicht die Gefahr, dass an solchen Gerichtsverhandlungen die Öffentlichkeit generell ausgeschlossen wird?
Mauz: Man muss schon unterscheiden, ob es sich bei den Angehörigen um Erwachsene oder um Kinder handelt. Kinder müssen geschützt werden. Deshalb gibt es übrigens auch am Jugendgericht keine öffentlichen Verhandlungen. Man schützt hier den minderjährigen Beschuldigten. Es ist nicht einzusehen, weshalb demgegenüber das minderjährige Opfer nicht geschützt werden soll.
plädoyer: Auch im Jugendstrafprozess sind öffentliche Verhandlungen möglich. Das ist aber in der Praxis selten. Entsprechend klein sind in der Bevölkerung die Kenntnisse zum Jugendstrafrecht – und die Entscheide sind für die Leute weniger nachvollziehbar.
Santschi Kallay: Die Öffentlichkeit ist nicht generell ausgeschlossen. Artikel 14 Absatz 2 der Jugendstrafprozessordnung regelt, dass das Jugendgericht und die Berufungsinstanz eine öffentliche Verhandlung anordnen können, wenn es der urteilsfähige beschuldigte Jugendliche oder die gesetzliche Vertretung verlangt oder wenn es das öffentliche Interesse gebietet. Als zweite Voraussetzung darf die Öffentlichkeit des Verfahrens den Interessen des beschuldigten Jugendlichen nicht zuwiderlaufen. Heute herrscht ein seltsamer Schematismus: Ab 18 Jahren sind die Verfahren öffentlich, unter 18 Jahren faktisch geheim. Spätestens vor Bundesgericht ist dann aber Schluss mit dem geheimen Jugendstrafverfahren. Dort gilt das Bundesgesetz über das Bundesgericht und nicht die Jugendstrafprozessordnung.
plädoyer: Frau Mauz, ist in Pfäffikon wenigstens das Urteil öffentlich einsehbar, wenn die Urteilseröffnung hinter verschlossener Türe stattfand?
Mauz: Nein. Bei den nicht öffentlichen Fällen unter Ausschluss auch der Medienvertreter kann der Journalist nicht einfach das Urteil einsehen oder kopieren.
Santschi Kallay: Das geht nicht. Die Urteile müssen bekanntgegeben werden, allenfalls mit einem der vier A als Schutzvorkehrung: Anonymisierung, Abstrahierung, Auslassung oder Aufschiebung. Andernfalls liegt ein unzulässiger Geheimprozess vor. In den meisten Fällen müssten auch nicht alle Journalisten von der Verhandlung ausgeschlossen werden. Man könnte zumindest die akkreditierten Gerichtsreporter zulassen. Ich empfehle, zwischen einer generellen und einer qualifizierten Akkreditierung zu unterscheiden. Die generelle bekommen alle interessierten Journalisten, die qualifizierte nur jene, die kontinuierlich und unter Einhaltung gewisser Standards zum Schutz der Verfahrensbeteiligten berichten.
plädoyer: Das Wissen an Gerichten über den Grundsatz der Justizöffentlichkeit ist teilweise erschreckend klein. Journalisten erhalten – vor allem bei Zivilverfahren – lange nicht bei allen Gerichten Auskunft über Verhandlungen und den Streitgegenstand.
Mauz: In Pfäffikon veröffentlichen wir den Zeitpunkt aller Verhandlungen im Internet. Das sind lange Listen. Tatsächlich werden sie aber nur schon im Kanton Zürich sehr unterschiedlich geführt – mit kleinen Zusammenfassungen oder nur mit einem Stichwort, etwa «Forderung». Unser kleines Gericht kann nicht mehr bieten als die Angabe des Prozessbetreffnisses. Fragt aber ein Journalist an, gibt der Medienbeauftragte immer Auskunft. Auch die Rechtsöffnungen sind übrigens öffentlich. Da geht es zum Teil um wichtige Fragen und Fälle, die viele Leute betreffen. Schade, dass nie ein Journalist darüber berichtet. Auch wenn «Lohnforderung» auf der Liste steht, kommt niemand. Dabei wären das Fälle mit viel Aufklärungspotenzial – denn immer wieder fallen Angestellte auf dubiose Verträge herein.
Santschi Kallay: Da stimme ich Frau Mauz zu. Sie spricht genau jene Fälle an, mit denen man die Rechtskenntnis der Bürger verbessern könnte. Arbeits-, Miet- oder Erbschaftsrechtsfälle sind häufiger als Prozesse um Mord und Totschlag. Aber die Gerichte informieren zum Teil schon sehr zurückhaltend. Mir haben ehemalige Redaktionskollegen einmal berichtet, dass sie an Gerichten ein Urteil bestellen wollten und mit der Antwort abgewimmelt wurden, das Urteil sei öffentlich verkündet worden. Es sei ihr Problem, dass sie nicht anwesend waren. Oder: Eine Zeitung berichtet über ein Urteil, das Radio ruft anschliessend beim Gericht an, will den Entscheid selber lesen – und erhält ablehnenden Bescheid. Das geht nicht. Offenbar hat sich das Bewusstsein einer öffentlichen Justiz beim Gerichtspersonal noch nicht durchgesetzt. Das Bundesgericht hält klar fest, dass alle Urteile öffentlich sind. Das gilt übrigens auch für nicht rechtskräftige oder aufgehobene Urteile.
Mauz: Am Bezirksgericht Pfäffikon gibt es Entscheidlisten, aber keine öffentlich und für jedermann zugängliche Entscheidsammlung. Das wäre zu aufwendig, da alles anonymisiert werden müsste. In öffentlichen Verfahren kann aber jeder Journalist das Begehren um Urteilseinsicht stellen. Jeder Bürger soll die Gerichtsarbeit verstehen. In den Medien müsste viel breiter berichtet werden – aber das Interesse ist nicht da. Erfreulicherweise kommen immerhin regelmässig Schulklassen an Verhandlungen, das unterstützen wir. Im Bekanntenkreis stelle ich grosse Hemmungen fest, was einen Besuch am Gericht betrifft. Es hat sich noch nicht herumgesprochen, dass in fast allen Fällen die Türen offen stehen.
Santschi Kallay: Je besser die Bevölkerung über Gerichtsverfahren informiert ist, desto grösser ist das Vertrauen in die Justiz. Deshalb sollten die Gerichte zur Information beitragen. Das kann man relativ einfach tun: mit aktiver und kontinuierlicher Kommunikation. Das beschränkt sich nicht aufs Strafrecht. Es ist wichtig, dass auch über Zivilrecht oder öffentliches Recht regelmässig berichtet wird. Im Strafrecht ist die Situation paradox: Polizei und Staatsanwaltschaft informieren mit gut ausgebauten Kommunikationsabteilungen über ein Verfahren, das eigentlich geheim ist. Doch sobald die Sache öffentlich wird, nämlich vor Gericht, hört die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz auf.
Yvonne Mauz, 60, Rechtsanwältin, ist Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Pfäffikon ZH
Mascha Santschi Kallay, 38, Rechtsanwältin, ist Mitglied der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen und Mitinhaberin der Santschi & Felber Justizkommunikation GmbH in Meggen LU
Der Grundsatz der Öffentlichkeit
Die Justizöffentlichkeit sorgt für Transparenz in der Rechtsprechung und soll der Bevölkerung ermöglichen, über Gerichtsverfahren informiert zu werden und sie zu verstehen. In einem Grundsatzurteil hat das Bundesgericht den Grundsatz einmal mehr betont (1B_349/2016 vom 22. Februar 2017). Die «demokratische Kontrolle durch die Rechtsgemeinschaft solle Spekulationen begegnen, die Justiz benachteilige oder privilegiere einzelne Prozessparteien ungebührlich oder die Ermittlungen würden einseitig und rechtsstaatlich fragwürdig geführt». Das Bundesgericht bekräftigte auch die «wichtige Wächterrolle» der Medien. Die Kontrolle der Justiz durch die Öffentlichkeit könne «für gewöhnlich nur durch die vermittelnde Tätigkeit der Medien» gewährleistet werden.
Rechtliche Basis der Justizöffentlichkeit sind die Artikel 30 der schweizerischen Bundesverfassung, Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 14 des Uno-Pakts II.