Olga Manfredi kauft im Lebensmittelladen ein. Sie sitzt im Rollstuhl vor einem Regal, prallgefüllt mit Joghurts. «Entschuldigung, brauchen Sie Hilfe?», fragt jemand hinter ihr. Sie antwortet: «Ja, Sie können mir die Wahl abnehmen: Erdbeer- oder Himbeerjoghurt?» Die Stimme hinter ihr verstummt. Manfredi lächelt. «Gut gemeint, aber schlecht gemacht.» Die Überfürsorglichkeit gewisser Leute stört sie. Damit würden Leute mit einer Behinderung auf ihre Schwächen reduziert. Das zementiere ein Machtverhältnis: Ich bin stark und du bist schwach. «Das ist würdelos.»
Die 54-jährige Juristin ist seit 1994 auf den Rollstuhl angewiesen. Sie war damals als Mitorganisatorin eines Open Airs in Wetzikon ZH gerade in einem Zelt mit dem Sortieren von Absperrbändern beschäftigt, als ein Baumwipfel wegen einer Sturmböe knickte, durch das Zeltdach krachte und die damals 29-Jährige unter sich begrub.
Manfredi studierte zu dieser Zeit an der Uni Zürich im ersten Semester Jus. Aufhören kam für sie nicht in Frage. Noch während der Reha besuchte sie wieder einzelne Vorlesungen. Zwei Wochen nach dem Unfall – Manfredi lag noch im Spital – stand bereits ein Berufsberater der Invalidenversicherung bei ihr am Bett: «Na, Frau Manfredi, was machen Sie jetzt? Was haben Sie mit Ihrem Leben vor?» Die Frage überforderte sie, da sie noch kaum wusste, wie sich das Leben im Rollstuhl gestalten wird. Sie antwortete aber, dass sie selbstverständlich das Studium weiterführen werde.
Olga Manfredi ist eine Frohnatur. Es sei die Neugier, die sie im Leben antreibe. So verliess sie das Gymnasium und das Elternhaus, um in der Romandie Töpfern zu lernen. «Ich wollte aus der Welt ausbrechen, in der ich aufgewachsen war.» Ihre Jugend verbrachte Manfredi mit sieben Geschwistern auf einem Bauernhof in Wald ZH, wo sie heute wieder wohnt. Die Familie ist in der Gemeinde verwurzelt, ihr Bruder heute Gemeinderat. Ihr Vater war lange Gemeindepräsident und Mitglied der SVP. «Ich habe aber immer links abgestimmt», sagt Manfredi lachend. Seit über 15 Jahren ist sie bei der SP und Co-Präsidentin der Ortspartei. Die politischen Diskussionen im Elternhaus hätten sie auf das Leben vorbereitet. «Ich habe früh gelernt, dass man im Leben alles selbst anpacken muss.»
Eine Expertin für Behindertenrecht
Manfredi packt in ihrem Leben tatsächlich vieles an: Sie ist Präsidentin des Rollstuhlclubs Züri Oberland, arbeitet als selbständige Rechtsberaterin, hat einen Lehrauftrag an der Uni Zürich zu Behinderung und Mobilität, ist Mitglied des Wahlbüros der Gemeinde und seit Anfang Jahr teilamtliche Richterin am Bezirksgericht Hinwil. «Mein Hauptnebenamt», sagt Manfredi lachend. «Ich arbeite in einem tollen Team. Es herrscht eine sehr gute Arbeitsatmosphäre.»
Von zu Hause aus bietet sie juristische Rechtsberatung an. «Ich mache zum Beispiel Abklärungen zu IV-Fällen, Assistenzbeiträgen oder Hilflosenentschädigungen.» Die Juristin kann auf langjährige Erfahrung zurückgreifen. Während sieben Jahren präsidierte sie den Gleichstellungsrat Égalité Handicap (heute «Inclusion Handicap») auf Bundesebene. Ebenso lange leitete sie die Behindertenkonferenz des Kantons Zürich.
Olga Manfredi hat das Zustandekommen des Behindertengleichstellungsgesetzes auf Bundesebene direkt miterlebt. Sie hätte sich einen starken Baum im Sinn eines umfassenden Verfassungsartikels gewünscht. «Stattdessen bekamen wir mit dem Gesetz einen Bonsai.» Mittlerweile aber schätzt sie das Gesetz. Es seien damit Grundsätze festgelegt worden, die man konkret anwenden könne. Allein die Definition, was eine Benachteiligung sei, habe schon einiges bewirkt. «Vor allem im Baubereich hatte das Gesetz eine grosse präventive Wirkung.»
Die 54-Jährige weist aber auch auf Lücken hin. Für die privaten Dienstleitungsanbieter bleibe das Gesetz ein zahnloser Tiger, sagt sie. «Laut Gesetz kann ich bei einer Benachteiligung einzig einen Schadenersatz von 5000 Franken einfordern. Aber nicht den privaten Anbieter einer Dienstleistung gerichtlich zur Beseitigung der Benachteiligung zwingen.»
Ein grosses Problem ortet Manfredi bei der Sozialhilfe und der IV. «Wir haben es mit katastrophalen Zuständen zu tun. Zunehmend mehr Leute mit Behinderung landen bei der Sozialhilfe, weil ihnen die IV die Rente streicht oder zu Unrecht gar nicht zuspricht.» Das seien vor allem Personen mit multimorbiden Gesundheitsproblemen, Schmerzpatienten mit Bandscheibenvorfällen oder starken Depressionen. Die IV habe heute Genesungsmechanismen, mit denen sie diese Personen zu 100 Prozent erwerbsfähig schreibe. «Diese Leute finden keinen Job und landen bei der Sozialhilfe.»
Die Behindertenrechtskonvention wie auch das Behindertengleichstellungsgesetz hätten einen anderen Begriff von Behinderung als die IV und die Sozialhilfe. «Eigentlich kennt die Sozialhilfe die Behinderung überhaupt nicht.» Manfredi nennt ein Beispiel aus der Praxis: «Laut Gesetz hat jede Person das Recht auf Mobilität. Lebt sie mit einer schweren Körperbehinderung und die Sozialhilfe rechnet ihr keinen Beitrag für ein Auto an, bleibt sie isoliert zu Hause.» Es gebe viele Präzedenzfälle, die man vor Gericht bringen müsste – aber das Interesse bei der Anwaltschaft sei sehr gering. «Dabei würde jedes vernünftige Gericht anerkennen, dass es sich dabei um eine klassische Diskriminierung handelt.»
Bundesgericht müsste den Kantonen Beine machen
Olga Manfredi kritisiert auch das Bundesgericht. Das Behindertengleichstellungsgesetz verlange explizit den hindernisfreien Zugang zu Bauten und Anlagen. Aber laut Bundesgericht gelte das erst, wenn die kantonalen Gesetze Ausführungsbestimmungen enthielten. «Das Bundesgericht könnte die Kantone auffordern, das Gesetz anzuwenden. Bei der Prämienverbilligung entschied es ja auch, wie die Prämienentlastung in den einzelnen Kantonen sein soll.» Generell urteilen die Bundesrichter laut Manfredi nicht behindertenfreundlich – gerade auch im Sozialversicherungsrecht. Sie nennt ein Beispiel, bei dem es um eine Hilflosenentschädigung ging. Ein frisch verunfallter Paraplegiker wurde gefragt, ob er künftig einen Katheter brauche. Er verneinte, weil er noch nicht wusste, dass er künftig nicht mehr normal Wasser lassen kann. Das Bundesgericht schützte das Argument der Vorinstanzen: «Es gilt das Wort der ersten Sekunde.» Für die engagierte Juristin ist das «absolut realitätsfremd».