Warum seine Zeit auf Chinas Justiz verschwenden? Warum sie nicht mit anderen nutzlosen Dingen verbringen: Tagträumen in der Frühlingssonne, den Mond anheulen, sich mit Freunden in einem Blumenfeld betrinken?» Mit diesen Sätzen auf dem Mikroblogging-Dienst Weibo warf der Richter Liu Shibi letztes Jahr seinen Job beim Obersten Volksgericht in Guangzhou hin – aus Frust über Arbeitslast, schlechte Bezahlung und die allgegenwärtige politische Einmischung durch die Kommunistische Partei. Nicht der schlechteste Abschied.
Um Recht und Gesetz ist es in China nicht zum Besten bestellt, die Klage ist alt. Ein jeder reagiert darauf auf seine Weise.
Ein Café in Peking, im Frühsommer. Am Tisch sitzt Zhou Shifeng, vielleicht einer der bekanntesten Anwälte des Landes. In Chinas Rechtssystem gehören die Anwälte zur untersten Kaste, oft schikaniert von Staatsanwälten, ignoriert von Richtern und bedrängt vom Sicherheitsapparat. Zhou war einmal erfolgreicher Wirtschaftsanwalt, bis er im Jahr 2007 die Fengrui-Kanzlei gründete, auf deren Website einen ein Bild von Nelson Mandela begrüsst. Zum Zeitpunkt des Treffens betreute Zhou Shifeng die Assistentin der Wochenzeitung «Die Zeit», Zhang Miao, die im Gefängnis sass, offenbar dafür, dass sie in Peking eine Dichterlesung zur Unterstützung der demonstrierenden Studenten von Hongkong hatte besuchen wollen. Den genauen Grund wusste auch nach acht Monaten Haft noch keiner, weder der Anwalt noch Zhang Miao selbst. Eine Anklage nämlich gab es zu dem Zeitpunkt – und das ist auch in China gegen das Gesetz – noch immer nicht. «Es ist ein grosser Witz. Die KP spricht von ‹fazhi›, von der ‹Herrschaft der Gesetze›», sagt Anwalt Zhou, «und sie meint damit: ‹Ich nehme meine Gesetze und beherrsche dich damit›.» Keine gute Zeit, um Anwalt zu sein, oder? «Im Gegenteil», sagt Zhou. «Dies ist eine Zeit, die grossartige Anwälte hervorbringt.»
Der eine wirft hin, der andere blüht auf. Der dritte greift zu. KP-Chef Xi Jinping führt das Wort Rechtsstaat so oft im Mund wie kaum einer seiner Vorgänger. Im Februar erst schalt er die Parteifunktionäre des Landes, die sich um Recht und Gesetz nicht kümmerten. «Wir werden den Rechtsstaat im ganzen Land verbreiten», verkündete Xi. Was noch erfreulicher wäre, wenn die KP nicht unter Rechtsstaat etwas ganz anderes verstünde als die meisten Menschen ausserhalb Chinas.
Nach grossem Druck – auch von deutscher Seite – wurde die «Zeit»-Assistentin Zhang Miao am 9. Juli freigelassen. Ein paar Stunden später nur klopften drei Männer an die Tür des Hotelzimmers von Anwalt Zhou Shifeng, stülpten ihm ein Hemd über den Kopf, damit er blind war, und zerrten ihn weg.
Ein bestürzender Vorfall – aber nichts, was Chinas Bürgerrechtsanwälte nicht schon erlebt hätten. Ungewöhnlich war erst das, was in den nächsten 24 Stunden passierte und was in den Wochen seither passiert ist. Was zunächst aussah wie der Racheakt des Sicherheitsapparats an einem Verteidiger, war in Wirklichkeit der Startschuss zu einem Rachefeldzug gegen einen ganzen Berufsstand.
Der 10. Juli wurde Chinas «schwarzer Freitag». In insgesamt 19 Provinzen schwärmten Sicherheitsbeamte aus, klopften an die Türen von Bürgerrechtsanwälten und ihren Mitstreitern und verhörten, verschleppten und verhafteten Hunderte. Bis Anfang September traf es mehr als 280 Anwälte und Unterstützer, mehr als 20 von ihnen sind bis heute in Haft oder verschwunden.
Wachsende Paranoia vor westlicher Subversion
Einen solchen Schlag gegen die Anwaltszunft hat es in China seit Jahrzehnten nicht gegeben. Jahrelang waren die Spielräume in China gewachsen. Zuletzt jedoch erlebte die KP einen enormen Vertrauensverlust, Chinas Gesellschaft rutschte in eine Krise. Jetzt lahmt auch noch die Wirtschaft, taumeln die Börsen. Parteichef Xi Jinping versucht, die Kontrolle über sämtliche Bereiche der Gesellschaft für die KP zurückzuerobern. Die Paranoia vor vermeintlicher westlicher Subversion wächst in der KP. Die «Volkszeitung» hatte die Bürgerrechtsanwälte schon 2012 als «Instrumente der USA» ausgemacht. Im Zentrum des Sturms nun: Anwalt Zhou Shifeng und seine Kanzlei.
Als ich Zhou im Frühsommer traf, da ahnte er schon, dass ihm Gefahr drohte. Einer seiner Mitarbeiter war nur Tage zuvor festgenommen worden. Ein Bekannter aus dem Apparat habe ihn angerufen, erzählte Zhou, und ihn gewarnt: «Pass auf, du bist der Nächste.» Dennoch: Angst habe er keine, sagte Zhou. «Ich habe nichts Illegales getan. Was können sie schon tun?» Dann zählte er auf: «Mich festnehmen? Mich denunzieren im Staatsfernsehen?» Sechs Wochen später sollten sie genau das tun.
«Ausserdem», so Zhou, «bin ich der Chef einer Kanzlei mit vielen bekannten Anwälten. Wenn sie mich verschleppen, dann haben sie die am Hals.» Auch dafür fanden die Behörden am Ende eine Lösung: Sie steckten Zhous bekannte Kollegen, fünf an der Zahl, ebenfalls ins Gefängnis.
Sofort nach den Festnahmen vermeldeten die Staatsmedien die «Zerschlagung eines bedeutenden Verbrechersyndikats» («Volkszeitung»). Damit war die Fengrui-Anwaltskanzlei gemeint. Zhous Kanzlei hatte sich einen Namen gemacht mit der Verteidigung von Opfern von Lebensmittelskandalen und illegalen Häuserabrissen, von misshandelten Petitionären und Feministinnen und von prominenten Andersdenkenden.
In den Berichten der «Volkszeitung», der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua und dem staatlichen Fernsehsehsender CCTV hiess es nun, dass die Kanzlei in Wirklichkeit das Zentrum eines «kriminellen Netzwerkes» sei.
Teilweise lesen sich die Vorwürfe wie aus dem Drehbuch einer bösen Komödie. Wenn etwa Xinhua die Vergehen der Verhafteten aufzählt und schreibt: «Ihr Ziel war es, Anhörungen zu verzögern und Druck auf das Gericht auszuüben, damit die Verurteilungen ihrer Mandanten weniger streng ausfallen oder sogar verworfen werden.» Sprich: Sie taten ihre Arbeit als Anwälte.
Chinas Rechtswesen hat einen beachtlichen Weg hinter sich. Nach dem mörderischen Chaos der Kulturrevolution bekannte sich die KP öffentlich zum Neuaufbau einer ordentlichen Justiz. Chinas Gesellschaft wurde freier und selbstbewusster, gleichzeitig brachte die wirtschaftliche Entwicklung nicht nur wachsenden Wohlstand, sondern auch viele neue Konflikte mit sich. Immer mehr Bürger wurden sich ihrer Rechte bewusst, immer mehr Anwälte waren bereit, sie zu verteidigen, auch gegen die Willkür von Beamten. Selbst chinesische Staatsmedien feierten noch vor knapp einem Jahrzehnt den einen oder anderen, der heute im Gefängnis sitzt, als Helden im Kampf gegen die Ungerechtigkeit.
China hat mittlerweile in vielen Feldern tolle Gesetze, es schert sich oft bloss keiner um sie. «Dass man mir die Lektüre der Prozessakten und den Zugang zu meinen Mandanten verweigert, ist Alltag», erzählt ein Anwalt.
In einer Bestandsaufnahme eines Insiders hiess es unlängst, das Justizpersonal sei oft «roh, arrogant, herrisch und desinteressiert». In Verhören würden «Regeln gebrochen» und oft werde Zwang angewendet. Die Richter «halten sich nicht ans Gesetz und nehmen Bestechungsgelder». Autor der Analyse war Song Hangsong, ein hoher Beamter der Obersten Staatsanwaltschaft in Peking.
Rund 300 Anwälte sind inhaftiert
Die Bürgerrechtsanwälte haben es naturgemäss noch schwerer. In einem soeben in Hongkong veröffentlichten Bericht werden Dutzende Fälle von 2006 bis 2015 dokumentiert, in denen inhaftierte Anwälte gefoltert wurden. Und dennoch ist ihre Zahl stets gewachsen. Beobachter schätzen sie auf heute rund 300. Angesichts der Hürden, vor denen sie stehen, bedienen sie sich kreativer Mittel, mobilisieren oft soziale Netzwerke und die Öffentlichkeit für ihre Zwecke – exakt das wurde der Partei unheimlich.
Schon im letzten Jahr kursierte ein Spruch: Früher seien in China die Anwälte hinter Gitter gegangen. Dann die Anwälte der Anwälte. Mittlerweile schnappe man die Anwälte der Anwälte der Anwälte. Leider eine Tatsache, kein Witz. Was nun geschieht, ist der Versuch, die Bewegung komplett zu diskreditieren, letztlich auszulöschen.
KP-Chef Xi Jinping sendet dabei scheinbar widersprüchliche Signale aus. Einerseits erkennt er die Notwendigkeit einer effektiven Justiz für eine moderne Wirtschaft und Gesellschaft. Er plant, auf lokaler Ebene den Einfluss von Parteifunktionären auf Gerichte zurückzudrängen. Gleichzeitig ist der Parteichef Gefangener des Systems, das zu verteidigen er geschworen hat. Echte Unabhängigkeit der Justiz ist ihm ein Graus. Und so pries die staatliche Nachrichtenagentur im Februar den «Rechtsstaat» und titelte am gleichen Tag: «Es ist absolut verboten, darüber zu diskutieren, ob die Partei oder die Verfassung höher stehen.» Überhaupt sei es «falsch, zu glauben, die ‹Herrschaft der Gesetze› stehe im Widerspruch zur Herrschaft der Partei», erklärt Wang Zhenmin, Dekan der juristischen Fakultät der Pekinger Tsinghua-Universität: «Chinas Gesetze sind die Kodifizierung der Parteidirektiven.»
“Wir sind ihnen auf den Leim gegangen”
Tatsächlich scheinen viele der neuen Gesetze – zum Beispiel jenes für die Internetsicherheit oder jenes für die nationale Sicherheit – dafür geschaffen zu sein, die Willkürmassnahmen von früher in Zukunft mit Paragraphen zu unterfüttern. «Früher wurde man einfach so verschleppt, ohne einen Grund gesagt zu bekommen», erzählt der Pekinger Anwalt Li Xiongbing. «Das passiert heute nicht mehr. Wenn sie dich heute verschleppen, dann müssen sie eine Ausrede suchen, dir einen Paragraphen nennen.» Er macht eine Pause und sagt dann: «Doch, für China ist das ein Fortschritt.»
Li Xiongbing erinnert sich an seinen Idealismus, als er die Anwaltsprüfung ablegte. Im Jahr 2002 war das, das Land öffnete sich, die Regierung versprach Reformen. «Wir waren so optimistisch, so hoffnungsfroh», erinnert sich Li. «Wir glaubten an unsere Regierung, wir wollten aus China ein gerechteres Land machen.» Und jetzt? Er lacht kurz auf. «Wir sind ihnen auf den Leim gegangen.» Dann zählt er nach: Von seinen persönlichen Freunden, alles Anwälte, sitzen im Moment ein Dutzend im Gefängnis.
Inszeniertes Spektakel in den Staatsmedien
Zhou Shifeng, der Mann, mit dem alles begann, der Anwalt aus dem Café, ist in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht, für ein paar Minuten nur: im Staatsfernsehen, so wie er es selbst vorhergesehen hatte. Erschöpft wirkte er, im schwarzen T-Shirt vor dem Zellengitter. Der Anlass: Die KP hat unter Xi Jinping wieder den Pranger eingeführt, eine Praxis, die zuletzt während der Kulturrevolution gepflegt wurde. Seit zwei Jahren werden prominente politische Gefangene auf CCTV vorgeführt, lange bevor sie ihren Anwalt sehen: reuig, geständig, gebrochen. Diese Filme werden dann von ernst dreinblickenden Sprechern mit einer kräftigen Prise Sex und Rufmord gewürzt und in den Nachrichten rauf und runter gespielt.
Im Falle der verhafteten Pekinger Anwälte bekam das Publikum gratis noch ein Spektakel dazu: die gegenseitige Denunziation der Häftlinge. Zhou Shifeng, der Drahtzieher der Verschwörung, der Kopf der Verbrecherbande, sei immer ein «miserabler Anwalt» gewesen, sagt Anwalt Liu in die Kamera, und «nie vorbereitet». Sein Chef habe einfach nur «gross rauskommen» wollen, sagt ein Zweiter. «Nur ums Geld ging es ihm», weiss ein Dritter. Ein Heuchler, ein Abzocker und – dramatischer Höhepunkt der Dokumentation – ein geiler Bock zudem: Mit der Frau eines Mandanten soll er geschlafen, ein Kind gar gezeugt haben.
Die Botschaft ist klar: Die Partei kann jeden Anwalt über Nacht in einen Verbrecher verwandeln, und sie hat die Macht, aus jedem Helden einen moralischen Lumpen zu machen. Es ist eine Warnung für Leute wie Li Xiongbing, die noch draussen sind.
«Sie wollen uns verteufeln», sagt Li. «Die Leute sollen sagen: Schaut euch diese üblen Typen an, die sich Bürgerrechtsanwälte nennen.» Und? Zeit, mit einer Flasche Wein ins Blumenfeld zu gehen? Wie sinnvoll ist Ihre Arbeit jetzt noch? «Jetzt erst recht!», ruft Li. Gestern Abend habe ihn ein Schweinefarmer aus Jiangxi aufgesucht. Die lokale Regierung wollte ihm sein Land wegnehmen, der Bauer stellte sich quer. Wenig später ging sein Hof in Flammen auf. «Wahnsinn», sagt Li erfürchtig. «Der Mann ist mehr als tausend Kilometer aus Südchina hierher gereist, um mich zu finden.» Kein spannenderer Ort für Anwälte als China.