Zum Jahresbeginn rettete das Bundesverwaltungsgericht rund 35 Bündner und Walliser Wölfe durch den Winter. Mit Zwischenverfügung vom 3. Januar entschied es, dass eine Beschwerde mehrerer Umweltorganisationen gegen Wolfsabschüsse die aufschiebende Wirkung behält.
Die Abschüsse waren von den Kantonen verfügt und vom Bundesamt für Umwelt genehmigt worden. Nun aber dürfen die Wölfe bis zum definitiven Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts nicht geschossen werden. Gemäss dem neuen Jagdgesetz haben die Kantone jeweils nur vom 1. September bis zum 31. Januar die Möglichkeit, die Zahl der Wölfe zu «regulieren», also Wölfe abzuschiessen.
Die Naturschutzorganisationen Pro Natura, WWF Schweiz, Birdlife Schweiz und die Gruppe Wolf Schweiz begrüssen den Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Er sei hoffentlich «ein erster Schritt, um zu einem fachlich fundierten Umgang mit dem Wolf zurückzufinden», schreiben sie in einer gemeinsamen Medienmitteilung. Für die betroffenen Kantone, aber auch für Bundesrat Albert Rösti ist der Entscheid eine Niederlage. Die Kantone und Röstis Departement für Verkehr und Umwelt hatten in Sachen Wolfsabschuss in den letzten Monaten aufs Gaspedal gedrückt – mit staatspolitisch zum Teil umstrittenen Methoden.
Zwei Jahre nach der Abstimmung rechtsumkehrt
Über die Jagd und damit auch über den Wolf befanden die Schweizer Stimmberechtigten zuletzt im September 2020. Damals lehnten sie mit 51,9 Prozent eine Revision des Jagdgesetzes ab, die auch die Möglichkeit zum präventiven Abschuss von Wölfen vorgesehen hätte. Gut zwei Jahre später, im Winter 2022, revidierte das Parlament das Jagdgesetz trotz Volks-Nein aber doch – und nahm den präventiven Abschuss erneut ins Gesetz auf. Grund war das starke Anwachsen der Wolfspopulationen in der Schweiz. Im Jahr 2020, jenem der Abstimmung über das Jagdgesetz, lebten 11 Rudel und etwas mehr als 100 Wölfe in der Schweiz. 2022 waren es bereits 26 Rudel und 250 Wölfe. Mittlerweile ist die Zahl auf 32 Rudel und rund 300 Wölfe angewachsen.
Aufgrund des damit zumindest anfänglich einhergehenden Anstiegs der Zahl der Angriffe auf Nutztiere (vor allem Schafe, teilweise auch Kälber und Rinder) war der Druck aus den betroffenen Bergkantonen – insbesondere Wallis und Graubünden – gross, den präventiven Abschuss von Wölfen nun doch zu erlauben.
Die Naturschutzverbände verzichteten auf ein Referendum gegen die vom Parlament im Dezember 2022 beschlossene Jagdgesetzänderung. Laut Stephan Buhofer, Jurist beim WWF Schweiz, erachteten es die Naturschutzverbände aufgrund des Zuwachses an Wölfen als «legitim», in Richtung präventiver Abschüsse zu denken. «Wir sind nicht grundsätzlich gegen jede Regulierung», sagt er.
Vernehmlassungsverfahren grundsätzlich zwingend
Am 1. November 2023 präsentierte der Bundesrat die auf das neue Jagdgesetz angepasste Verordnung, die den Abschuss im Detail regelte. Und die Landesregierung kündigte an, dass sie einen Teil des revidierten Jagdgesetzes – jenen, der den Wolf betrifft – vorzeitig und befristet in Kraft setzt. Auf eine ordentliche Vernehmlassung zur revidierten Jagdverordnung verzichtete der Bundesrat. Sie soll im Frühjahr 2024 nachgeholt werden.
«Interessierte Kreise» und die Kantonskonferenzen konnten zur Verordnung aber «vorgängig Stellung nehmen» – innert einer «skandalös kurzen Frist», wie sich die SP Schweiz, die nicht zur Stellungnahme eingeladen wurde, echauffierte. Das Verfahren verstosse mehrfach gegen das Vernehmlassungsgesetz. Auch die Naturschutzverbände sprachen von einem «demokratisch fragwürdigen Vorgehen durch die Hintertüre».
Dass «bei der Vorbereitung wichtiger Erlasse und anderer Vorhaben von grosser Tragweite» grundsätzlich ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen ist, ergibt sich aus Artikel 147 der Bundesverfassung. Die Grundzüge des Vernehmlassungsverfahrens werden im Vernehmlassungsgesetz (VlG) geregelt. Gemäss Artikel 3 findet ein Vernehmlassungsverfahren unter anderem bei «Verordnungen und anderen Vorhaben» statt, die «von grosser politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und kultureller Tragweite» sind.
Gemäss Bernhard Waldmann, Staatsrechtsprofessor an der Universität Freiburg, ist die Änderung der Verordnung über das neue Jagdgesetz unzweifelhaft von dieser Bestimmung abgedeckt – und ein Vernehmlassungsverfahren damit grundsätzlich zwingend.
Allerdings nennt der im Jahr 2016 ins Vernehmlassungsgesetz aufgenommene Artikel 3a Gründe, bei denen auf ein Vernehmlassungsverfahren verzichtet werden kann. Dies ist zum Beispiel der Fall, falls «keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind, weil die Positionen der interessierten Kreise bekannt sind, insbesondere weil über den Gegenstand des Vorhabens bereits eine Vernehmlassung durchgeführt worden ist».
Gemäss Waldmann ist nicht klar, ob sich der Verzicht auf eine Vernehmlassung zur Jagdverordnung mit dieser Bestimmung begründen lässt. Zum Jagdgesetz, über welches 2020 abgestimmt wurde, sei eine Vernehmlassung durchgeführt worden – und auch zu dessen Ausführungsverordnung. Während sich die einschlägige «Wolf-Bestimmung» des damaligen Jagdgesetzes im Vergleich zur Gesetzesversion von 2022 sehr ähnlich lese, sei dies bei der Verordnung weniger der Fall.
Neue Kriterien – zulasten der Wölfe
Besonders umstritten ist die Bestimmung in Artikel 4b der neuen Verordnung, die regelt, wie viele Wölfe und Rudel geschossen werden dürfen. Danach dürfen «sämtliche Wölfe eines Rudels erlegt werden», sofern dadurch der Schwellenwert einer bestimmten Region nicht unterschritten wird. Die einzelnen Regionen und die entsprechenden Schwellenwerte werden im Anhang zur Verordnung festgelegt. Ihm zufolge würde insgesamt ein Mindestbestand von 12 Rudeln in der Schweiz erhalten bleiben. «So etwas war im Verordnungsentwurf von 2020 nicht geregelt», sagt Professor Waldmann. Die aktuelle Regelung geht weiter – zulasten der Wölfe.
Die Naturschutzorganisationen bezeichnen den im Anhang der Verordnung festgelegten Schwellenwert von 12 Rudeln als «willkürlich und faktenfrei». Tatsächlich ist unklar, wie diese Zahl zustande kam. Die Verbände befürchten, dass eine Herabsetzung des Schwellenwerts die Wolfspopulationen gefährdet. «Wenn man die Zahl der Tiere so weit reduziert, dass die genetische Vielfalt einer Art in Gefahr ist, gefährdet man auch den Bestand», sagt Buhofer vom WWF.
Mit dem Anfechten der Abschussverfügungen wollen die Naturschutzverbände klären, unter welchen Kriterien Rudel- und Jungwölfe geschossen werden dürfen. Es seien nur jene Abschussverfügungen angefochten worden, bei denen die «Abschussvoraussetzungen besonders tief angesetzt» worden seien, obwohl die zum Abschuss freigegebenen Rudel nur sehr wenig Schaden angerichtet hätten.
«Entnahme unauffälliger Rudel» war nie die Absicht
Paradox am geänderten Jagdgesetz ist gemäss WWF-Jurist Buhofer: Es erlaubt in Artikel 7a den «präventiven» Abschuss von Wölfen, knüpft dabei aber an bereits eingetretene Schäden an. «Es ergibt sich aus den Materialien, dass es nie die Absicht des Gesetzgebers und auch nicht des Bundesrats war, einfach wahllos Wölfe abzuschiessen.» Vielmehr müsse es Anhaltspunkte für einen drohenden Schaden geben. Die Erläuterungen zum umstrittenen Artikel 4b der Jagdverordnung halten zudem ausdrücklich fest, dass «keine Entnahme von unauffälligen Rudeln» vorgenommen werden dürfe.
Wie konkret aber müssen die Anhaltspunkte für einen drohenden Schaden sein? Oder: Wie gross muss der Schaden sein, den ein Rudel in der Vergangenheit verursacht hat, damit ein drohender Schaden gemäss Artikel 7a Jagdgesetz angenommen und damit eine Abschussbewilligung erteilt wird? Darüber schweigen sich Gesetz und Verordnung aus.
In seinen Zwischenverfügungen von Anfang Januar deutet das Bundesverwaltungsgericht an, welche Massstäbe es bei drohenden Schäden anlegt: So bezeichnet das Gericht die von zwei «strittigen» Bündner Rudeln im vergangenen Jahr gerissenen fünf Nutztiere als «relativ geringe Zahl» und führt in Bezug auf die aufschwiebende Wirkung aus: «Die Notwendigkeit der sofortigen Entfernung der zwei Rudel zur Abwendung eines schweren Nachteils beziehungsweise zum Schutz vor grossen Schäden an Nutztieren ist nicht ausreichend dargetan.»
Von Brisanz sind die Ausführungen des Gerichts im Walliser Fall: So hält es zwar fest, dass im Gebiet Nanz im Oberwallis im vergangenen Jahr 51 Nutztiere von Wölfen getötet worden seien – 55 Prozent dieser Risse hätten aber durch geeignete Herdenschutzmassnahmen «möglicherweise verhindert» werden können. Die «Notwendigkeit der sofortigen Entfernung der strittigen Rudel zum Schutz vor grossen Schäden an Nutztieren» sei auch deshalb nicht dargetan, so das Bundesverwaltungsgericht. Herdenschutzmassnahmen waren für die Naturschutzverbände ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl der schliesslich angefochtenen Abschussverfügungen.
Schafzüchter bestreiten Wirkung von Herdenschutz
Doch wie weit Herdenschutzmassnahmen tatsächlich möglich sind und ob sie in konkreten Fällen «genügend» sind, ist umstritten. Aron Pfammatter, Walliser Rechtsanwalt und Fraktionschef der Mitte im Walliser Kantonsparlament, bezeichnet die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts im Zusammenhang mit dem Wolfsrudel Nanz als «relativ abenteuerlich». Er wisse von Landwirten aus der Region, die grosse Anstrengungen für den Herdenschutz unternommen hätten – und Risse trotzdem nicht hätten verhindern können.
Der «Walliser Bote» berichtete neulich, dass im Nanztal im vergangenen Juni in einer Nacht 21 Schwarzhalsziegen von Wölfen gerissen worden seien. In dieser Region hätten Hirten von Schwarznasenschafen im letzten Sommer gemeinsam mit 70 freiwilligen Helfern rund 1200 Arbeitsstunden in den Auf- und Abbau von Herdenschutzzäunen investiert. Doch trotz elektrifizierten Zäunen sei es in der Region immer wieder zu Rissen gekommen.