Der Luzerner beantragte vor Bezirksgericht, dass das Kindesverhältnis zwischen ihm und seiner Tochter rückwirkend auf die Geburt aufzuheben sei. Die Tochter wurde innerhalb einer Ehe geboren, die acht Jahre später geschieden wurde. Im Juli 2011 kamen dem Vater aufgrund von Äusserungen seiner Ex-Frau Zweifel an seiner Vaterschaft. Die Klage zur Aufhebung des Kindsverhältnisses reichte er jedoch erst im Dezember 2011 ein.
Das Bezirksgericht befand, er habe sein Recht auf Aufhebung des Kindsverhältnisses verwirkt, weil er die Klagefristen von Artikel 256c ZGB ungenutzt verstreichen liess. Auch das Obergericht kam im Rahmen der Berufung zu diesem Entscheid. Aber es hiess den Antrag des Klägers auf Feststellung der Vaterschaft mittels DNA-Tests gut, obwohl seine Tochter dagegen war (Urteil im Wortlaut siehe Seite 62).
Rechtsfrage bislang ungeklärt
Die Erforschung der eigenen Abstammung durch ein Kind ist im Schweizer Recht gestattet. Laut der Urteilsbegründung des Luzerner Obergerichts haben die Gerichte aber umgekehrt nie geklärt, ob die Erforschung der eigenen Elternschaft auch zulässig sei. Eine DNA-Untersuchung ist ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person und bedarf deshalb deren Einwilligung. Fehlt letztere, kann das Gericht einen Vaterschaftstest anordnen.
Kenntnis der Abstammung auch für Tochter wichtig
Das Luzerner Gericht wertete das Interesse der Tochter an der Unkenntnis ihrer Abstammung als weniger schützenswert als das Interesse des Vaters auf Sicherheit über seine leibliche Vaterschaft. Es schreibt im Urteil, «sowohl das Vorenthalten des Wissens um ein leibliches Kind wie das ‹Unterschieben› eines durch einen Dritten gezeugten Kindes» treffe den Vater beziehungsweise Nicht-Vater «in seiner affektiven Persönlichkeit». Die Kenntnis der eigenen Abstammung habe eine «grosse Bedeutung für die Beantwortung zentraler Lebensfragen». Deshalb liege es auch im Interesse der Tochter, Gewissheit über ihre Abstammung zu erhalten. Da sie 27 Jahre alt sei, müsse nicht erwartet werden, dass sie dadurch in eine Identitätskrise stürze.
Laut dem Obergericht hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem ähnlichen Fall dem Vater die Feststellungsklage verweigert. Damit habe der EGMR aber mit seiner bisherigen Rechtsprechung gebrochen, wonach die biologische Realität Vorrang vor einer gesetzlichen Vermutung habe, was in der Literatur kritisiert worden sei.
Die rechtliche Vaterschaft basiert heute in der Schweiz auf einer Vielzahl von Vermutungen, wie allein die Marginalie zu Artikel 255 ZGB zeigt. Wird ein Kind zum Beispiel während der Ehe geboren, gilt der Ehemann als Vater. Das Gleiche gilt, wenn ein Kind innerhalb von 300 Tagen nach dem Tod des mit der Mutter verheirateten Mannes geboren wurde. Hat die Mutter vor Ablauf dieser 300 Tage wieder geheiratet, gilt der neue Ehemann rechtlich als Vater.
Mehrfache Elternschaft als neue Möglichkeit
Diese gesetzlichen Vermutungen sind nicht in Stein gemeisselt, sie könnten durch eine Revision ohne weiteres zugunsten eines anderen Modells abgeschafft werden. Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht an der Universität Zürich, hat etwa die Idee einer mehrfachen Elternschaft aufgeworfen («Sag mir, wer die Eltern sind. Konzeptionen rechtlicher Elternschaft im Spannungsfeld genetischer Gewissheit und sozialer Geborgenheit», in: AJP, 2004, Seite 1175).
Sie schlägt vor, die Vatereigenschaft bei der Geburt des Kindes gestützt auf die genetische Beziehung festzulegen. Die genetische Abstammung nimmt sie als Ausgangspunkt, weil in den heutigen vielfältigen Erscheinungsformen der Elternschaft die Keimzellen als Ursprung eines Eltern-Kind-Verhältnisses stehen. Sie seien eine «‹Conditio sine qua non›, zwar nicht für den Bestand, so doch für die Begründung einer Eltern-Kind-Beziehung». Neben der genetischen sieht Büchler die soziale Elternschaft. Daran sollten nach ihrer Ansicht die elterlichen Rechte und Pflichten anknüpfen. Elternschaft handle von Verbindlichkeit, Vertrautheit und Verantwortung. Im Zusammenhang mit der Fortpflanzungsmedizin spricht Büchler vom «Willen zur Elternschaft».
Frist für Vaterschaftsklage wankt
Dieser Wille begründet rechtlich auch bei der Adoption die Elternschaft. Darauf weist Monika Pfaffinger, Assistenzprofessorin für Privatrecht an der Universität Luzern, hin: Vor der Einführung der geheimen Adoption, mit der die rechtlichen Bande zu den biologischen Eltern gekappt wurden, bestand bei der offenen Adoption eine rechtliche Verbindung zu den biologischen und den sozialen Adoptiveltern. Genetische und soziale Elternschaft hatten damals ihren Platz im Gesetz. «Und sie werden es wieder haben müssen», sagt Pfaffinger.
Die Luzerner Assistenzprofessorin legt Wert darauf, dass die Berücksichtigung der genetischen Abstammung im Recht nicht als Biologisierung verstanden wird. Das Gegenteil sei der Fall, wie sich wiederum anhand der Adoption zeigen lasse. Mit der geheimen Adoption habe man aus Angst vor den leiblichen Eltern den biologischen Aspekt der Elternschaft zu ersticken versucht. Die Folge davon war, dass die Adoptivkinder ihre biologischen Wurzeln zu suchen begannen (plädoyer 6/12). «Es ist unterdessen unbestritten, dass bei der Identitätsfindung während der Pubertät die Abstammung eine wichtige Rolle spielt», sagt Pfaffinger, die ihre Disserta-tion zum Thema Adoption schrieb. Bei der Abwägung der Interessen von Vater und Kind, wie im Fall des Luzerner Obergerichts, müsse dies zwingend eine Rolle spielen.
Die soziale Elternschaft hat auch für Thomas Geiser, Professor für Privat- und Handelsrecht an der Universität St. Gallen, absoluten Vorrang. Er bezeichnet das Urteil des Luzerner Obergerichts als Novum. «Es zeigt, in welche Richtung sich das Familienrecht bewegen wird.» Geiser kritisiert jedoch diesen Weg zur «Biologisierung der Elternschaft». Die genetische Abstammung werde in den Mittelpunkt gerückt. Dass das Luzerner Obergericht dem Vater das Recht auf Feststellung seiner Vaterschaft zugesprochen hat, sei aber die logische Konsequenz davon, dass man dieses Recht auch Kindern zugesprochen habe. Weitere Folge dürfte sein, dass Väter vor dem Vererben wissen wollten, wer die genetischen Nachkommen sind. Oder dass die Fristen für Vaterschaftsklagen abgeschafft würden.