plädoyer: Die Welt schaut zu, wie in Gaza innert drei Monaten von Israel rund 25'000 Menschen getötet und Zehntausende schwer verletzt und verstümmelt wurden, zwei Drittel Frauen und Kinder. Die Bevölkerung ist den Bomben und Raketen schutzlos ausgeliefert. Sie wurde aus ihren Wohnungen vertrieben, 80 Prozent der Gebäude sind laut Uno zerstört, ebenso die gesamte Infrastruktur (Wasser- und Energieversorgung, Kommunikation), Spitäler wurden bombardiert. Hunderttausende hungern, weil Israel Hilfslieferungen nur zu sehr kleinem Teil zulässt, die medizinische Versorgung der Verletzten wird so verhindert. Solche Taten von Staaten wollten die Uno-Charta und die Genfer Konventionen eigentlich verhindern. Wie erklären Sie der Bevölkerung von Gaza den Wert dieser völkerrechtlichen Verträge?
Oliver Diggelmann: Sie sprechen die schwer erträgliche Diskrepanz zwischen dem realen Leid in Gaza und unseren Erwartungen an das Recht an. Wir erwarten von jedem Recht – insbesondere wenn es sich als «humanitär» bezeichnet – den Schutz unschuldigen Lebens. Das humanitäre Völkerrecht kann diese Erwartung höchstens teilweise einlösen. Es war immer schon «realpolitisch bestmögliches Recht» und wird im Englischen auch, nüchterner, oft nur «law of armed conflict» genannt. Es schützt Zivilpersonen vor allem dann, wenn sich Kampfhandlungen und Ziviles auseinanderhalten lassen. Die Konfliktstrategie der Hamas zielt nun aber gerade darauf, solches Auseinanderhalten zu verunmöglichen.
Gibt es eine internationale Gerichtsinstanz, die im Falle einer Verletzung des humanitären Völkerrechts Anordnungen treffen könnte?
Nein, es gibt leider keine generell zuständige Institution, bei der man wegen Verletzung dieser Regeln klagen könnte. Das Recht entwickelt dennoch selbst in diesem Konflikt eine verhaltenslenkende Wirkung, die man nicht übersehen sollte. Israel ist wegen seiner Kriegführung unter Druck, selbst von seinen engsten Alliierten, den USA. Der umstrittene Evakuierungsbefehl erfolgte im Grundsatz in Einlösung einer Pflicht, Zivilpersonen vor bevorstehenden Angriffen zu warnen.
Dass Israel mit der Art und Weise der Evakuierung zugleich humanitäres Recht verletzt hat, weil diese nicht zu einer humanitären Notlage führen darf, ändert an der auch Leben rettenden Wirkung des Befehls nichts. Ich würde bei aller berechtigten Kritik am humanitären Recht sagen: Wenn wir seine Wirkungen betrachten, ist das Glas doch halb oder zumindest zu einem Viertel voll.
Nach Artikel 49 der Genfer Konvention darf eine Besatzungsmacht auf besetztem Gebiet die eigene Bevölkerung nicht ansiedeln und nach Artikel 53 nicht Privateigentum zerstören, ausser es sei militärisch unerlässlich. Israel praktiziert dies seit Jahrzehnten – ohne dass der Staat mit internationalen Sanktionen rechnen müsste. Was wäre zu unternehmen, damit die Genfer Verträge in die Realität umgesetzt würden?
Die Völkerrechtswidrigkeit der Siedlungspolitik auf der Westbank wurde vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) eindeutig festgestellt, und die Zerstörung von Eigentum zwecks Vergeltung ist ebenfalls klar völkerrechtswidrig. Aus grundsätzlicher Sicht ist mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt zu sagen, dass einflussreiche Akteure auf beiden Seiten offen auf völkerrechtswidrige Ziele und Methoden setzen. Aufseiten Israels ist es vor allem die Siedlungspolitik, auf palästinensischer Seite eine Konfliktstrategie, die auf möglichst viele Opfer in der Zivilbevölkerung abzielt – zivile Opfer sind hier nicht Nebenfolge, sondern das Ziel.
Opfer in der Zivilbevölkerung gibt es vor allem im Gazastreifen, etwa durch Bombardierungen Israels in den letzten Gaza-kriegen und die prekären Lebensverhältnisse im Küstenstreifen. Uno-Resolutionen zur Einstellung der Kampfhandlungen scheiterten in der Regel am Veto der USA im Sicherheitsrat. Er ist handlungsunfähig, wenn eines der fünf ständigen Mitglieder das Veto einlegt. Sollte die Generalversammlung der Uno vermehrte Kompetenzen erhalten, um trotz Lähmung des Sicherheitsrates handeln zu können?
Die Idee einer ersatzweisen Zuständigkeit der Uno-Generalversammlung kehrt regelmässig wieder. Zuständig für rechtlich bindende Anordnungen ist heute alleine der Sicherheitsrat. Weil das Vetorecht aber oft missbraucht wird, wollen manche eine Abänderung auf dem Interpretationsweg – in einer Notsituation soll auch die Generalversammlung verbindlich anordnen können. Der Gedanke dahinter: Es muss doch mindestens ein handlungsfähiges Organ geben. Befürworter sprechen von teleologischer Auslegung der Charta, meinen aber eine Änderung auf kaltem Weg. Der Vetomissbrauch ist in der Sache natürlich ein starkes Argument. Eine solche Abänderung ist mit dem klaren Text der Charta und dem Konsens bei der Gründung jedoch nicht vereinbar.
Die Uno wäre ohne das Vetorecht nie geschaffen worden. Klare Rechtstexte kann man nicht ohne Schaden für die Autorität des Rechts beiseiteschieben, eine Änderung auf diesem Weg ist höchst heikel. Es bräuchte eine Revision der UN-Charta. Der Gedanke eines Ersatzes von Beschlüssen des Sicherheitsrates durch solche der UN-Vollversammlung geht übrigens auf die frühen Jahre der Uno zurück. Als Nordkorea Südkorea angriff, war der Sicherheitsrat wegen des Konfliktes zwischen den USA und der Sowjetunion nicht handlungsfähig. Die Uno-Generalversammlung forderte an seiner Stelle 1951 von Nordkorea den Abzug seiner Truppen. Die Aufforderung war nur politischer Natur, aber von grosser Symbolkraft.
Selbst dort, wo der Sicherheitsrat Beschlüsse fasst, etwa bei den Resolutionen 242 und 338 (Aufforderung an Israel, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen), sind die Beschlüsse unwirksam, da sich Israel weigert, ihnen nachzukommen. Hat der Sicherheitsrat keine Instrumente zur Durchsetzung, oder wandte er sie im Fall von Israel einfach nicht an?
Der Sicherheitsrat kann sowohl politisch auffordern als auch rechtsverbindlich anordnen. Ein Problem bei den zitierten Resolutionen: Ihre Natur stand nie eindeutig fest. Dass Israel aber keine Souveränitätsansprüche auf die besetzten Gebiete erheben kann, ist dennoch völlig klar. Im aktuellen Konflikt könnte der Sicherheitsrat daher – zumindest theoretisch – einen Waffenstillstand oder die Schaffung humanitärer Korridore anordnen.
Er könnte auch eine Streitmacht zur Durchsetzung solcher Anordnungen autorisieren. Die Charta lässt ihm grosse Spielräume, im Bürgerkrieg in Libyen hat er etwa 2011 eine Intervention zum Schutz von Zivilpersonen autorisiert – und die Vertreibung Gaddafis damit beschleunigt. Aktuell ist das US-Vetorecht offensichtlich das Schlüsselproblem. US-Regierungen machen davon aus innenpolitischen Gründen regen Gebrauch, wenn es um Israel geht.
Die Uno unterhält in Den Haag den Internationalen Gerichtshof (IGH), dessen Statut sich die Mitglieder der Vereinten Nationen automatisch unterwerfen. Zurzeit wird dort eine Klage von Südafrika gegen Israel verhandelt. Ist diese Klage ein griffiges Instrument gegen Völkerrechtsverletzungen?
Wichtig ist zunächst: Uno-Mitglieder sind zwar automatisch Vertragsstaaten des IGH-Statuts, aber sie haben sich damit dessen Gerichtsbarkeit noch nicht unterworfen. Dafür braucht es eine zusätzliche Erklärung. Sie liegt bei 74 Staaten vor, nicht aber im Fall Israels. Die Klage Südafrikas stützt sich direkt auf die Genozidkonvention. Diese eröffnet eine Klagemöglichkeit für Fragen zur Konvention. Südafrika versucht nun zu beweisen, dass die Art der israelischen Kriegführung und die Aussagen israelischer Politiker auf eine Völkermordabsicht schliessen lassen – über den Territorialkonflikt mit der Hamas hinaus.
Die Klage ist rechtlich bis zu einem gewissen Grad Ersatz dafür, dass es für Verletzungen des humanitären Rechts keine generelle Klagemöglichkeit gibt. Die Zuständigkeit des IGH beschränkt sich daher auf Fragen zur Genozidkonvention. Doch die Klage ist – wegen der Verwendung des Genozidbegriffs – auch eine scharfe Waffe im internationalen Ringen um die Deutung des Konflikts.
Neben dem Internationalen Gerichtshof der Uno gibt es in Den Haag auch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Er basiert auf dem Römer Statut – einem Vertrag, den nicht alle Staaten ratifiziert haben. Israel, Russland und die USA etwa anerkennen das Gericht nicht. Die Palästinensische Autonomiebehörde unterzeichnete 2014 die Beitrittsurkunde, um mutmassliche Kriegsverbrechen Israels in den beiden Gazakriegen von 2008/2009 und 2014 mit mehreren Tausend Toten auf palästinensischer Seite untersuchen zu lassen. Was müsste sich am IStGH ändern, damit aus diesem Gericht eine wirksame Institution zur Untersuchung völkerrechtlicher Verbrechen werden könnte?
Der Völkerrechtler Antonio Cassese hat den IStGH als «giant without limbs» bezeichnet. Er wollte ausdrücken, dass das Gericht über immense Strahlkraft verfügen könnte, in der Realität aber auf Gedeih und Verderb von der Kooperation der ihn tragenden Staaten abhängig ist: bei der Beweiserhebung, der Auslieferung von Angeklagten, der Umsetzung von Urteilen etc. Er besitzt keine eigene Polizei. Wo Aktivitäten des Gerichts mit Grossmachtinteressen kollidieren, wie in Palästina, hat er einen schweren Stand. Aber schon die Tatsache, dass er überhaupt ermittelt, ist nicht nichts. Natürlich stösst der IStGH immer wieder an harte und frustrierende Grenzen. In der historischen Langzeitperspektive aber sind die Fortschritte seit dem Nürnberger Tribunal 1945 unübersehbar.
Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen. Ergibt sich daraus eine besondere Verpflichtung oder Verantwortung für die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts?
Die Aufgaben eines Depositarstaats sind administrativer Natur. Er verwahrt den Vertrag, nimmt Beitritte und Vorbehalte entgegen, prüft Vollmachten. Er ist ein Dienstleister am Vertrag. Ein besonderes Engagement in der Sache kann aber existieren und ist nicht ungewöhnlich. Im Fall der Schweiz trifft dies beim humanitären Recht sicher zu. Die erste Genfer Konvention ist 1864 auf Initiative Henri Dunants entstanden, und das IKRK hat seinen Sitz in Genf. Zwischen der Schweizer Neutralität und jener des IKRK bestehen zudem ideelle Berührungspunkte.
Die Schweiz setzt sich auch im Rahmen ihrer Aktivitäten im Uno-Sicherheitsrat für den besseren Schutz von Kindern und Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten ein. Die Stimme der Schweiz hat bei Fragen des humanitären Rechts fraglos Gewicht. Sie versucht auch, diesen Umstand für die Sache zu nutzen.