plädoyer: Der Bericht des Bundesrats zum kollektiven Rechtsschutz in der Schweiz spricht Klartext: Das Rechtsschutzsystem weise «Lücken» auf, die «effektive Durchsetzung des objektiven Rechts» sei nicht immer gewährleistet. Vor nur gut drei Jahren wurde die neue Zivilprozessordnung in Kraft gesetzt. Haben Bundesrat und Parlament geschlafen? Oder das Thema bewusst vernachlässigt?
Philipp Weber: Ich denke nicht, dass ein Versehen vorliegt. Aus der Botschaft des Bundesrats zur neuen Zivilprozessordnung ist ersichtlich, dass man das Problem sah, sich aber bewusst gegen kollektive Instrumente wie die amerikanische «class action» aussprach. Man war der Ansicht, sie seien unserem Rechtsdenken fremd. Gleichzeitig hiess es, bestehende Instrumente wie Streitgenossenschaft oder Klagenhäufung sowie die Verbandsklage würden genügen.
plädoyer: Bei von den Banken zurückbehaltenen Retrozessionen zeigt sich: Hunderttausende von Anlegern hätten Anspruch auf Herausgabe dieser Gelder. Nach dem Grundsatzentscheid des Bundesgerichts muss jeder einzeln klagen. Ein Problem für die Anleger und viel Arbeit für die Justiz.
Philipp Haberbeck: Die Ansprüche auf Retrozessionen, die im Einzelfall häufig einige Hundert oder Tausend Franken nicht übersteigen, sind ein gutes Beispiel für Streuschäden, also von im Einzelfall geringen Schäden, die viele Personen betreffen. Da besteht eine Lücke im Rechtsschutzsystem. Ein Prozess ist teuer, für den einzelnen Kläger lohnt er sich daher bei Ansprüchen von einigen Tausend Franken nicht. Das liegt an der streitwertabhängigen Entschädigung von Anwaltskosten, die sich nach kantonalen Tarifen richten. Selbst wenn ein Kläger im vollen Umfang obsiegt, ist der Prozesserlös kleiner als die Kosten. Also prozessiert man in solchen Fällen aus rationalen Gründen nicht. Im Bericht des Bundesrates wird dies «rationale Apathie» genannt. Aus rechtsstaatlicher Optik ist dies höchst unbefriedigend.
plädoyer: Wäre da eine Streitgenossenschaft möglich?
Weber: Grundsätzlich ja. Organisatorisch ist eine Streitgenossenschaft aber nur bis zu einer relativ geringen Anzahl von Klägern praktikabel. Ab etwa fünfzig Personen wird es schwierig, vorab wegen des Koordinationsaufwands. Würde aber bei den Retrozessionen jeder klagen, hätte man sehr viele Prozesse in der Schweiz. Das System stiesse an seine Grenzen. Im Ausland packte man diese Probleme teilweise bereits an, der Gesetzgeber führte Instrumente ein, damit das Justizsystem mit solchen Ansprüchen umgehen kann. Ich denke etwa an Deutschland, Spanien und die Niederlande.
Haberbeck: Die einfache Streitgenossenschaft gibt es, sie steht in der Zivilprozessordnung. Eine Hürde ist aber die Praktikabilität. Hätte man Tausende von vereinigten Klagen und müsste jeden Anspruch so substanziieren und beweisen, wie es die Gerichte heute verlangen, stiesse man an prozessuale Grenzen. Deswegen wäre bei der Einführung einer Gruppenklage im schweizerischen Recht zu überlegen, ob man nicht auch mit einer Kategorisierung oder Schematisierung in Bezug auf gewisse Rechts- und Tatbestandsfragen arbeiten müsste.
plädoyer: Das heisst, dass im Rahmen eines Verfahrens die relevanten Rechts- und Tatfragen anhand eines typischen Falles für die ganze Gruppe von Klägern beantwortet würden.
Haberbeck: Ich kann hier auf die «class action» des US-Rechts verweisen. Das ist ein gutes Beispiel für eine seit Jahrzehnten bestehende Gruppenklage. Voraussetzung dazu ist die Gleichartigkeit der Rechts- oder Sachverhaltsfragen. Bei Retrozessionen liegt meines Erachtens eine solche Gleichartigkeit vor. Die Banken arbeiten ja mit AGB und Vertragsformularen, die für jeden Kunden gelten.
plädoyer: Ein anderes Beispiel aus der Praxis: Die Fluggesellschaft Swiss verweigert Kunden mit einem gültigen Retourticket unter Hinweis auf die AGB den Rückflug, wenn sie den Hinflug nicht angetreten haben. Die Kunden werden so gezwungen, ein neues Einwegticket zu zahlen, damit sie mitgenommen werden. Würde hier eine Klage als Streitgenossenschaft die fragwürdige Praxis der Airline aushebeln?
Weber: Hier wäre eine Verbandsklage in Betracht zu ziehen, wie sie das UWG in Artikel 10 spezialgesetzlich vorsieht. Artikel 89 der Zivilprozessordnung hilft hier nicht weiter, weil die allgemeine Verbandsklage grundsätzlich auf Persönlichkeitsverletzungen beschränkt ist.
plädoyer: Gemäss UWG kann aber mit einer Verbandsklage kein Schadenersatz gefordert werden.
Weber: Ja, damit kann nur auf Unterlassung, Feststellung oder Beseitigung geklagt werden. Würde ein Verband auf Feststellung der Widerrechtlichkeit der AGB klagen, wäre immerhin allgemein festgestellt, dass die AGB nicht lauter sind. Direkte Wirkung auf nicht an der Verbandsklage beteiligte Dritte hätte das allerdings nicht, das ist ein Schwachpunkt dieses Instruments. Im Bericht des Bundesrats wird nun aufgezeigt, dass man den inhaltlichen Anwendungsbereich der Verbandsklage erweitern oder auch reparatorische Ansprüche zulassen könnte.
Haberbeck: Im Schweizer Recht müsste man die Einführung einer Gruppenklage prüfen. Europaweit besteht der Trend, solche Institute einzuführen. Frankreich hat eine Art Gruppenklage eingeführt, in Belgien gibt es einen Entwurf für eine Gruppenklage, auch andere europäische Länder haben Gruppenklagen eingeführt. Auf EU-Ebene gibt es eine Empfehlung der Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten, die Einführung von Gruppenklagen zu prüfen. In der Schweiz kann ich auf die Motion von SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo verweisen. Sie verlangt ein Instrument zur kollektiven Rechtsdurchsetzung. Der Nationalrat nahm den Vorstoss an, im April fand er auch in der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates eine Mehrheit.
plädoyer: Macht sich das Bundesamt für Justiz also an die Arbeit für eine Revision der ZPO?
Weber: Zuerst muss abgewartet werden, ob der Ständerat der Empfehlung seiner Kommission folgt. Falls ja, hat der Bundesrat tatsächlich einen Gesetzgebungsauftrag. Der Bundesrat hat übrigens die Motion zur Annahme empfohlen. Die von Herrn Haberbeck angesprochene Gruppenklage ist eine denkbare Möglichkeit.
plädoyer: Dabei gibt es zwei Varianten: Das Opt-in-Modell, bei dem man den Beitritt zur Gruppenklage erklären muss. Und das Opt-out-Modell, mit dem man aktiv werden muss, wenn man vom Urteil nicht betroffen sein will. Welches ziehen Sie vor?
Weber: Bei Streuschäden stellt sich die Frage, ob man mit einem Opt-in-Modell genug Betroffene dazu bringen kann, sich an der Gruppenklage zu beteiligen. Aus andern Ländern weiss man, dass bei Opt-in-Modellen regelmässig nur ein kleiner Teil, manchmal nur 10 Prozent, beitreten. Bei Opt-out-Gruppenklagen liegen die Beteiligungsquoten meist bei rund 90 Prozent. Es gibt in Europa unterschiedliche Modelle. Bei der «class action» der USA gilt grundsätzlich das Opt-out-Modell.
plädoyer: Weshalb sollte jemand bei einem Streuschaden vom Opt-out-Recht Gebrauch machen?
Weber: Jemand kann der Ansicht sein, dass er erfolgreicher ist, wenn er alleine klagt. Möglich ist auch, dass jemand gar nichts unternehmen möchte. Das niederländische Modell setzt auf ein Opt-out, damit man bei Gruppenklagen zu einer Vergleichslösung kommt, die sämtliche Beteiligten bindet. Ein solches Modell hat auch für die Schädiger Vorteile. Das Problem ist dann mit einem einzigen Verfahren vom Tisch.
plädoyer: Es gibt noch andere Möglichkeiten als Gruppenprozesse. Zum Beispiel die Zulassung eines Musterprozesses zur Klärung einer bestimmten Streitfrage mit Präjudizwirkung auf alle gleichgelagerten Fälle. Ein sinnvolles Modell?
Weber: Dieses Instrument wird im Bericht des Bundesrats auch dargelegt. In Deutschland gibt es das beispielsweise im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz. Das Konzept: Man führt einen Musterprozess und entscheidet diesen Pilotfall. Anschliessend beurteilt man alle andern gleichgelagerten Fälle gleich. So kann man mit einem Verfahren viele Ansprüche erledigen. Beispiel: Der Telekom-Fall, bei welchem rund 13 000 Anlegerinnen und Anleger gestützt auf falsche Kapitalmarktinformationen zur Telekom-Aktie Ansprüche geltend machten. Auch in der Schweiz kann man Musterprozesse führen. Es gibt jedoch keine spezielle gesetzliche Grundlage. Das führt dazu, dass es nur dann funktioniert, wenn die beklagte Seite mitmacht. Das war etwa in zwei Fällen so: Im einen ging es um Entschädigungen von Bauern durch den Bund nach der Tschernobyl-Katastrophe, im andern um Entschädigungsforderungen gegen den Flughafen Zürich. Ob eine grosse Bank oder eine Pharmafirma zu einem solchen Vorgehen bereit wäre, ist fraglich.
Haberbeck: Auch bei einem Musterprozess besteht das Problem der «rationalen Apathie». Die Mikroschäden einerseits und hohen Kostenhürden andererseits bekommt man so nicht weg. Für jemanden, der nur einen kleinen Anspruch hat, lohnt es sich daher nach dem aktuellen System nicht, etwas zu unternehmen.
plädoyer: Warum tut sich die Schweiz so schwer mit Gruppenklagen, wo sie doch im Interesse beider Parteien liegen und auch die Justiz entlasten?
Haberbeck: Das kontinentaleuropäische Zivilprozessrecht basiert auf der Konzeption der Individualansprüche, die individuell durchzusetzen sind. Dies war jahrhundertelang so – schon bei den Römern. Andererseits dürften gewisse Exzesse der US-Sammelklagen eine abschreckende Wirkung haben. Diese Exzesse sind jedoch nicht auf das Instrument an sich zurückzuführen, sondern auf andere Faktoren. So trägt in den USA bei einem Prozess jede Partei ihre eigenen Kosten, weshalb ein Kläger, der unterliegt, keine Entschädigung für Anwaltskosten an die Gegenpartei zahlen muss.
plädoyer: In der Schweiz ist das Prozessrisiko für Kläger viel höher. Zudem sind die Prozesskostenvorschüsse abschreckend. Müsste dies für Gruppenklagen geändert werden?
Weber: Das Institut einer Gruppenklage kann nur wirksam sein, wenn man auch bei den Kosten und der Finanzierung etwas ändert. Eine Möglichkeit wäre, die Regel aufzuheben, wonach die unterliegende Partei die Kosten trägt und die Gegenpartei entschädigen muss – was allerdings auch als Schutz vor missbräuchlichen Prozessen dient. Die Frage des Kostenvorschusses müsste man sich überlegen. Bei Gruppenklagen könnte darauf verzichtet werden.
Haberbeck: Da stimme ich zu: Die Vorschusspflicht sowie die Solidarhaftung für eine Prozessentschädigung sind bei Gruppenklagen abzuschaffen. Es wäre prozessverhindernd, wenn jemand nur einen kleinen Anspruch hat, aber potenziell für hohe Prozesskosten haften muss. Ich befürworte zudem, dass man über die Aufhebung des Verbotes von Erfolgshonoraren für Anwälte nachdenkt. Wenn ein Anwalt ein Erfolgshonorar vereinbaren dürfte und nur etwas verdient, wenn er Erfolg hat, sinkt das Prozessrisiko für die Kläger beträchtlich. In den USA wird die grosse Mehrheit der Prozesse über Erfolgshonorare finanziert.
Weber: Die EU erachtet Erfolgshonorare in Europa als nicht wünschenswert, weil der Anwalt zum Schaden des Klienten handeln könnte und missbräuchliche Prozesse gefördert würden.
Haberbeck: Ich sehe die Unabhängigkeit oder die Objektivität des Anwalts nicht gefährdet, sondern eine Interessenskongruenz: Sowohl der Anwalt als auch der Klient wollen den Prozess gewinnen. Als Anwalt verliert man nicht gerne vor Gericht – unabhängig von der Art der Entschädigung. Es ist einfacher, dem Klienten eine Rechnung zu stellen, wenn man obsiegt. Ich halte auch die Befürchtung für übertrieben, dass Anwälte übermotiviert arbeiten und sich nicht mehr nach Treu und Glauben verhalten, wenn sie nur dann ein Honorar erhalten, wenn sie den Prozess gewinnen.
Weber: Erfolgshonorare sind in der Schweiz nicht per se verboten, verboten ist nur das reine Erfolgshonorar für Anwälte. Es sind verschiedene Konstellationen mit Erfolgsbeteiligung möglich, zum Beispiel die Prozessfinanzierung über Dritte oder die Abtretung von Forderungen. Dem Bundesrat ist bewusst, dass man – zumindest für mögliche Gruppenklagen oder ähnliche Instrumente – über weitergehende Erfolgshonorare nachdenken sollte.
plädoyer: Warum hinkt die Schweiz bei Gruppenklagen hinterher?
Weber: Die Schweiz ist bisher von spektakulären Massenschadenfällen verschont worden – oder man hat sie nicht als solche wahrgenommen. Viele ausländische Modelle sind zudem noch nicht alt.
Haberbeck: Der Rückstand ist wohl kulturell-historisch bedingt. Die USA sind ein klägerfreundliches Land. Die Schweiz dagegen ist beklagtenfreundlich: mit der Kostenvorschusspflicht, der Entschädigungspflicht, dem Verbot der Erfolgshonorare, hohen Anforderungen an die Substanziierung oder mangelndem Ausforschungsbeweis. Hier will man Prozesse eher verhindern als fördern.
plädoyer: Dient dies tendenziell dem wirtschaftlich Stärkeren?
Haberbeck: Ja, das kann man so sagen.
plädoyer: Viel müsste in der Zivilprozessordnung nicht geändert werden. Sehen Sie das auch so?
Haberbeck: Nein, es ist eine komplexe, anspruchsvolle Aufgabe. Der Gesetzgeber muss unter anderem die Voraussetzungen für die Zulassung zu einer Gruppenklage regeln, also wie hoch die Anforderung an die Gleichartigkeit von Sach- und Rechtsfragen ist. Man müsste die ausländischen Beispiele genau anschauen.
Weber: Als direktes Vorbild kann man sie nicht nehmen. Jedes Modell muss gezielt an die Schweizer Eigenheiten wie die Organisation der Gerichte angepasst werden. Würde man eine Gruppenklage einführen, müsste dem Gericht eine zentrale Rolle zukommen. Das sehen wir im niederländischen Modell: Das Gericht prüft einen Vergleich der Parteien inhaltlich auf seine Angemessenheit.
plädoyer: Sie sind beide dafür, dass man beim kollektiven Rechtsschutz endlich vorwärtsmacht. Konkret: Wie lange müssen die Schweizer noch auf eine Gruppenklage für Streu- und Massenschäden warten?
Weber: Der Bericht des Bundesrats zeigt, dass Handlungsbedarf besteht. Auch zeigt er gewisse Lösungsmöglichkeiten auf. Es sieht danach aus, dass es politisch mehrheitsfähig ist, einen Schritt weiterzugehen, mögliche Massnahmen nun genauer anzuschauen und konkrete Vorschläge zu machen. Ob es dann eine Gruppenklage ist oder verschiedene Kombinationen auch anderer Instrumente, wird sich noch zeigen müssen.
Haberbeck: Ich bin sehr dafür, dass wir jetzt vorwärtsmachen. Der Staat hat das Gewaltmonopol. Das bedeutet: Selbstjustiz ist nicht erlaubt. Die Kehrseite ist der Justizgewährungsanspruch. Der Bericht des Bundesrates sagt klar, dass dieser Anspruch heute in Bezug auf Streuschäden nicht erfüllt wird. Dies ist aus rechtsstaatlicher Optik bedenklich. Es ist schon bei Einzelfällen problematisch und erst recht bei Schäden, die sehr viele Menschen betreffen.
Philipp Haberbeck, 45, ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Eversheds AG in Zürich.
Philipp Weber, 37, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Justiz im Fachbereich Zivilrecht und Zivilprozessrecht. Daneben ist er Lehrbeauftragter an der Universität Zürich für Zivilprozessrecht und Schuldbetreibungs- und Konkursrecht.